Wie steht es um den „Herzschlag“ der Kirche? Was sagt ein Experte dazu? Michael Herbst war Gemeindepfarrer und Krankenhausseelsorger, promovierte mit einer Arbeit über „Missionarischen Gemeindeaufbau in der Volkskirche“. Seit 1996 ist er Professor für Praktische Theologie in Greifswald und seit 2004 Direktor des Instituts zur Erforschung von Evangelisation und Gemeindeentwicklung. Rüdiger Jope und Ulrich Mang vom Kirchenmagazin 3E stand er Rede und Antwort.
Rüdiger Jope: Heute kommt die Kirche zum Hausarzt. Wie geht es ihr?
Michael Herbst: [lacht] Sehr steile Frage zum Einstieg. Natürlich kann man nicht übersehen, dass die Kirche als Institution in einer großen Transformationskrise steckt. Sie muss sich umbauen, aber auch in ihr erweist sich die Kirche als Leib Christi in unserem Land als sehr vital und lebendig. Wir haben zwar nicht gerade Erweckungszeiten, aber es gibt nahezu in jeder Gegend, in die man schaut, lebendige Gottesdienste. Es gibt Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die ihre Gaben bewundernswert einbringen. Es gibt Pastorinnen und Pastoren, die treu das Evangelium predigen und sich um ihre Gemeinden bemühen. Ich finde es immer schwierig, wenn man dann eine melancholische Generaldiagnose stellt und sagt: „Es ist ja alles immer ganz schwierig!“
Sind die Probleme, an denen Kirche krankt, dann nur Einbildung?
Nein! Es gibt Probleme, die wir benennen und angehen müssen. Nach einer gewissen Öffnung für das Missionsthema seit 1999 lässt die kirchenweite Sympathie für die Glauben weckende Verkündigung nach meinem Eindruck eher wieder nach. Ein anderes Problem zeigt sich in der Debatte über den Pfarrberuf: Die Zahl der zukünftigen Pastorinnen und Pastoren sinkt, und wenn man die Zahl der Pastoren zur Bedingung der Möglichkeit gemeindlichen Lebens macht, was wir traditionellerweise tun, dann stehen wir vor großen Problemen. Wir müssen dringend das Modell der Pastorenkirche hinter uns lassen.
Das hieße konkret?
Wir müssen lebendiges, mündiges Christsein der Getauften, also „discipleship“, vor Ort fördern, damit sie mehr und mehr in die Lage versetzt werden, das gemeindliche Leben zu tragen. Die Rolle der Pfarrer muss sich wandeln vom örtlichen Hirten und guten Nachbarn hin zum „regionalen Bischof“ und zum Begleiter gemeindlicher Prozesse.
In vielen Pfarrhäusern in Ostdeutschland brennt schon lange kein Licht mehr…
Die Umbauprozesse – und damit auch Fusionen und Konzentrationen – sind wohl nicht aufzuhalten. Sie haben aber Nebenwirkungen: Wird nur konzentriert und zugleich von den Pfarrern weiterhin flächendeckende Versorgung verlangt, dann wird man die Pfarrer allmählich im Sanatorium und die Gemeinden am Boden sehen. Man kann aber auch sagen: Solange wir Kraft haben, wollen wir umsteuern und die lokalen Gemeindekerne fördern. Überall, wo auch nur die leiseste Bereitschaft und Freude in einem Ort, in einem Dorf, in einem Gemeindekern ist, sich in Richtung Selbstständigkeit bilden zu lassen, sollten wir das mit allen Kräften unterstützen. Und dann werden wir sehen, dass es Gemeinden gibt, die sich freuen, wenn der Pfarrer da ist, die aber auch, wenn er nicht da ist, ebenso fröhlich Gottesdienst feiern und Dienste tun und sich versammeln und etwas Gutes im Dorf oder in der Stadt für andere tun.
Viele „Patienten“ nutzen das Vorsorgeangebot der Kirche aber gar nicht, sie tauchen erst im Akutfall auf, wenn‘s mal zwickt, und sie wissen auch: Der Arzt ist ja da. Wie kann man diese gefestigte Haltung durchbrechen, nach dem Motto: Mir geht’s doch gut und ich brauche eigentlich nichts, was die Kirche mir zu bieten hat?
Diese Herausforderung ist eine geistliche Herausforderung. Sie besteht für mich darin, dass ich die Taufe, auch die Taufe von Säuglingen, sehr hoch schätze. Sie ist eine große Verheißung, die an den Anfang des Lebens gestellt wird, und sie verpflichtet uns als Kirche, diesen Menschen das Evangelium auch so nahezubringen, dass auf das Ja Gottes ihr eigenes Ja folgt.
Wie könnte das richtige Handeln aussehen?
Wir müssen diesen häufig kirchendistanzierten Menschen so freundlich und einladend wie möglich zeigen, was sie verpassen, wenn sie nicht intensiver in Kontakt mit dem Evangelium und der Gemeinde kommen. Wir haben ja viele Kontaktflächen. Und Gemeinden, die aufbrechen und einladen, schaffen neue Kontaktflächen. Ich bedauere manchmal, dass die „Missionarischen“ Ersteres unterschätzen und kaum darüber nachdenken, was Kasualien bedeuten können, während die „Liberalen“ sich relativ wenig für missionarische Formate im Gemeindeleben interessieren. Ein erster Ansatz wäre für mich, zu fragen: Wie kann ich im Umfeld von Kasualien, zu denen ich auch das Weihnachtsfest zählen würde, Brücken bauen, sodass Menschen neugierig werden? Das bedeutet zunächst einmal: Alle diese besonderen Gottesdienste so schön und so einladend und so gut zu gestalten, wie es nur geht.
Als Kirche an den Sehnsüchten anknüpfen
Und gleichzeitig geht es darum, aufmerksam zu sein dafür, ob ich spüre, dass bei den Menschen, mit denen ich Kontakt habe, eine Offenheit besteht zu mehr – zur Einladung in einen Kurs zum Glauben, in einen alternativen oder auch normalen Gottesdienst, zu einem Seelsorgegespräch, auf eine Pilgerfahrt, in einen Männerkreis – was auch immer. Aber dass wir als Gemeinde eine Sehnsucht bekommen, dass die Menschen, die doch getauft sind, auch das ausschöpfen, was ihnen mit der Taufe gegeben ist. Das wäre für mich ein ganz wesentlicher Ansatzpunkt. Und im Blick auf Ungetaufte ginge es darum, ihnen das Evangelium so nahezubringen, dass sie fragen: „Was sollen wir denn tun?“ Und dann können wir sagen: Kehrt um zu Jesus und lasst euch in den Leib Christi hineintaufen.
Sie erläutern und verkaufen nicht nur die Theorie in der Studierstube, sondern sind als Professor auch zu „Hausbesuchen“ unterwegs. Sie engagieren sich im Gottesdienst „Greifbar“. Was macht diese Krankenstation aus?
Wir haben vor 15 Jahren mit einem Willow Creek-artigen „Sucher-Gottesdienst“ angefangen, also einem klassischen Modell, würde man heute fast schon sagen. Vier bis sieben Mal im Jahr, anfangs in einer Kirche, dann in einer Mensa und einem Theater, jetzt in der Stadthalle. Unsere Idee wurde angeregt von Bischof Abromeit: einen Gottesdienst zu feiern, der ganz auf die Fragen von kirchenfernen und konfessionslosen Menschen ausgerichtet ist und dessen Darstellungsform höchstmögliche Rücksicht auf die Kommunikationsbedingungen nimmt, die kirchendistanzierte und konfessionslose Menschen mitbringen – das heißt: keine Sakralsprache, wenig kirchliche Grammatik und möglichst niedrige Schwellen. Das hat einigermaßen funktioniert. Wir haben im Laufe der Jahre 50 Menschen getauft. Es haben sich Hauskreise gebildet, wir haben Kurse zum Glauben angeboten, wir haben irgendwann mit einem regelmäßigen Sonntagsgottesdienst angefangen, der auch eher entspannt und locker ist mit moderner Musik und wenig Liturgie
Und wie hat sich die Gemeinde verändert in den letzten Jahren?
Zum einen haben unsere jungen Leute ihr Leben in einem Plattenbaugebiet eher im Sinne einer „Fresh Expression“ als missionarische Herausforderung begriffen. Wir haben heute ein Lichternetz von 13 Wohngemeinschaften im Plattenbaugebiet. Die jungen Leute haben eine starke Sehnsucht, ihr Christsein dort im Zusammenleben mit den Menschen im Plattenbau zu leben, Zeugen Jesu zu sein und den Menschen zu dienen, sodass es dem Plattenbau besser geht, sich dort kulturell und sozial etwas entwickelt und dass Menschen zum Glauben kommen können. Jetzt gucken wir: Wie passt das eigentlich zusammen – diese Komm-Strukturen, die wir mit unseren großen Veranstaltungen haben, und diese Geh-Strukturen, die wir im Plattenbaugebiet haben? Ich finde, das passt sehr gut zusammen! Das eine ist eine starke Beziehungsarbeit, das andere ist eine starke Veranstaltungsarbeit. Ich bin kirchentheoretisch davon überzeugt, dass Beziehungen und Veranstaltungen nicht nur zusammenpassen, sondern einander brauchen. Veranstaltungen verhungern ohne Beziehungen, Beziehungen überfordern sich, wenn sie alles auf dem Weg zum Glauben (und in die Gemeinde) allein leisten sollen.
„Wir werden eine Minderheitenkirche mit missionarischem Auftrag sein“
Was hat sich im Blick auf die Verkündigung verändert?
Wir sind mutiger und ein bisschen „unverschämter“ geworden beim Aussprechen des Evangeliums. Wir glauben nicht mehr, dass es funktioniert, die Verkündigung möglichst niederschwellig zu machen. Ein junger Arzt, den ich getauft habe, hat uns gesagt: „Naja, in der Stadthalle habe ich immer gedacht, ihr macht das hier nett und mundgerecht, aber ihr verschweigt uns eine Menge.“ Für ihn war unser normaler Gemeindegottesdienst der eigentliche Punkt, an dem er Vertrauen gefasst hat, weil er gesagt hat, das war „the real thing“. Da haben wir auch mal über Tod und Gericht und über schwierige Fragen gesprochen, und das hat ihn überzeugt. Und dann haben wir gesagt: Wir müssen also offenbar auch in der Stadthalle an dieser Stelle etwas offensiver werden.
Gibt’s etwas, wo Sie sagen: Da hatte ich einen richtigen Aha-Effekt für meine Forschung? Aus der Praxis? Also nicht nur nach dem Motto: Ich komm nur aus der Theorie und verkaufe den Leuten etwas, so wie sie’s machen können, sondern auch umgekehrt. Gab es da so ein Schlüssel- oder Kernerlebnis?
Als wir nach langer mühevoller Planungsarbeit am Ende (wegen der Lärmschutzauflagen) ein Ladenlokal als neues Gemeindedomizil doch nicht mieten konnten, habe ich gelernt, wie es ist, wenn eine missionarische, wachsende, vitale Gemeinde mit Scheitern und Rückschlägen konfrontiert wird. Oder: Es ist wirklich ein Unterschied, ob man gemeinsam Kirchentheorie studiert und die Veränderungen im Lebensgefühl der Zeitgenossen nur aus der Literatur kennt, oder ob man konfessionslosen Menschen in dritter Generation bei einer Veranstaltung in der Fußgängerzone begegnet und diese Menschen freundlich, aber völlig uninteressiert stur an einem vorbeigehen. Oder: Wir registrieren bis in die aktive Gemeinde hinein die Verschiebungen im Lebensgefühl. Wir merken z.B., dass angesichts der heute verlangten Flexibilität und Mobilität auch ernsthafte Christen Schwierigkeiten haben, in der Mitarbeit verbindlich und jeden Sonntag anwesend zu sein, und wie das lockerer wird und man sich dann wieder neu einjustieren muss: Was heißt eigentlich Verbindlichkeit, was darf ich von Ehrenamtlichen erwarten?
Ihr Herz schlägt ja für die Ausbildung von jungen Theologen, für Evangelisation, Gemeindeaufbau und Fresh X. Was würden Sie dem treuen Patienten Kirche sagen, wenn Sie ihm beim Abschied in die Augen blicken?
Ich würde ihm sagen, dass er eine veränderte, aber sehr gute Zukunft vor sich hat. Es ist tatsächlich wie bei einem Patienten, der durch eine gesundheitliche Krise gegangen ist, die durchaus ernst war. Man muss sich ändern und auf die veränderten Umstände des eigenen Lebens einstellen. Meine Sicht auf die Großinstitution ist immer gewesen, dass wir im Übergang sind von einer Institution, die als Volkskirche die Kultur eines Landes sehr lange geprägt hat, hin zu einer öffentlichen Minderheitskirche mit missionarischem Auftrag. Und als diese Kirche haben wir das Zeugnis des Evangeliums in die gesellschaftlichen Diskurse einzubringen – zu dem das allgemeine Priestertum ebenso gehört wie der Dienst an anderen, die Hingabe an andere Menschen in allen möglichen Lebens- und Notlagen und das öffentliche Zeugnis für das Evangelium.
Herzlichen Dank für das Gespräch!
Die Fragen stellten Rüdiger Jope, Redakteur des Kirchenmagazins 3E, und Ulrich Mang, Student der Theologie in Halle/Saale. Das vollständige Interview mit Michael Herbst ist in Ausgabe 2/17 des Kirchenmagazins 3E erschienen.