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Krieg vor unserer Haustür – was macht das mit uns?

Krieg in der Ukraine, Millionen Menschen sind auf der Flucht. Ulrich Eggers und Thomas Härry diskutieren über persönliche Betroffenheit, Putins Skrupellosigkeit und christlichen Gewaltverzicht.

Uli: Vorletztes Wochenende hat sich das ganze Drama des Krieges gegen die Ukraine mit einer Fülle von Nachrichten so richtig entfaltet – inklusive der wirklich sensationellen Entscheidungen des deutschen Bundestages, die in ihrer Absage an festgefügte politische Bilder eine Zeitenwende bedeuten: Waffenlieferungen, Aufrüstung, Freiheit, die auf einmal richtig kostet. Und ein Putin, der seine Atomwaffen in Bereitschaft versetzen lässt – auch da spielt er skrupellos auf Macht und Schrecken. Seither bestimmt dieses Thema die Medien mit den Frontschauplätzen, Flüchtlings-Elend und den wirtschaftlichen Folgen. Ich merke, wie mich die Nachrichten befassen – es ist selten, dass ich so bewusst haushalte und nur ein, zweimal pro Tag umgehen will mit den Bildern und Infos. Seelen-Pflege …

Thomas: Bei mir ist es gerade umgekehrt. Seit dem ersten Tag der Invasion schaue ich die Nachrichtensendung gleich auf drei Kanälen: SRF (Schweizer Fernsehen), ZDF und ARD. Ich habe ein seltsames Bedürfnis, möglichst viel mitzubekommen. Irgendwie verstehen und einordnen zu können, was da geschieht. Weshalb es geschieht. Um nicht nur die eine Seite zu sehen, sondern das ganze Bild. Aber ja, es beschäftigt mich sehr. Es macht mich traurig, wütend, ohnmächtig.

Als ich sah, wie Menschen zu Hunderttausenden flüchten und sich vor den Grenzen Polens und Tschechiens kilometerlange Schlangen bilden und die Leute nicht weiterkommen, drängte sich mir sofort die Vergangenheit ins Bild: So sah es aus, als 1945 die Menschen in den letzten Monaten des Zweiten Weltkriegs aus Ostpreußen, Pommern, Schlesien in den Westen flohen – die Rote Armee im Nacken. Über 70 Jahre sind seither vergangen und wir wissen, mit welchen traumatischen Folgen sind diese Erfahrung in die Seelen der Betroffenen und ihrer Kinder gebrannt haben. Weißt du noch, wie wir vor zwei Jahren mit der Schriftstellerin Helga Schubert über ihre Fluchtgeschichte mit ihrer Mutter gesprochen haben, die sie auch in ihrem gefeierten Buch «Vom Aufstehen» schildert? Welche Wirkungen dieses Erleben bis heute in ihrem Leben hat? Und nun werden wieder Tausende in den Strudel einer solchen traumatischen Erfahrung geworfen. Viele in meinem Umfeld packt bei all diesen Ereignissen die Angst.

Uli: Ja, das alles ist eine merkwürdige Wiederholung von Geschichte. Und ich bin nur froh, dass wir Deutschen diesmal nicht auf der falschen Seite stehen. Mein Vater hat im Zweiten Weltkrieg in der Ost-Ukraine hinter der Front am Krieg teilgenommen als Eisenbahn-Pionier, zerstörte Brücken aufbauen etc. Zum Teil kenne ich die Namen von daher – bestürzend! Angst um mich und uns selbst? Rational wohl eher nicht. Und wenn, dann weniger um mich und meine Frau – aber schon mit Blick auf die Seelen meiner Kinder und Enkel, die ohnehin durch Corona bedrängt sind. Was machen diese Nachrichten mit ihnen? Und ich fühle die Erschütterung durch die Skrupellosigkeit Putins, der tausende Menschen in die Waagschale legt. Da treffen komplett unterschiedliche Wertesysteme aufeinander. Wie geht es Dir da, Thomas?

Thomas: Angst habe ich bisher keine. Aber seit dem Beschuss auf das Kernkraftwerk in Saporischschja gibt es Momente, in denen ich den Atem anhalte. Je nachdem, was nun weiter geschieht, ist die Angst vermutlich auch bei mir nicht weit. Was ich aber habe, sind Überlegungen wie diese: Was, wenn dieses Ereignisse nicht nur das Leben der dort lebenden Menschen fundamental verändert, sondern auch unseres? Wenn die Wirtschaften dieser Welt leiden? Wenn unsere Sicherheiten wackeln? Wenn viele von uns im Schatten dieser Krise und ihren Folgen die Arbeit verlieren? Was ist, wenn wir uns unser Haus nicht mehr leisten können?

Es ist ein Stück irrational und letztlich auch unnötig, sich darum jetzt schon Sorgen zu machen. Aber sie sind da, die Gedanken: „Was wäre wenn …? Was würdest du tun? Wohin würdest du gehen?“

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Uli Ich komme ja aus der Zeit des Kalten Krieges, habe gegen die Atomrüstung demonstriert, den Kriegsdienst verweigert. Aber ich war nie ein politischer Pazifist, sondern immer klar, dass „meine“ Sorte christlicher Gewaltlosigkeit mich letztlich zum bürgerlichen Outcast macht: Kirchlich gesehen der mennonitische Weg. Zugleich wähle ich damit persönlich die Schutzlosigkeit – und werde zugleich durch die mutigen Menschen mit geschützt, die in dieser Frage anders entscheiden. Wenn sie es im Sinne der Zwei-Reiche-Lehre als Gewissens-Entscheidung tun, dann tun sie es unter meinem hohen Respekt, weil ich bewusste Entscheidungen in beide Richtungen als mögliche Äußerungen des Glaubens sehe. Ich will persönlich möglichst gewaltlos leben – aber (wichtige Unterscheidung!): Ich glaube nicht an politische Gewaltlosigkeit. Frieden und Freiheit verlangen immer einen Preis an intelligenter Wehrhaftigkeit, die nicht auch Schwäche gewaltlos sein muss, sondern aus ethischer Verantwortung Gewalt zur Ultima Ratio erklärt und glaubhaft so agiert.

Hier war in Deutschland lange etwas aus dem Lot gekommen: Ein oft links-ideologisch verbrämter Pazifismus, der die Realitäten der Welt nicht nüchtern eingeschätzt hat – und durch Putins nüchterne Einschätzung mangelnden Wehrwillens vermutlich die Ukraine-Krise noch gefördert hat. Von daher stimme ich der finster-einfachen Analyse zu: Warum hat Putin den Krieg begonnen? Einfach, weil er es konnte – und leicht zu gewinnen glaubte. So oder so: Ich in meinem christlichen Gewaltverzicht bekomme in diesen Tagen noch einmal meinen persönlichen Preis gezeigt – und das tut weh! Aber es gibt keine leichten Entscheidungen in dieser Frage – das ist der deutsche Irrtum der letzten 30 Jahre. Man kann nicht eine riesige Rolle in der weltweiten Wirtschaft spielen – und sich politisch und militärisch raushalten und andere derart schmutziges Geschäft machen lassen. Genau meine Frage: Als christlich Gewaltloser tue ich das auf persönlichem Niveau billigend auch – und lade damit immer auch eine Form von Schuld auf mich. So ist es bei dieser Frage: Wehrhaft oder wehrlos – ohne Schuld kommen wir nicht davon …

Thomas, wie geht es Dir damit – Du als Schweizer hast vermutlich eine Waffe im Kleiderschrank stehen und musst regelmäßig zur Wehrübung. Zugleich seid Ihr als Schweizer durch die Neutralität und das weltweite Interesse an einem sicheren Hafen auch in einer besonders geschützten Rolle, die vermutlich mächtiger wirkt als die Waffen im Schrank … Wie siehst Du es?

Thomas: Wir hatten zu Hause immer Gewehre. Solche vom Militär und andere Waffen, die man zum Beispiel zum Erlegen kranker Tiere auf dem Hof brauchte, auch zum Schlachten der Kaninchen. Ich bin mit Waffen aufgewachsen. Ich konnte lange vor meiner Armeezeit schießen – und konnte es gut. Nach der Rekrutenschule beschloss ich, meine Armeewaffe abzugeben. Dazu musste ich ein Gesuch auf waffenlosen Militärdienst stellen und dieses ausführlich begründen. Es folgte eine Untersuchung. Ich saß vor sechs älteren Herren, die mich über zwei Stunden hinweg auf beschämende Weise zerpflückten, meine christliche Gesinnung infrage stellten und mich erniedrigt und beschämt zurückließen. Mein Gesuch wurde bewilligt – es blieb ihnen nichts anderes übrig. Das war die Hauptsache. In den Folgejahren leistete ich Militärdienst ohne Waffe – mit großer Überzeugung. Jetzt, dreißig Jahre später, geht es mir zum ersten Mal so, dass ich denke: „Es ist gut, dass sich Menschen auch mit Waffen verteidigen können. Es ist gut, dass man sich einem Aggressor entgegenstellen kann.“ Gleichzeitig erschreckt mich mein eigenes Denken, denn das alles geschieht ja zu einem fürchterlich hohen Preis. Es verlängert den Krieg. Es erhöht die Zahl der Toten, Traumatisierten. Das steht im Gegenüber zur hart erkämpften Freiheit, die man logischerweise nicht passiv bleibend aus den Händen geben will. Es ist eben genau dieses Dilemma, von dem du oben schreibst. Es ist nicht auflösbar. Es gibt hier keinen einzig guten und richtigen Weg – wie so oft in den schweren Momenten des Lebens …

Uli: Was mich politisch richtig ärgert und beschäftigt, ist eine Skrupellosigkeit des Westens, das russische Lebensgefühl und die Demütigung einer Generation nicht besser erkannt und berücksichtigt zu haben. Die Nachbarstaaten und Völker Russlands wollten sich dem Westen anschließen – ja. Aber ich glaube zugleich, dass dieses riesige Land Russland auch nicht einfach mit der modernen westlichen Psyche einer Konsumgesellschaft erfasst ist und anders funktioniert. Nicht alles im Westen muss man automatisch gut finden, nur weil wir uns daran gewöhnt haben. Obamas verbale Rückstufung zur Regionalmacht, die Ausweitung von Nato und EU, das Vorandrängen des westlichen Lebensstils und Einflusses – das können wir gut finden und als Glück feiern. Aber weises Leben ist doch eigentlich immer damit verbunden, sich auch in die Schuhe des Gegenübers zu stellen und Wege des Miteinanders zu suchen, Zeit zu lassen, Kompromisse zu schließen, im Gespräch zu bleiben. Ich glaube einfach, wir hätten es politisch besser machen können, hätten mehr Gemeinsamkeit schaffen können – und damit mehr Augenmaß behalten. Unsere Welt befindet sich in einem Übergang von Werten und Entwicklung – man kann da nicht einfach mal eben einen Maßstab als gültig setzen und meinen, jedem leuchte das schon ein. Hier trauere ich, dass es mit Gespräch und Augenmaß nicht mehr versucht wurde. Ob es hätte gelingen können, das weiß keiner. Auch da gilt wieder: Keine Illusion über Putin und die Wertesysteme, die ihn prägen und bestimmen. Aber eben doch: In Wirtschaft und Privatleben gilt, dass es gut ist, wenn man win/win-Lösungen sucht. Dies scheint mir in den vergangenen 30 Jahren zu wenig versucht …

Thomas: Ja, das sollte uns zu denken geben. Fast alle großen Konflikte und Gefährdungen in den letzten Jahrzehnten hatte damit zu tun, dass sich ein Volk oder seine Machthaber durch Andere gedemütigt sah. Das traf damals auf Deutschland zu. Das trifft auf viele Staaten Afrikas zu, in denen es zu blutigen Auseinandersetzungen kam. Es trifft auf China zu und erklärt vieles von seinem heutigen Bestreben. Hier liegt ein Teil der Verantwortung bei denen, welche mit Demütigung und Überheblichkeit zündeln. Und gleichzeitig denke ich: Man erkennt oft erst im Nachhinein, welche Dynamiken zur Eskalation geführt haben und was man unbedingt hätte verhindern sollen.

Uli: Politisch bewegend finde ich, dass in dieser Situation eine neu gewählte deutsche Regierung agieren muss, die sich in diesen Fragen jetzt finden und blitzschnell neu positionieren muss. Das hat meinen hohen Respekt. Und ich habe in diesen Tagen schon öfter zu meiner Frau gesagt: Wie gut, dass jetzt nicht die CDU an der Macht war, denn sie hätten die leider derzeit ja notwendigen harten Schritte gegen eine rot-grüne Opposition vermutlich nicht durchgebracht – oder es wäre zur Spaltung der Gesellschaft gekommen. Jetzt agiert die Politik weitgehend geeint – was auch der Gesellschaft eine Chance gibt, auf geeinte Weise eine neue Zukunft zu finden. Realismus – gepaart mit politischer Ambition. So wie ich es mir auch für uns Christen wünsche: Christlicher Realismus gepaart mit Ambition und Hoffnung. Dazu gehört zum Beispiel – ganz andere Frage -, dass wir bei all unseren großen Auseinandersetzungen in der Szene – Frauen/Männer, Macht, Sex – immer diese Mischung hinkriegen: Christliche Ideale, Agieren mit Ambition und Hoffnung. Geerdet durch christlichen Realismus, der ein biblisch begründetes Bild des Menschen hat: Wir sind zwiespältige Wesen, zum Guten und zur Sünde fähig, Dunkel und Licht in enger Verwobenheit. Also brauchen wir Wege, die dem gerecht werden: Ambition mit Realismus. Hoffnung und ausgestreckte Hände und immer wieder neuen Mut zum Aufbruch – gepaart mit klaren Grenzen und guten Entscheidungen. Evangelium und Gesetz, barmherziger Blick ohne Selbstbetrug …


Ulrich Eggers hat seine eigene Biografie im Dialog mit Thomas Härry geschrieben. „Der Ideen-Entzünder – Von der Treue im Großen, mutigen Entscheidungen und dem Glauben am Montag – Eine Biografie im Dialog“ ist Anfang 2022 bei SCM R.Brockhaus, Holzgerlingen erschienen.

Der Dialog zwischen Thomas Härry und Ulrich Eggers geht weiter:
www.EggersundHaerry.net

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