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Sind Christen anfälliger für Verschwörungstheorien?

Freikirchliche Pfarrer und Kreuze gehören fast schon zum Inventar von Querdenker-Demonstrationen. Dient der christliche Glaube als Türöffner für Verschwörungstheorien? Nein, sagt Theologe Andreas Hahn und nennt hilfreiche christliche Ressourcen für den Umgang mit Verschwörungsglauben.

Ein Fotomotiv ging im Internet viral: Auf einer Querdenker-Demonstration im November 2021 in Berlin hält eine Demonstrantin ein großes Kreuz den Ordnungskräften entgegen. In München stehen bei einer solchen Veranstaltung der Fernsehpfarrer Jürgen Fliege und ein freikirchlicher Pfarrer auf der Bühne, es wird laut gebetet – die Demonstration wird zum Gottesdienst erklärt, um die Teilnahmebeschränkungen zu umgehen.

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Wiederum in Berlin nehmen die „Christen im Widerstand“ um den freikirchlichen Pastor Christian Stockmann an den Querdenker-Protesten als einem „Weckruf“ gegen den „Wahnsinn“ der Einschränkungen teil. Auch wenn anschließend die Vereinigung Evangelischer Freikirchen (VEF), die Deutsche Evangelische Allianz (DEA) und die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) gegen die Vereinnahmung des christlichen Glaubens und insbesondere gegen den Missbrauch des Kreuzes protestieren: Eine gewisse Nähe zwischen Verschwörungsgläubigen und Christinnen und Christen kann man angesichts dieser Beispiele nicht von der Hand weisen. Christlicher Glaube also als Türöffner für Verschwörungsglauben? So scheint es.

Kaum Evangelikale oder Pietisten auf Demonstrationen

In Feldstudien und Umfragen in Telegram-Gruppen wurden Ende 2020 1.150 Personen mit Blick auf ihren sozialen Hintergrund und ihre gesellschaftspolitischen Einstellungen befragt. Die Studie „Politische Soziologie der Corona-Proteste“ zeigte, dass die Demonstrierenden keine Gottesdienstbesucherinnen und -besucher waren: Wenn von diesen nur zwölf Prozent in den zurückliegenden drei Jahren eine religiöse Veranstaltung besucht hatten, kann es sich bei ihnen kaum um Evangelikale oder Pietisten handeln, die in der Mehrheit regelmäßig in den Gottesdienst gehen.

Zwar ist diese Studie als Online-Befragung keineswegs repräsentativ, sie liefert aber wichtige Erkenntnisse: Unter anderem zeigt sie, dass es sich bei den Demonstrierenden um ein eher gebildetes Mittelschichtsmilieu handelt, bei dem Mitglieder aus linksalternativen Szenen ins politisch rechte Spektrum gewandert sind. Religiös zeigt sich bei ihnen eher eine Nähe zur Esoterik.

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Carolin Hillenbrand betreibt an der Universität Münster am Exzellenzcluster „Religion und Politik“ ebenfalls soziologische Forschungen. Auch hier geht es um den Zusammenhang von religiösem Glauben und Verschwörungsglauben. Ihre Ergebnisse weisen auf die religiöse Praxis als den zentralen Unterschied hin: Eine nur privat gelebte Religiosität hat eine Nähe zur Vorstellung von verborgenen Mächten und damit zum Verschwörungsdenken. Dort, wo Religion auch eine soziale Praxis hat, ist sie davor gefeit.

Wird der eigene Glaube als die einzig akzeptable Religion gesehen und andere Religionen abgewertet, findet sich bei diesen Menschen ein ausgeprägter Glaube an verborgene Mächte, die das Weltgeschehen steuern. Und schließlich findet sich nach diesen Untersuchungen auch dort eine Nähe zum Verschwörungsdenken, wo das Gottesbild von Angst, Strafe und Schuldzuweisungen geprägt ist. Dasselbe gilt natürlich auch dort, wo die Pandemie als eine göttliche Strafe gepredigt wird.

Verschwörungstheorien als „Radikalisierungsbeschleuniger“

Kann man nach den vorliegenden empirischen Untersuchungen also nicht von einer grundsätzlichen Nähe zwischen christlichem Glauben und Verschwörungstheorien sprechen, so gilt dies nicht für radikalisierte Formen von Religiosität und Christentum.

Dort findet sich nicht nur eine Offenheit für Verschwörungsglauben, sondern Verschwörungstheorien können dort geradezu als „Radikalisierungsbeschleuniger“ dienen, indem sie zum Beispiel Feindbilder verstärken und die eigene Sichtweise gegen Kritik immunisieren. Wo solche Ansätze in Glaubensgemeinschaften vorhanden sind, werden sie verstärkt.

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Beispiel: Pastor radikalisiert sich

Ein Beispiel für eine solche weltanschauliche Radikalisierung ist Jakob Tscharntke, Pastor einer Freikirche im württembergischen Riedlingen. In Predigtvideos warnt er vor „Merkel, Spahn, Söder und Co. und den Hintergrundmächten, die dahinterstehen“ und sieht „die totale Unterjochung der Menschheit und die totale Überwachung und Herrschaft einer Elite“ kommen.

Bereits 2015 warnte er in der Migrationsdebatte vor „räuberische[n] Horden“, was ihm eine Anzeige wegen Volksverhetzung einbrachte. Als sich der Bund Evangelisch Freikirchlicher Gemeinden in Deutschland (BEFG) von Tscharntkes Aussagen distanzierte, trat die Gemeinde aus dem Bund aus.

Worin unterscheiden sich Verschwörungstheorien und christlicher Glaube?

In vielen Diskussionen über Verschwörungstheorien begegnet mir immer wieder die Frage, was denn der Unterschied zum religiösen und christlichen Glauben sei: Wenn angenommen wird, dass „hinter“ den Prozessen des Weltgeschehens eine agierende Macht stehe, ist es dann nicht letztlich nur ein gradueller Unterschied, ob es eine „böse Verschwörerclique“ oder ein „guter Gott“ ist?

Es wird also eine zumindest formale Nähe zwischen religiösem Glauben und Verschwörungsdenken gesehen. Beide greifen ja auf die Welt als Ganzes zu. Das stimmt sicherlich. Aber in unterschiedlicher Weise! Auch wenn es auf den ersten Blick einleuchten mag, handelt es sich tatsächlich nur um eine scheinbare Parallele.

Verschwörungsdenken nimmt durch seinen behaupteten Ausgangspunkt […]
im Grunde eine
göttliche Perspektive ein.

Im Christentum – wie im religiösen Denken überhaupt – geht es nicht um ein verborgenes „Wissen“, das alle Spannungen und Widersprüchlichkeiten des Lebens „erklärt“. Sondern christlicher Glaube beschreibt eine besondere Wahrnehmung des Lebens im Horizont Gottes und ermöglicht es, mit Spannungen und Widersprüchen zu leben.

Die Ursache für ein Ereignis in Gott zu sehen, bringt die Begrenztheit unseres Menschseins zur Sprache, verortet uns damit in dieser Welt. Verschwörungsdenken dagegen nimmt durch seinen behaupteten Ausgangspunkt, von dem alles andere hergeleitet wird, im Grunde eine göttliche Perspektive ein.

Christlicher Glaube vertraut

Erfahrungen von Leid, von Krisen, von Hilflosigkeit werden „überrational“ erklärt mit einem grundsätzlichen Misstrauen gegenüber ihren Verursacherinnen und Verursachern. Christlicher Glaube geht dagegen von einem grundsätzlichen Vertrauen in eine gute Schöpfung und in Gottes Zusagen aus. Die erfahrenen Spannungen zwischen biblisch-theologischen Verheißungen und erfahrener Realität („Kontingenzerfahrungen“) werden nicht erklärend wegargumentiert, sondern im Beten, im Klagen und Bitten vor Gott gebracht.

Wir haben gesehen, dass christlicher Glaube nicht einfach zum Verschwörungsdenken einlädt. Er kann gerade in Krisenzeiten wie der Corona-Pandemie eine große Ressource sein und eine tragende Rolle einnehmen: Church matters. So können religiöse Akteurinnen und Akteure beispielsweise einen hilfreichen Beitrag zur Bekämpfung der Pandemie und der Bewältigung ihrer Folgen leisten, allerdings auch zur Verschärfung der Krise beitragen.

Hilfreiche christliche Ressourcen für den Umgang mit Verschwörungstheorien

Die Frage, die wir uns stellen müssen, ist: Was sind hilfreiche christliche Ressourcen für den Umgang mit Verschwörungstheorien, um problematischen Radikalisierungsprozessen innerhalb des christlichen Glaubens entgegenzusteuern?

Wir haben schon gesehen: Wenn sich Glaubende immer wieder daran erinnern lassen, dass Gott nicht einfach eine Wirkursache im gegenständlichen Sinn sein kann und der Glaube an Gott etwas anderes ist als ein Erklärungsmodell, dann eröffnen sich Möglichkeiten, mit dunklen, ungeklärten Erfahrungen und mit dem Verlust der Kontrolle über das eigene Leben umzugehen.

Der Glaube an einen transzendenten Gott hinterlässt damit immer einen Rest an Widersprüchlichkeit […]

Gott bleibt im christlichen Glauben – wie auch in anderen Religionen – immer etwas, das über alles Rationale und innerweltlich Erkennbare hinausreicht. Der „verborgene“ Gott ist transzendent, ist größer, anders, jenseits aller Deutungen. Der Glaube an einen transzendenten Gott hinterlässt damit immer einen Rest an Widersprüchlichkeit, er ist nicht restlos auszudeuten oder gar zu erklären.

Das ist gut so. Und das gilt es im Vergleich zu einem Verschwörungsdenken festzuhalten. Denn dort kann man diese Offenheit für Vagheit, für Ambiguitäten nicht durchgehen lassen. Alles wird restlos und „überrational“ erklärt.

Fundamentalismus und Verschwörungsglaube lassen keine offenen Fragen zu

Das zeigt auch, dass ein fundamentalistischer Umgang mit dem Glauben oder mit biblischen Texten mit seinem Streben nach Eindeutigkeit und Reinheit nicht hilfreich ist. Gerade mit Blick auf den Umgang mit Ambiguitäten steht er einem Verschwörungsglauben sehr nahe: Alles steht fest, ist erklärbar, es bleiben keine offenen Fragen.

Menschen, die sich von einer Verschwörungstheorie wieder losgesagt haben, erinnern in ihren Erzählungen oft an Aussteigerinnen und Aussteiger aus sektiererischen fundamentalistischen Gruppierungen. Ein Verzicht auf eine lückenlose rationale Erklärbarkeit ermöglicht aber eine ehrliche religiöse Praxis: Ich kann beten, kann bitten und klagen und habe einen Adressaten für meinen Umgang mit Ambiguität.

Damit [durch die Spannung zwischen schon und noch nicht; Anm. d. Red.] sind einer vollständigen Welterklärung auch Grenzen gesetzt.

Eine eng damit zusammenhängende, weitere gute christliche Ressource für den Umgang mit verschwörungstheoretischen Weltdeutungen ist der christliche Blick auf den Menschen als ein bruchstückhaftes und verletzliches Wesen: Jede und jeder ist fehlerhaft, es gibt kein „reines“ menschliches und „reines“ christliches Leben und auch keine solche Gemeinschaft. Dass aus den Bruchstücken etwas Ganzes und Heiles wird, ist allein Gottes Werk, wenn er alles vollenden wird.

In der christlichen Theologie ist dies ein zentrales Thema: Unsere Erlösung wie auch die Klärung offener Fragen stehen biblisch in der Spannung zwischen schon geschehenen und noch ausstehenden und erwarteten Aspekten. Damit sind einer vollständigen Welterklärung auch Grenzen gesetzt. Bis dahin und in dieser Begrenztheit behalten Menschen ihre von Gott geschenkte Würde.

Besonnenheit, Liebe und Kraft sollten in Gesprächen vorherrschen

Aufgeregtheit und Aggressionen sind wenig hilfreich und schon gar nicht christlich. Dagegen sind eher Nüchternheit und Abwägen geboten. Biblisch kann hier exemplarisch auf den Geist „der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit“ verwiesen werden, an den Paulus erinnert (2. Timotheus 1,7b).

  • Besonnenheit führt zu einer differenzierten Sichtweise auf die gesellschaftlichen Herausforderungen gegenüber verschwörungstheoretischen Vereinfachungen.
  • Liebe widerspricht den Feindbildern, wie sie Verschwörungstheorien produzieren, und der daraus entstehenden Gewaltbereitschaft, insbesondere in rassistischer und antisemitischer Gestalt.
  • Kraft gibt uns Gottes Geist, damit wir uns geduldig und mutig falschen Trends entgegenstellen und auch unbequem sind.

Besonnenheit, Liebe und Kraft – diese drei sollten in Gesprächen und Diskussionen vorherrschen, denn Verschwörungstheorien spitzen die vorhandenen Konflikte zu, sodass sie noch schwieriger zu lösen sind.

Andreas Hahn ist Sekten- und Weltanschauungsbeauftragter der Evangelischen Kirche von Westfalen


Entschwoerung Andreas Hahn Cover

Dieser Artikel ist ein gekürzter und bearbeiteter Auszug aus dem neuen Buch von Andreas Hahn „Entschwörung“, erschienen im SCM Hänssler Verlag. SCM Hänssler ist Teil der SCM Verlagsgruppe, zu der auch Jesus.de gehört.

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