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Ulrich Wilckens: „Die Bibel ist ein Freund in meinem Herzen“

In dieser Woche verstarb der evangelische Altbischof Ulrich Wilckens. Aus diesem Anlass veröffentlichen wir hier ein Interview aus der Zeitschrift „Faszination Bibel“, in dem der Theologe seine Liebe zur Bibel erklärte – und zum Gebet.

Mit 16 kam Wilckens durch ein Bibelwort zum Glauben: Er las es 1945 im Schützengraben aus einem Neuen Testament, das er geschenkt bekommen hatte. Als Theologieprofessor übersetzte er das Neue Testament und schrieb einen Kommentar zum Römerbrief, der rasch zum Standardwerk wurde. Aus dem Lehramt heraus wurde er zum Bischof von Holstein-Lübeck berufen. Am Montag (25. Oktober) verstarb er im Alter von 93 Jahren.

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Ulrich Wendel, Chefredakteur der Zeitschrift „Faszination Bibel“, besuchte Wilckens 2011 in dessen Haus in Lübeck. Das Interview, das wir an dieser Stelle veröffentlichen, begann mit einem gemeinsamen Gebet.

Ulrich Wendel: Professor Wilckens, „Die Bibel ist ein Freund in meinem Herzen“, haben Sie einmal gesagt. Können Sie diesen „Freund“ charakterisieren?

Ulrich Wilckens: Man muss nur die Psalmen lesen, um zu merken, dass Gott ein erhebliches Temperament hat, wie auch die Beter der Bibel eins haben. Im Gespräch mit Gott ist alles möglich auch an menschlicher Reaktion, weil Gott eben größer ist.

Das Gebet ist mit Ihrer Theologie ganz eng verbunden. In Ihrem Hauptwerk, der „Theologie des Neuen Testaments“, haben Sie sogar immer wieder eigene Gebete abgedruckt, mitten zwischen den wissenschaftlichen Gedankengängen …

Ich will zeigen, dass ich nicht nur vom Beten rede, sondern es auch tue. Selbst bei einem führenden liberalen Theologen war bereits einmal zu lesen, dass Dogmatik und Gebet auf das Engste zusammengehören. Ich habe das durchgeführt.

Hat Beten denn auch Einfluss darauf, dass ich die Bibel begreife? Ist der betende Bibelleser intellektuell im Vorteil?

Ja, natürlich. Für mich besteht Exegese, Auslegung, im eigentlichen Sinne aus ständigem Gebet. Ich höre und ich antworte. Ich lege aus, indem ich antworte. Das sind alles Gebetsformen, die dadurch auch mit innerer Glaubenslogik in ein ausformuliertes und abdruckbares Gebet münden. Das macht man also nicht, um den Kollegen zu zeigen, dass es zusammengehört, sondern es ist auch von der Sache her notwendig.

Das Bibellesen beginnt man am besten mit einem Gebet

Also sollte man das Lesen mit dem Gebet verbinden, um dann tiefere Einsichten zu bekommen?

Das Bibellesen beginnt man am besten mit einem Gebet: „Gott, schenke mir ein gutes Hören.“ Die Hellhörigkeit, die Gebetsatmosphäre im Alltag, die daraus entsteht, bleibt dann auch beim Bibellesen. Und fange nicht nur an mit einem Gebet, sondern schließe eine Schriftbetrachtung auch mit einem Gebet ab, in dem du versuchst, das, was dir aus dem Text aufgegangen ist, in Gebetsworte zu fassen – damit du es dir mit deinem schlechten und flüchtigen Gedächtnis merkst. Schreib es dir auf. Beginne das nächste Mal, denselben Bibeltext noch mal zu lesen, dein Schlussgebet zu lesen, und du wirst sehen, dass beim zweiten Mal ein neues Schlussgebet entstehen wird. So kann man sich geistlich trainieren.

Also sind Beter unterm Strich schlauer beim Bibellesen als Nichtbeter?

Aber ja!

„Trainieren“, das klingt nach Arbeit, und tatsächlich sprechen Sie ja auch von der „Arbeit des Glaubens“.

Einen Abschnitt aus der Bibel zu lesen ist wirklich geistige Arbeit. Und darüber nachzudenken: „Was ist damit gemeint?“, nicht nur zu fragen: „Was kann ich davon gebrauchen?“ – das braucht viel Denkarbeit. Leben – auch geistliches Leben – geht nicht ohne Arbeit. Das Evangelium verändert Leben. Wenn man das ernst nimmt, dann gehört zu diesem Leben auch die Arbeit.

Sie lesen die Bibel gern auch als ein philosophisches Buch. Warum?

Es steckt im Evangelium so viel Vernunft. Eine Vernunft, die nicht von mir aus in das Evangelium hineingebracht wird. Sondern ich gewinne aus dem, was ich in meiner Auslegung erarbeitet habe, einen großen, tiefen Inhalt. Darin entdecke ich dann einen großen gedanklichen Zusammenhang.

Und was ist mit denen, die keinen Zugang zu höherer Bildung hatten oder kein Bedürfnis haben, komplexer zu denken?

Ich habe bis in meine Bischofszeit hinein ganz einfache Menschen kennengelernt, meistens ältere Frauen, mit einer großen theologischen Weisheit. Man kann auch als ganz einfacher Mensch auf seine Weise, mit seinen Worten, weise werden. Die Bibel ist ja so geschrieben, dass sehr viele Menschen sie gut verstehen können.

Ist der verstandesmäßige Zugang zur Bibel der Königsweg? Oder gibt es daneben auch andere Zugänge?

Ohne jegliche Intellektualität, ohne jegliche Vernunft ist die Bibel wohl für kaum jemanden verständlich. Rein an Gefühlen orientierte Lektüre wird an den Wahrheiten der Bibel meist vorbeigehen. Ich kenne Leute, die sagen: „Ich meditiere die Bibel lieber, als dass ich sie lese“ – wenn sie wirklich meditieren, dann werden sie merken: Das war eine hochintellektuelle Übung.

Ulrich Wilckens (Foto: SCM Bundes-Verlag)

Ein weiterer geistlicher Zugang zur Bibel ist mir aber auch sehr wichtig: Das konkrete Erlebnis des sonntäglichen Abendmahls und der sakramentalen Wirklichkeit. Die große Wirklichkeit Gottes verdichtet sich in den innersten Vorgang, der aber so konkret ist, wie es konkreter nicht sein kann. Wenn man diese sakramentale Erfahrung vom Sonntag hinein nimmt in sein Bibellesen, hilft das enorm.

Welche Wechselwirkung ist das denn, die sich da auftut?

Wer Christus konkret am Altar erlebt, sonntags, der ist aufs Beste vorbereitet dafür, dass er ihn auch konkret hört. Das ist eine sehr wirksame Vorbereitung für geistlich intensives Hören und Arbeiten – die ganze folgende Woche hindurch.

Warum?

Es ist derselbe Christus! Es spricht derselbe Christus! Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie ich am Schreibtisch arbeiten sollte ohne diese Erfahrung.

In vielen Büchern der letzten Jahre wird herausgestellt, dass es verschiedene Zugangswege zu Gott gibt und dass jeder Mensch seinen besonderen Weg hat: die einen eher liturgisch, andere intellektuell, wieder andere diakonisch oder praktisch … Ist die Bibel also nur für bestimmte Menschen der Zugangsweg zu Gott?

Wichtig finde ich das für einen Anfang. Man kann seelsorgerlich und missionarisch nichts Besseres tun als jeden Menschen da abzuholen, wo er wirklich lebt, und nicht gleich auf einen Ort zu trimmen, wo er hin muss. Es gibt eben tatsächlich sehr viele Verschiedenheiten zwischen uns modernen Menschen.

Aber ein solcher Anfang will einen Fortschritt haben. Der Fortschritt will auf ein Ziel zu. Auf Dauer wäre es sogar schlimm, wenn man die Pluralität der Zugänge zur festen Gegebenheit machte, die schlicht so hinzunehmen wäre. Wenn Leute zum Beispiel in einer Gruppe nebeneinander stundenlang meditieren und sonst nichts weiter tun, oder wenn sich andere ernsthaft hinsetzen und Bibel lesen, aber nicht in den Gottesdienst gehen, dann bleibt der fromme Mensch mit sich allein und lernt nicht, mit Gottes wunderbarem Handeln umzugehen. Wenn das so ist, diktiert der fromme Mensch Gott seine Vorschriften.

Wenn ich aber Gott lieben soll „mit all meiner Kraft“ und dann eben „meine Kraft“ betrachte, die Art wie Gott mich geschaffen hat: Sollte ich nicht doch darauf achten, welche Saiten in mir am besten zu Gott hin zum Schwingen kommen?

Ich denke, bei diesem Weg ist – bis zum Schluss – vergessen, dass ich, wenn ich ernstlich mit Gott zu tun habe, nie mit ihm alleine bin, sondern die ganze Kirche mit dabei ist. Und wenn ich die vergesse oder verdränge, wenn meine Frömmigkeit individuell allein auf mir und meiner eigenen Gläubigkeit aufbaut, dann ist das einer geistlichen Kritik durchaus würdig. Ich würde jedenfalls sagen: Du musst geistlich die Kirche kennen! Dein Einarbeiten in die Bibel braucht auch ein entsprechendes gemeinsames Leben im Gottesdienst.

Wir haben vor jeder Kirchenvorstandssitzung Bibel gelesen – und unsere Sitzungen wurden kürzer.

Ihr Herz schlägt für die Erneuerung der Kirche. Sie haben sich dafür auch schon im Bischofsamt eingesetzt. Welche Erfahrungen mit der Bibel haben Sie da gemacht?

Ich habe versucht, manches anzustoßen, zum Teil mit überraschenden Erfolgen. Zum Beispiel haben schließlich etwa vier Fünftel der Gemeinden in Schleswig-Holstein bei jeder Kirchenvorstandssitzung eine halbe Stunde Bibel gelesen und dann darüber gesprochen. Jede Sitzung begann auch damit, für die Gemeinde zu beten. Ich habe mich immer wieder danach erkundigt. Als ich aus dem Bischofsamt ausschied, freute ich mich darüber, dass dies begann Tradition zu werden.

Gab es Rückmeldungen aus den Gemeinden?

Ja: Unsere Sitzungen wurden kürzer!

Die Bibel ist der „Freund Ihres Herzens“, aber sie können auch von der Freundschaft mit Gott selbst sprechen.

Eine gute menschliche Freundschaft ist ja die Basis, sich auch ordentlich die Wahrheit zu sagen. Zu streiten, sich zu korrigieren. Ebenso die Freundschaft Gottes. Sie ist eine konkrete Erfahrung des ständigen Gefragtseins: Kannst du das, was du jetzt getan hast, vor mir verantworten oder nicht? Dann wird ernst mit der Freundschaft mit Gott. Die Liebe Gottes ist etwas Wunderschönes, gerade weil sie auch ihre sehr ernste Seite hat. Sie kann sehr kritisch werden – im Sinne des biblischen Begriffes ‚Zorn Gottes’. Und wer nicht den Zorn Gottes erfahren hat und erfährt, der erfährt auch die Liebe Gottes wahrscheinlich nur oberflächlich.

Wie erfährt man denn den Zorn Gottes in seinem Leben?

Schauen wir doch auf die Verhältnisse in der eigenen Familie. Es gibt Konflikte, die zwar gern unter den Teppich gefegt werden, dann aber gleichsam unterirdisch der Familiengemeinschaft schaden oder sie sogar zerstören. Darin wirkt sich dann Gottes Zorn aus. Wenn aber Mann und Frau und Eltern mit ihren Kindern regelmäßig beten, dann werden sie bald merken: Konflikte wollen und können ausgetragen werden und wirken dann nicht zerstörerisch, wenn man gemeinsam vor Gott offen ausspricht, was jeder getan hat, und Gott um seine Vergebung bitten. Dann können und sollen auch wir einander vergeben. Dann wirkt sich Gottes Zorn so aus, dass sich unser gemeinsames Leben zum Guten wendet und Gottes vergebende Liebe neue Anfänge und Freiheit zueinander schafft.

Gottes Zorn bringt also uns Menschen dazu, etwas aufzuarbeiten, etwas zu ändern. Wenn man ihn ernst nimmt, merkt man: In seinem Zorn wirkt seine Liebe! So heißt es von Gott in 2. Mose 34,6: Gott „schiebt seinen Zorn noch hinaus.“ Der Zorn ist also da, aber wenn man sich Gott zuwendet, wendet sich Gottes Zorn gleichsam in Liebe um. Immer aber ist Gottes Zorn ernst zu nehmen. Gott ist eben mein Freund nie wie ein Kumpel, der mir sagt: Okay – war nicht schlimm, vergessen wir’s!

Ihr Bild von Gott ist – so kann man nachlesen – stark von diesem Bibeltext 2. Mose 34 geprägt. Dort offenbart Gott seinen Namen. Gott ist bereit zu strafen, aber seine Geduld und Barmherzigkeit sind größer. Der Vorrang der Gnade …

… und dass es in Gott selbst eine innere Spannung gibt zwischen seinem Zorn und seiner Liebe, die sich darin löst, dass seine Liebe siegt – hochinteressant ist das!

Wie verändert sich der persönliche Glaube, wenn man an einen Gott glaubt, in dem es arbeitet, den die Spannung zwischen Strafe und Barmherzigkeit fast zerreißt?

Das Volk Israel ist dann nicht einfach eine Größe der vergangenen Geschichte. Es hat eine tiefe, lebendige Bedeutung, dass ich in der konkreten Geschichte mit seinem Volk, die in der Bibel bezeugt ist, persönlich mit dazugehöre. Man liest dann alles anders. Ich bin dann selbst dabei, wenn Gott mit Israel redet: „Du, Israel“. Dann ist auch das „Ich bin“ Gottes und Jesu nicht etwas, was mit meinem Ich verschmilzt. Es ist das große Ich dessen, der diese großartige Geschichte bewirkt hat, der ich zugehören darf. Das Moment der Teilhabe, der Zugehörigkeit ist für mich bestimmend – sowohl in meiner Frömmigkeit als auch in meiner Theologie.

Abstrakte Dinge gibt es eigentlich in der Bibel gar nicht.

Ich lese also die Bibel, indem ich mich selbst in die Geschichten hineinstelle. Wie geht so etwas?

Man muss dazu bereit sein, nicht alles auf einmal zu wollen und an einem einzigen Morgen die entscheidende Erfahrung zu machen. Alles, was mit Frömmigkeit zusammenhängt, muss man langsam, mit Dauer und Zeit, lernen. Ebenso auch das Bibellesen. Nicht nur danach suchen, was ich für mich brauchbar finde. Sondern wo Gott das Wort ergreift, ihn selbst in mein Herz hineinsprechen lassen. Lerne einmal, im Wort der Bibel Gottes eigenes Wort, sein lebendige Stimme selbst zu hören, die nicht zu dir allein, sondern zu allen Seinen persönlich ins Herz spricht.

Und wie lernt man das?

Lesen, viel wiederholen, auch auswendig lernen. Was man durch Auswendiglernen verinnerlicht, hat die Chance, einen ständig von innen her zu beschäftigen.

Wichtig ist, nicht nur für den einen Tag zu denken, sondern eine ganze Woche zu gestalten. Einen Tagespsalm beten, jeden Morgen immer wieder den gleichen: Dann passiert es von ganz allein, dass man bestimmte Verse, die die Summe dieses Psalms sind, lernt. Sich immer wieder in dieses Leben mit den Psalmen hineinzustellen und darin auch treu zu sein, das bietet eine ganze Menge Möglichkeiten, allmählich Gott zu verstehen. Das ist mit einem einzigen Mal gar nicht möglich.

Wenn ich mich in die Geschichten der Bibel hineinstellen will, dann ist das bei Berichten aus den Evangelien gut möglich – z.B. in der Geschichte von Jesus und der Frau am Brunnen. Aber funktioniert das auch bei abstrakten Brieftexten von Paulus?

Aber ja! Ich finde Paulus an keiner Stelle abstrakt, sondern sehr dicht! Wenn ich Römer 5,12-21 lese, den Vergleich zwischen Adam und Christus: Es gibt wohl kaum einen dichteren Abschnitt, in dem viele vorher entwickelte einzelne Motive plötzlich zusammengedacht werden. In jedem Satz geschieht unendlich viel – was man dann beim wiederholten Lesen auch merkt. Das ist sehr kunstvoll. Abstrakte Dinge gibt es eigentlich in der Bibel gar nicht.

Warum nicht?

Weil immer die Wirklichkeit Gottes im Blick steht. Die ist nie etwas Abstraktes. Wenn Gott abstrakt wird, dann ist alles schlimm. Gott ist immer größer als unser Herz, aber dieses Größer-sein ist das Größersein seiner Liebe. Es ist eine ganz große, tiefe Autorität, die man da erfährt – ein unmodernes Wort, aber für mich ist es ein sehr wichtiges. Gott ist größer und bewährt sich so als Autorität, die mir etwas zu sagen hat, was nur er sagen kann.

Herr Professor Wilckens, ich danke Ihnen für dieses Gespräch!

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