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Vier Tipps für den kirchlichen Aufbruch

Viele Gemeinden wünschen sich Aufbrüche und Erneuerung. Hier sind vier Tipps für den Start.

Von Pfarrer und Pionier Sebastian Baer-Henney (Rheinische Kirche)

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Soll ich es tun? Soll ich darüber lamentieren, wie weit die Kirche von den Menschen weg ist? Soll ich Beispiele nennen? Dass Gemeinden sich darüber Gedanken machen, ob und wie sie Facebook-Auftritte gestalten wollen, obwohl die Welt da draußen längst schon dabei ist, über Instagram zu TikTok weiterzuwandern? Facebook liegt an vielen Stellen fast so weit hinter uns wie die Zeiten, als Twix noch Raider hieß. Soll ich darüber schreiben, wie wir uns darüber ärgern, dass wir die Menschen nicht „kriegen“, gerade so, als hätten wir Anspruch auf sie, weil sie ja bislang noch nicht Grund genug gefunden haben, auszutreten?

Soll ich darüber schreiben, dass wir nach wie vor auf Mitgliedschaft gucken statt auf Verbindlichkeit, dass wir Patenbescheinigungen erfragen und darüber Brücken abbrechen zu den Menschen? Soll ich darüber schreiben, dass wir über mehr Hausbesuche bei „jungen Menschen“ unter 40 reden, denen so eine Bewegung in der Mehrheit als übergriffig vorkommen würde? Soll ich mich darüber aufregen, dass Pfarrpersonen klammheimliche Freude angesichts der Corona-Pandemie empfunden haben, weil sie dann endlich mal am Schreibtisch strukturiert ihrer Arbeit nachgehen konnten?

Konstruktive Zukunft statt Polemik über Zustände

Ich könnte. Und es gäbe so viel mehr, über das ich hier schreiben könnte. Aber es würde doch nur eine Polemik gegen viele Seiten des kirchlichen Arbeitens werden, das sich zu oft selbst genügt, statt auf die Lebenswirklichkeit der Menschen da draußen zu schauen. Stattdessen möchte ich einen kurzen Ausblick unternehmen auf Schritte, die gar nicht viel Mut erfordern, wohl aber ein wenig Gelenkigkeit im Umgang mit Gewohnheiten. Ich möchte vier Schritte vorstellen, die einen ersten Ansatz bilden könnten, um mehr auf die Menschen zuzugehen:

1. Weg von den Schreibtischen 

Als Pfarrer weiß ich, wie viele Mails tagtäglich im Posteingang landen. Ich weiß um all die Prozesse, die begleitet werden wollen. Ich weiß um die Nöte, Anfragen aus Landeskirchenämtern und Verwaltungsverbänden zu erfüllen. Diese dringen deutlich sichtbar in meinen Computer ein. Und genau hier liegt das Problem. Diese Dinge drängen sich auf. So viele andere Dinge eben nicht. Presbyterien und Gemeindevorstände werden überflutet mit Anfragen, die den Blick aufs Eigentliche verstellen. Wie wichtig es ist, morgens schon auf dem Weg durchs Viertel mit einer Handvoll Menschen ins Gespräch zu kommen. Mit der Blumenhändlerin. Dem Wirt. Den bestimmenden Größen bei uns im Stadtteil. Wie wichtig es ist, mit dem Handy durch die Gegend zu laufen und scheinbare Kleinigkeiten, Entwicklungen im Viertel aufzunehmen und über Insta in die Außenwelt zu schicken. Gegenwart kirchlich zu deuten und zu zeigen: Wir, die Kirche hier im Ort, nehmen die Welt wahr. Wir sehen, was gut und was schiefläuft hier, wo wir sind.

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Es ist eine Verkehrung der Logik, wenn wir erst die binnenkirchlichen Aufgaben sehen und dann die Menschen in den Blick nehmen. Stattdessen wäre es so heilsam, von vornherein die Hälfte der Arbeitszeit für genau so etwas einzuplanen. Und dann zu sehen, wofür noch Zeit bleibt. Vielleicht muss ja die Pfarrperson nicht in jedem Ausschuss sitzen. Vielleicht muss über Raumvermietungen kein Presbyterium entscheiden? Vielleicht kann eine Inventurliste auch mal zwei Wochen warten. Vielleicht muss nicht jede Anfrage aus der Verwaltung, jede Anregung von oben so hoch gehängt werden wie die Nöte des Stadtteils? Es ist unendlich viel befriedigender, mit den Menschen zu arbeiten als mit den Strukturen. Und es ist Kernaufgabe der Pfarrperson und der Gemeindeleitung. Nicht nur aus seelsorgerlichen, sondern auch aus kybernetischen Gründen. Wie soll ich meine Gemeindearbeit steuern können, wenn ich nicht weiß, was wirklich dran ist?

2. Weg von der Mitgliederzentrierung

Warum treten Menschen eigentlich aus der Kirche aus? Ich habe mit unendlich vielen Menschen gesprochen, und selten ist die Antwort, dass sie mit dem Glauben nichts anfangen können. Die Kirche ist zu weit weg von ihrer Lebenswelt. Sie haben einfach den Eindruck, das alles hat mit ihnen nichts zu tun. Der Grund dafür ist das mangelnde Zuhören (s.o.) – und die Fixierung auf die aktiven Mitglieder. Natürlich ist es wichtig, auch deren Bedürfnisse zu hören.

Bislang gestalten die Kirchen aber fast ausschließlich für die Menschen, die zufrieden damit sind, wie es läuft. Dadurch wird nichts infrage gestellt: Gemeindeversammlungen finden nach dem Gottesdienst statt, der an vielen Orten längst nicht mehr das Zentrum des Gemeindelebens ist. Bei Taufen genießen jene Vorrang, die Kirchenmitglieder sind. Aus der Systemlogik ist das klar. Auch beim ADAC kommt nur der in den Genuss, den Service in Anspruch zu nehmen, der Mitglied ist. Aber erstens kann man selbst in einem altbackenen Verein wie dem ADAC noch im Pannenfall direkt Mitglied werden und muss nicht schon einen Ausweis vorlegen können, und zweitens sollten wir überlegen, ob wir uns mit Läden wie dem ADAC überhaupt vergleichen wollen.

Mitgliedschaft light

Im Rheinland läuft schon lange eine Debatte über eine „Light-Mitgliedschaft“, aber vielleicht sollte man auch überlegen, ob es überhaupt noch zeitgemäß ist, diese vereinsmäßigen Strukturen zu fahren. Ohne diese Debatte ausfechten zu wollen – das würde lange dauern –, lade ich ein, einfach nicht mehr danach zu fragen, wer Mitglied ist und wer nicht. Wer das Bedürfnis hat, mit uns in Kontakt zu treten, wer sich von uns ansprechen lässt, wer ein inneres Rufen verspürt, dass die Kirche tatsächlich ein Gegenüber ist, auf das man bauen möchte: Jene Person hat ein gutes Recht, von uns ernst genommen zu werden.

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Daher: Macht zu Patinnen und Paten, wer das möchte. Klar, formalrechtlich ist das schwierig, aber muss man im Vollzug einen Unterschied machen? Darf nur eine kirchliche Patenperson eine Urkunde kriegen? Macht Gottesdienste mit denen, die noch nie im Gottesdienst waren, in einer Form, die für uns Kirchenmenschen auf den ersten Blick auch so gar nicht gottesdienstlich wirkt. Guckt nach Brücken, nach Anknüpfungspunkten, wie es Christinnen und Christen seit Jahrtausenden machen – und schließt keine Türen. Und als Argument gegen Kritik an diesem Vorgehen nehmt mit: Auch für viele Kirchenmitglieder ist dies so authentisch kirchlich, dass sie das Vorgehen unterstützen und mittragen würden. Sie wollen eine Kirche, die sich aufmacht.

3. Weg von dem Versteckspiel 

Versteckt euch nicht, weil ihr denkt, die Menschen lehnen ab, was ihr sagt. Die Menschen sind in weiten Teilen nicht so areligiös, wie ihr denkt. Die Menschen sehnen sich nach spiritueller Begleitung. Sie können nur die Formen nicht verstehen. Zwar sehe ich, dass traditionelle Formen für viele Menschen nach wie vor wichtig und gut sind. Ich bin selbst ein Anhänger klassischer Liturgien. Ich sehe aber auch, dass viele davor stehen, wie ich vor einem Kartentelefon: Ich will telefonieren, finde aber einfach keinen Zugang. Wenn wir uns kleinmachen, weil wir denken, dass die Menschen mit unseren Inhalten nichts anfangen können, ist das falsch.

Sie wollen durchaus von Gott hören. Aber bitte in passender Form. Sie wünschen sich von der Kirche hier Selbstbewusstsein – und Mut. Denn wer, wenn nicht wir, soll von Gott reden? Aber wer, wenn nicht wir, soll das in ihre Lebenswelt übersetzen? Wollen wir das den Achtsamkeitstrainern und Meditations-Apps überlassen? Sie machen das gerne. Aber wir verzichten aus der Scheu, den Menschen über den Mund zu fahren, auf unsere Kernkompetenz: zu erzählen und zu lehren (Matthäus 28,18ff.). Stattdessen steigern sich viele in Arbeiten hinein, die ihnen selber den Eindruck geben, viel zu schaffen: Statistiken, Verwaltungsakte, Gebäudefragen. So wichtig das in Ansätzen auch ist, es betäubt und lenkt von der Fragwürdigkeit ab, mit der der Verkündigungsauftrag ausgeklammert wird – weil es verständlicherweise unerträglich ist, zu sehen, wie schwer sich viele kirchliche Stellen genau damit tun.

4. Weg von zu vielen Strukturen 

Sicher ist es gut, an einigen Stellen geregelte Verfahren zu haben. Aber muss ich jede halbwegs wichtige Entscheidung durch drei Gremien tragen? Könnte man nicht einen Vertrauenspakt schließen, in dessen Rahmen die Pfarrperson oder andere Innovatoren in der Gemeinde Mittel und Wege an die Hand kriegen, um Dinge selbst in die Hand zu nehmen? Könnte eine Gemeinde nicht im Haushalt ein paar tausend Euro zur unbürokratischen Verfügung stellen, ohne weitere Gremienentscheidung, ohne Wenn und Aber? Würde sie damit dazu einladen, Dinge zu wagen, schnell was auf die Beine zu stellen – Kontrolle aus der Hand zu geben? Im Großen funktioniert das in ein paar Landeskirchen schon. Erprobungsräume in Mitteldeutschland und der Evangelischen Kirche im Rheinland haben im Ansatz dieses Denken, Synoden haben ordentlich Geld aufgebracht, das relativ schnell vergeben werden kann. Warum nicht auch auf Gemeindeebene? Wovor haben wir Angst?

Angesichts der riesigen Geldmengen, die in Gebäude und Strukturen fließen, sollte ein solcher Haushaltsposten als eine Art Risikokapital, mit dem gewagt werden darf, machbar sein. Und dann auf zu den Menschen damit. Und damit das gelingt, kriegt eine Pfarrperson die Dienstverpflichtung, acht Stunden pro Woche in Innovation zu stecken. Das erzeugt erst mal Druck. Aber es erzeugt auch Freiraum. Und ist der erste Schock überwunden, erzeugt es auch eine große Lust am Machen. Am Aufbruch. Am Einfach-mal-Loslegen. Und wenn die Ideen fehlen, dann klaut, was das Zeug hält. Guckt euch um in der Kirche und in der Welt. Und legt einfach los. Macht. Und wenn es beim ersten Mal nichts wird, dann beim zweiten. Hauptsache, es bewegt sich was.

Es sind nur kleine Schritte und Anregungen, aber sie werden etwas bewegen. Weil sie das Denken umpolen. Weil sie uns rausholen aus dem Funktionieren ins Gestalten und zu den Menschen. Weil sie dem Geist Raum geben und wir Versicherungsdenken suspendieren lernen. Das ist doch was zum Hoffen – und Hoffnung ist, was trägt.


Dieser Artikel erschien in der Zeitschrift 3E (Ausgabe 04/21). Das Kirchenmagazin wird vom SCM Bundes-Verlag herausgegeben, zu dem auch Jesus.de gehört.

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