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Wo schwarzes Leben zählte: Spurensuche im Urchristentum

Black Lives Matter – diese Aussage beherscht zurzeit die Schlagzeilen. Was lässt sich eigentlich biblisch dazu sagen? Der Theologe Ulrich Wendel hat sich auf Spurensuche begeben.

Von Ulrich Wendel

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Das Foto ging um die Welt: Vor einer Kirche hielt ein weißer Mann die Bibel in die Höhe. Was man nicht sah, aber in aller Bewusstsein war: Am Ort waren kurz zuvor noch Demonstranten der Bewegung Black Lives Matter (Schwarzes Leben zählt), die gegen rassistische Diskriminierung protestierten. Eine Kundgebung, die gerade von Polizeikräften gesprengt worden war, damit der weiße Mann bis vor die Kirche gehen konnte. Viele Verantwortungsträger der Kirchen weltweit kritisierten die Zurschaustellung der Bibel in diesem Zusammenhang. Andere Christen begrüßen es dagegen, dass der amerikanische Präsident sich für „Recht und Ordnung“ einsetzt, wie er es nennt. Was aber würde er entdecken, wenn er die Bibel tatsächlich aufschlagen würde? Welches Bild von Schwarzen Biografien (black lives) innerhalb der Kirche könnte sichtbar werden?

Das Neue Testament lässt uns einen Blick in das Urchristentum werfen. Wir können hier an verschiedenen Orten beobachten, dass Schwarze integraler Bestandteil der Gemeinden waren, dass Kirche also von Beginn an ethnisch vielfältig war.

Jerusalem und die erste Gemeinde

Beginnen wir in Jerusalem. Fast beiläufig wird an einer Stelle erwähnt, dass „Männer aus Kyrene“ zu der dortigen Gemeinde gehörten (Apostelgeschichte 11,20). Kyrene war eine bedeutende Stadt in Nordafrika unweit der Mittelmeerküste, im heutigen Libyen. Die Bevölkerung dieser Region setzt sich u.a. aus Berbern und arabischstämmigen Menschen zusammen. Sie ist also nicht unbedingt mit den Menschen identisch, die wir als Schwarzafrikaner ansprechen würden, doch zweifellos ist die heutige Bezeichnung People of Color für diese Nordafrikaner passend.

Eine nennenswerte Gruppe von Christen in Jerusalem war also nordafrikanischer Herkunft. Dass man Leute aus Kyrene überhaupt in Jerusalem antraf, war nicht ungewöhnlich. Wir wissen von vielen kyrenischen Juden in der Heiligen Stadt zur damaligen Zeit. Beim jährlichen Wochenfest, das dann – indem Gott seinen Heiligen Geist ausgoss – zum Pfingstfest wurde, werden Kyrener ausdrücklich vermerkt (Apostelgeschichte 2,10). Doch nicht nur Pilger kamen von dort, sondern es gab in Jerusalem auch sesshaft gewordene kyrenische Juden. Sie trafen sich in einer eigenen „Synagoge der Kyrenäer“ (Apostelgeschichte 6,9). Aus dieser Gruppe waren offenbar nicht wenige Menschen zum Glauben an Christus gekommen, sodass sie ein Teil der Jerusalemer Gemeinde wurden.

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Der Afrikaner, dessen Hilfe Jesus brauchte

Einen der erwähnten kyrenischen Juden in Jerusalem kennen wir sogar namentlich: Es ist Simon von Kyrene – der Mann, der für Jesus das Kreuz nach Golgatha trug (Markus 15,21). Wenige Stunden vor seinem Tod ließ Christus sich von einem Nordafrikaner dienen. Im Markusevangelium wird dieser Simon näher identifiziert, und zwar als Vater von Alexander und Rufus. Das müssen bekannte Männer im Urchristentum gewesen sein – sonst hätte gerade diese Beschreibung von Simon keinen Sinn ergeben. Damit wissen wir also von zwei weiteren People of Color in einer der neutestamentlichen Gemeinden.

Im Jerusalemer Kidrontal fand man einen jüdischen Knochenkasten (Ossuar, d.i. ein Steinsarg für die Zweitbestattung von Gebeinen). Dessen Inschrift wurde im Jahr 1962 wissenschaftlich veröffentlicht. Der griechische Teil dieser Inschrift nennt einen „Alexandros, Sohn Simons“, und der hebräische Teil bezeichnet ihn als „Alexandros QRNYT“. Im Hebräischen werden ja nur die Konsonanten als Buchstaben geschrieben; QRNYT lässt sich also möglicherweise als „aus Kyrene“ deuten. Die Kombination des Namens Alexander mit dem Namen des Vaters Simon und einem möglichen Hinweis auf Kyrene ist auffällig. Ob der Mann, dessen Gebeine in dem Ossuar bestattet waren, tatsächlich die in der Bibel genannte Person ist, lässt sich freilich nicht beweisen. Aber die Puzzleteile würden gut ineinander passen.

Die Spur führt nach Rom

In welcher Gemeinde wären die Afrikaner Alexander und Rufus aus Markus 15,21 zu suchen? Die Spur führt vermutlich nach Rom. Die Hauptstadt des römischen Reichs gilt als der wahrscheinlichste Abfassungsort des Markusevangliums, das uns den Hinweis auf die Söhne Simons überliefert. In der römischen Gemeinde wären demnach Alexander und Rufus bekannte Männer gewesen. Es ist bemerkenswert, dass der Brief von Paulus an die Gemeinde in Rom einen Gruß an einen Mann namens Rufus enthält (Römer 16,13). Ob er identisch mit dem Rufus aus dem Markusevangelium ist, lässt sich weder beweisen noch widerlegen, doch viele Bibelkommentatoren halten es für wahrscheinlich, dass es so ist. Folgen wir dieser Spur, dann kennen wir mindestens einen Nordafrikaner in der römischen Gemeinde namentlich. Und möglicherweise eine weitere Afrikanerin: die Mutter von Rufus. Sie wird von Paulus gleichermaßen gegrüßt, und ihr gilt eine dankbare Bemerkung des Apostels: Sie sei auch für Paulus selbst eine Mutter gewesen. Diese Frau müssen wir uns wohl als die Ehefrau von Simon aus Kyrene vorstellen. Ob sie selbst tatsächlich Afrikanerin war oder ob Simon eine Frau anderer Herkunft geheiratet hatte, lässt sich nicht sagen. Doch wenn wir versuchsweise das Nächstliegende zusammenzählen, dann wäre eine Nordafrikanerin für Paulus zur geistlichen Mutter geworden. Der Apostel ließ sich von ihr in irgend einer Weise helfen – der Apostel, der dem Christus nachfolgte, der selbst auf die Hilfe eines Afrikaners angewiesen war.

Antiochia in Syrien

Zurück nach Jerusalem und den Kyrenern in der Gemeinde dort. Die Christen standen von Beginn an unter Druck, und bald setzte eine größere Verfolgung ein. Viele Gemeindemitglieder flohen in andere Städte. Die Kyrener gelangten, zusammen mit Christen zyoriotischer Herkunft, nach Antiochia. Diese Stadt am Orontes heißt heute Antakya und liegt im südlichen Zipfel der Türkei. In neutestamentlicher Zeit gehörte sie zur römischen Provinz Syrien. Die Gemeinde in Antiochia war eine der wichtigsten des Urchristentums. Gezielt wurde die Botschaft von Christus auch an Nichtjuden weitergegeben, und daran waren unter anderem die aus Jerusalem geflohenen Kyrener beteiligt (Apostelgeschichte 11,20).

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Auch in Antiochia kennen wir einen dieser Nordafrikaner namentlich. Luzius aus Kyrene wird als Mitglied eines fünfköpfigen Teams in der Gemeinde genannt, nämlich der Gruppe von urchristlichen Propheten und Lehrern (Apostelgeschichte 13,1). Er war an einem Gottesdienst beteiligt, der zur ersten Missionsreise von Saulus führte. Und wie das genau vor sich ging, darauf lohnt es sich einen näheren Blick zu werfen.

Barnabas und Saulus wurden von der Gemeinde als Missionare ausgesandt, nachdem der Heilige Geist eine Berufung ausgesprochen hatte. Dieses Reden des Geistes ereignete sich, als die erwähnten fünf Propheten und Lehrer (vielleicht zusammen mit der ganzen Gemeinde) fasteten und beteten. Die späteren Reisemissionare Barnabas und Saulus gehörten selbst zu dieser Fünfergruppe, waren also prophetisch und didaktisch begabt. Die übrigen drei waren eben jener Luzius aus Kyrene, dann ein Mann namens Manaën und schließlich Simeon mit dem Beinamen Niger. Es ergibt sich ein bemerkenswertes Bild. Saulus stammte aus Tarsus in Kilikien, an der Südküste Kleinasiens (der heutigen Türkei). Barnabas kam gebürtig aus Zypern. Manaën war als Jugendlicher mit dem späteren Herrscher Herodes Antipas aufgezogen worden, sicherlich in Jerusalem. Von Luzius kennen wir ja seine Herkunft aus Nordafrika. Und der Fünfte in der Gruppe war höchstwahrscheinlich ebenfalls ein Afrikaner – sein Beiname „Niger“ heißt übersetzt: der Schwarze. Zwar ist „Niger“ im Altertum gelegentlich auch als Beiname von nichtafrikanischen Römern überliefert. Doch die große Mehrheit der Bibelkommentatoren hält es für naheliegend, dass Simeon aufgrund seiner schwarzen Hautfarbe „Niger“ genannt wurde.

Der Kreis der verantwortlichen Propheten und Lehrer war also multikulturell zusammengesetzt und bestand zu zwei Fünfteln aus Afrikanern. Nachdem der Zypriot Barnabas und der Kilikier Paulus auf Reisen geschickt worden waren, waren die Afrikaner – zumindest eine Zeitlang, wir wissen ja nichts darüber, ob und wie der Kreis dann ergänzt wurde – in der Mehrheit. Mindestens einer dieser beiden Afrikaner war durch seine schwarze Haut unübersehbar als solcher erkennbar. Und auch von Luzius waren sich alle bewusst, dass er aus Afrika kam: Sein Beiname war unmissverständlich.

People of Color in Gottes Reich

Jerusalem, Rom, Antiochia am Orontes: drei prägende lokale Kirchen des Urchistentums, die integrativ waren und in denen People of Color teilhaben konnten, teils sogar erhebliche Verantwortung trugen. Ob Schwarze in der frühen Kirche niemals Diskriminierung erlebten – darüber haben wir keine Angaben. Doch das Ergebnis unserer Spurensuche zeigt etwas über die Werte, die in der Kirche von Jesus Christus von Beginn an maßgeblich waren. Die Nordafrikaner in Jerusalem und Antiochia, Rufus und seine Mutter in Rom und alle anderen, die das Dabeisein und den Dienst dieser Christen begrüßten: Sie waren eine Vorhut. Die Vorhut der großen Menge „aus allen Nationen und Stämmen und Völkern und Sprachen“, die in der Vollendung Gott auf seinem Thron anbeten werden (Offenbarung 7,9). Und wenn der neue Himmel und die neue Erde Realität sind, heißt es: Gott „wird bei ihnen wohnen und sie werden seine Völker (!) sein“ (Offenbarung 21,3) – ethnische Vielfalt also auch dann noch! Das ist Gottes Zukunft. Luzius, Simeon, Alexander, Rufus und die anderen lebten bereits ein Stück davon.

Ulrich Wendel ist Chefredakteur des Magazins Faszination Bibel und Programmleiter Bibel und Theologie im Verlag SCM R. Brockhaus.

 

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