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Mennonitische Kolonien: Ein Stück Deutschland in Paraguay

Schöntal, Gnadenheim und Friedensruh – klingt nach deutscher Provinz, doch es sind Orte in Paraguay. Thomas Härry hat dort deutschstämmige Mennoniten besucht. Im Dialog mit Uli Eggers erzählt er von der Stärke der christlichen Netzwerke, Gastfreundschaft und der Nähe zur Natur.

Ulrich Eggers: Thomas, Du kommst gerade von einer Dreiwochen-Tour nach Paraguay zurück – und hast lauter deutschsprachige Vorträge gehalten. Wie löst sich dieses Sprachrätsel?

Thomas Härry: Es löst sich damit auf, dass es in Paraguay insgesamt rund 40.000 (es kursieren verschiedene Zahlen) Deutschsprachige gibt. Ein großer Teil davon sind Deutsch (Plattdeutsch!) sprechende mennonitische Einwanderer, die über die Ukraine, Deutschland und Kanada nach Paraguay eingewandert sind und dort seit rund 100 Jahren leben. Neuerdings finden sich dort auch säkulare „Corona-Flüchtlinge“ aus Deutschland … Alleine im Norden, im sogenannten Chaco (wo ich die meiste Zeit verbrachte), leben nicht ganz 20.000 Nachkommen der mennonitischen Einwanderer.

Vor acht Jahren bekam ich eines Tages einen Telefonanruf und wurde für einen theologischen Sommerkurs in die Hauptstadt Asuncion eingeladen. Wie kamen die auf diese Idee? An einem Seminar am Rande einer Willow-Leitungskonferenz nahm die Frau eines dortigen Leiters teil und sie muss wohl zu ihrem Mann gesagt haben: „Den könnte man mal einladen!“. Ich habe erst jetzt, auf meiner dritten Reise dorthin herausgefunden, wer diese Person war …

So kam es jedenfalls, dass eine zweite und eine dritte Einladung folgte. Wie schon beim zweiten Mal war mein Hauptfokus die Aus- und Weiterbildung von Leitenden (Verwaltungsräte, Geschäftsführer von Betrieben, Aufsichtsräte, Studierende einer Akademie für Führungskräfte, Coaches). Daneben gab es ein ganztägiges Bibelseminar zum Thema Nachfolge, zwei Predigten in Gemeinden und zum Abschluss einen Vortrag vor rund 200 Studierenden verschiedener staatlicher Universitäten in der Hauptstadt.

Ulrich Eggers: Du hast vom Chaco gesprochen, einer Landschaft dort in Paraguay. Wie muss ich mir das vorstellen?

Thomas Härry: Der Begriff bezeichnet eine Region im Inneren von Südamerika mit einem typischen Klima (subtropisch, im Sommer heiß und feucht, im Winter mäßig warm und für lange Zeit trocken). Dazu gehören Teile Argentiniens, Boliviens und ebenen Paraguays. Du findest dort viel Trockenwälder und Buschsavannen. Eigentlich ein eher unwirtliches Gebiet, die Mennoniten aber haben es verstanden, Methoden der Bewirtschaftung zu entwickeln.

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Ulrich Eggers: … und sie haben ja auch wunderschöne Namen für ihre Orte gefunden – Fernheim und …

Thomas Härry: … Ja, die Kolonien im Chaco heißen Menno, Neuland, Fernheim. Diese Kolonien bestehen aus je einem Zentrum – mit Namen wie Loma Plata, Filadelfia und Neuland -, darum herum erstrecken sich großflächig dazugehörende Dörfer wie Schöntal, Elim, Buena Vista, Zion, Gnadenheim, Friedensruh, Rosenort, Blumental, Wüstenfelde, usw. Weiter im Osten Paraguays befinden sich zwei weitere Kolonien, Friesland und Volendam, und natürlich leben viele auch in der Hauptstadt weiter im Süden.

Heute leben in den mennonitischen Kolonien mehrheitlich Latein-Paraguayer und Indigene verschiedener Stämme, die in den Betrieben der Mennoniten (Schlachthöfe, Milchverarbeitung, Verkauf (Supermärkte und andere Geschäfte), aber auch in den sozialen Institutionen der Mennoniten (Altersheime, Krankenhäuser, etc.) arbeiten. Die deutschsprachigen Mennoniten machen in ihren Hauptorten noch rund 30 Prozent der Bevölkerung aus. Aber sie sind natürlich weiterhin die wirtschaftlich und sozial prägende Kraft. Insgesamt leben dort heute etwa 50.000 Menschen.

Ulrich Eggers: Wenn Du dorthin eingeladen wirst als christlicher Leitungsautor, muss es da ganz offensichtlich starke christliche Strukturen geben …

Thomas Härry: Ja, die Mennoniten verwalten weiterhin ihre Kolonien weitgehend selbst. Staatliche Institution gibt es dort auch, aber das öffentliche Leben wird stark von den Mennoniten bestimmt. Sie betreiben Schulen, Krankenhäuser, Genossenschaften, Futteranlagen für die Viehwirtschaft, hochmoderne Versuchsanstalten zur Optimierung der Viehzucht, Schlachthöfe (einer davon mit einer Tageskapazität von fast 900 Tieren), Molkereien, Lehrerausbildung und viele weitere, private Unternehmen und Geschäfte.

Nun hat dort in den vergangenen Jahrzehnten eine Säkularisierung eingesetzt und sie dauert an. Dennoch ist es noch so, dass die großen Genossenschaften, die das dortige Leben insgesamt verantworten, von Menschen geführt werden, die bewusst Mennoniten sind und sich den christlichen Werten verpflichtet wissen. Deshalb wollen sie, wenn es etwa um das Thema „Leitung“ geht, die christliche Perspektive unbedingt mit an Bord haben.

Die große Mehrheit der Verantwortlichen gehört zu einer der verschiedenen Mennonitenkirchen und ist dort mehr oder weniger stark engagiert. Aber man gehört eigentlich zu einer dieser Gemeinden (von denen es wiederum einige unterschiedliche Prägungen gibt, mit verschiedenen theologischen Betonungen. Vor Ort spielen sie eine gewisse Rolle. Für mich von außen sind die Unterschiede nicht sehr offensichtlich). Diese Gemeinden arbeiten heute weitgehend gut und unkompliziert zusammen. Jetzt gerade haben nach meiner Zeit dort verschiedene Mennonitengemeinden eine Evangelisationswoche mit Ulrich Parzany durchgeführt.

Ulrich Eggers: Und ist es wirklich so, dass die deutsche Sprache da lebendig gepflegt wird, oder geht es um eine Art plattdeutsch o.ä.?

Thomas Härry: Die Mennoniten reden Plattdeutsch, so wie sie es schon in der Ukraine und in Kanada getan haben. Sie lernen in der Schule aber alle Hochdeutsch (und natürlich Spanisch), sprechen es aber mit einem charakteristischen Akzent, sodass ich heute einen paraguayischen Mennoniten auf Anhieb an seiner Aussprache erkenne.

Bei diesem Aufenthalt ist mir aufgefallen, wie viele spanische Ausdrücke und Wörter sich inzwischen in ihre Alltagssprache mischt. Mancher wollte mir etwas erklären und suchte dann etwas mühsam nach dem deutschen Wort dafür – das spanische konnte er mühelos abrufen. Auch hier wandelt sich etwas.

Dennoch: Deutsch hat weiterhin die prägende Rolle. Die Zeitschriften der Kolonien (in denen es um Verwaltung, Alltag, Wirtschaft, Schule, Glauben geht) sind auf Deutsch. Es gibt einen Radiosender, der auf Deutsch sendet (aber teilweise auch in Spanisch und in den Sprachen der großen Indigenenstämme in der Umgebung). Viele Junge studieren zudem im Ausland weiter, zum Beispiel in Deutschland, aber auch in der Schweiz.

Ulrich Eggers: Nun sind ja mennonitische Christen bekannt etwa für ihre Friedensethik, oft aber auch für stark traditionelle Rollenbilder und feste Vorstellungen. Ist das so?

Thomas Härry: Das stimmt sicher im Groben auch heute noch. Aber da ist vieles im Wandel begriffen. Im Moment sieht es so aus, als ob ein Mennonit für das Amt des Staatspräsidenten nominiert würde (im April 2023 sind Wahlen). Früher waren politische Ämter innerhalb eines säkularen Staates nicht denkbar – und wird auch heute noch kontrovers diskutiert, auch bei den Mennoniten Paraguays.

Frauen führen Geschäfte, sind selbständig, arbeiten neben der Familie. Vielleicht noch nicht im Umfang wie bei uns, aber in der Tendenz steigend. Die ersten Kolonien haben Frauen im Verwaltungsrat, dem obersten Führungsgremium. In den Kirchen sind es nach wie vor Männer, die predigen und leiten. Es mag Ausnahmen geben, aber sie sind mir bei meinen Aufenthalten nicht begegnet.

Natürlich hat das Internet auch dort Einzug gehalten. Das Handy ist stets griffbereit und zum wichtigsten Kommunikationsinstrument geworden. Damit greifen alle Informationen und Einflüsse dieser Welt auch in die Welt der Mennoniten hinein – mit allem Segen und mit allen damit verbundenen Gefährdungen, wie wir sie auch kennen.

Ulrich Eggers: Wie muss ich mir Deine Einsätze dort vorstellen, wen hast Du erreicht? Was macht das Interesse der Leute aus? Machst Du hier Ähnliches?

Thomas Härry: Ein Grund, weshalb ich gerne dorthin gehe, hat mit der gesellschaftlichen Reichweite zu tun, die ich mit meinen Themen dort habe. In diesen Veranstaltungen habe ich immer die ganze Bandbreite vor mir: Die Führungsetagen aus den Bereichen Bildung, Soziales, Wirtschaft, Gesundheit und Kirche – sie sind fast vollzählig anwesend und lernen gemeinsam, wie Leitung aussehen kann.

Jetzt gerade hatte ich innerhalb dieser drei Wochen Zugang zu all diesen obersten Führungsgremien inklusive der Nachwuchskräfte und einigen Kirchen. Das ist einfach genial, weil du damit nicht bloß einen Ausschnitt einer Zivilgesellschaft erreichst, sondern auf einen Schlag Einfluss aufs Gesamte nehmen kannst. Gleichzeitig erlebe ich diese Menschen enorm offen, lernbereit und willig, sich auf gute Inhalte einzulassen. Es gibt rege Diskussionen und eine große Bereitschaft, die Dinge auch wirklich umzusetzen.

Ich übe mich noch darin, meine Inhalte kultursensibel zu vermitteln, denn ich kann meine Themen nicht ganz gleich weitergeben wie hier. Die Menschen ticken weniger individualistisch als hier in Europa. Ich muss also vorsichtig sein und im Hinterkopf behalten, dass das Gemeinschaftsgefüge die Kultur dort stärker bestimmt als hier. Manche Sätze, die bei uns logisch und einfach klingen, funktionieren dort so nicht. Da bin ich immer noch auch selber am Lernen.

Ulrich Eggers Die Stärke der Gemeinden und deutschsprachigen Netzwerke dort ist sicherlich ihr Zusammenhalt, der ja schon durch das fremdsprachige Umfeld gesichert wird. Siehst Du da nur Positives, gute starke Identität, oder hat das auch Schattenseiten?

Thomas Härry: Ja, vielleicht kann ein Beispiel das oben Gesagte verdeutlichen und auch ein Stück weit deine Frage beantworten: Ich bin zum Grillieren bei einer Familie eingeladen. Ich spreche mit einem der Söhne der Familie, der in Deutschland studiert hat. Er sagt zu mir: „Ich würde sehr gerne noch ein paar Jahre in Deutschland arbeiten.“ – „Dann tu es doch!“, sage ich zu ihm und will ihm Mut machen. Er schaut mich an und sagt dann diesen bemerkenswerten Satz: „Ja, aber damit habe ich in den besten Jahren meines Lebens nichts zur Entwicklung unserer Gesellschaft hier beigetragen. Das geht doch nicht!“

Das ist typisch für das dortige Denken: Du bist ein Teil dieser Gesellschaft, hast darin deinen Platz und auch deine Aufgabe am Ganzen. Das geht vor allzu individuellen Wünschen vor. Und hat in manchen Situationen auch den Nachteil, dass du den Erwartungen und Vorstellungen deines Umfeldes entsprechen musst und nicht ganz frei bist, wie du es vielleicht manchmal wärst …

Ulrich Eggers: Zugleich erleben wir ja hier im deutschsprachigen Bereich gerade auch ein Stück kultureller Entwurzelung durch Globalisierung, Internationalisierung und kulturelle Entwurzelung. Ist das dort anders?

Thomas Härry: Ja, eindeutig. Noch ist das so. Es wandelt sich gerade viel. Aber wenn ich zum Beispiel sehen, wie dort auf den Dörfern die Kinder aufwachsen, dann würde ich das jedem Schweizerkind und jedem deutschen Kind dasselbe wünschen. Du kannst dich draußen in freier Natur austoben, bist oft auf der Straße alleine unterwegs, bist mit dem Luftgewehr auf Jagd, reitest mit dem Familienpferd über die einsamen Felder, spielst mit einem der Familienhunde, kletterst auf Bäume – das Leben ist viel mehr an die Natur gebunden.

Man ist freier, hat mehr Platz zum Austoben und ist nicht den Blicken einer ganzen Schar von Nachbarn ausgesetzt. Aber eben, das Internet und Handy haben Einzug gehalten und binden mehr und mehr die Aufmerksamkeit der dortigen Menschen. Niemand beantwortet meine Textnachrichten schneller als meine Freunde in Paraguay …

Ulrich Eggers: Wie gestaltet sich das Miteinander mit den Einheimischen dort? Eine geschlossene wohlhabende und kulturell profilierte Gesellschaft tut sich da ja oft schwer, oder?

Thomas Härry: Da kann ich nur sagen, dass die Mennoniten das insgesamt vorbildlich gestalten. Sie suchen seit Jahren nach Wegen der partnerschaftlichen Zusammenarbeit, der Inklusion. Sie geben ihr Bestes, um Indigene und Paraguayer teilhaben zum lassen am erwirtschafteten Wohlstand.

Die Mennoniten haben verstanden, dass es nur dann dauerhaft sozialen Frieden geben kann, wenn ein Miteinander entsteht – also mehr als eine bloße Co-Existenz. Aber natürlich ist das alles nicht spannungsfrei und es gelingt nicht immer wunschgemäß. Dennoch empfinde ich ihre Bemühungen um partnerschaftliche Formen des Zusammenlebens als fortschrittlich. Wir könnten im Blick auf unseren Umgang mit Migrantinnen und Migranten in unseren Ländern viel von den Mennoniten lernen.

Ulrich Eggers: Was sind Deine Learnings im Blick auf Glaube, Leben, Kultur, was nimmst Du mit als Anregung, Provokation oder Fragestellung für uns?

Thomas Härry: Es sind viele Dinge. Die Leute haben noch nicht ein so eng getaktetes Leben wie wir. Gleichzeitig arbeiten sie überdurchschnittlich viel. Dennoch: Das Leben ist näher an der Natur, noch weniger digitalisiert und technisiert. Noch – denn da ändert sich viel.

Ich habe viel und großzügige Gastfreundschaft erlebt – da sind die Mennoniten einfach spitze. Dann auch die Bereitschaft, sich der Zukunft zu stellen. Lernen zu wollen. Wege in die Zukunft suchen. Die Leute sind stark unternehmerisch unterwegs.

Ein Pastor, mit dem ich freundschaftlich verbunden bin, hat neben seiner Gemeinde noch seine Rinderherde und einen recht großen Gemüseanbau, mit dem er Supermärkte beliefert. Drei Jobs – alles irgendwie gleichzeitig und nebenher. Das ist typisch für viele. Dann bewundere ich die Bereitschaft vieler, sich Know-how aus der ganzen Welt zu holen.

Ich habe dort eine Wertschätzung der Familie kennengelernt, wie sie bei uns selten geworden ist. Die Familie ist dein großer Rückhalt und spielt noch mal eine größere Rolle als bei uns. Gleichzeitig wirken sich Konflikte und persönlich Nöte wiederum stark auf das Familiensystem aus. Man kann diese Kultur nicht kopieren, darf sie auch nicht zu sehr mit anderen vergleichen. Ich selber genieße es bei solchen Einsätzen einfach, für kurze Zeit Teil davon sein zu dürfen.

Ulrich Eggers: Ganz am Ende: Du bist ja ein Fan der frühen Siedler und des Lebens im wilden Westen der USA. Ist das ein Background, der Dich mit dorthin zieht in das raue Pionierland zu Rindern und Farmen und Grill und saftigen Steaks?

Thomas Härry: Ja, natürlich, das macht es für mich deutlich einfacher, dem „Ruf des Herrn“ dorthin zu folgen … Ich fahre fürs Leben gern raus mit den Leuten auf ihre Farm [fast jede Familie hat eine oder gar mehrere solche „Fenzen“, also Farmen mit hunderten Stücken Großvieh (Zucht und Mast von Rindern)].

Da bist du wirklich weit draußen, absolut allein, in absoluter Stille. Im Reich der Pumas, der Schlangen, der Adler und Geier. Auf dem Pferderücken. Einfach wunderbar – hier fährst du runter, wie das auch zwei Wochen am Meer oder Schweizer Alpenluft nicht hinbekommen. Bei mir jedenfalls.

Dieses Raue, Bodenständige, das die Menschen prägt. Du triffst lauter kluge Menschen, aber selten einen total Verkopften. Irgendwas machst du immer auch mit deinen Händen. Das Leben ist ganzheitlicher, bodenständiger. Deshalb: Ich zwei Jahren findest du mich höchstwahrscheinlich wieder dort …


Zwei, die sich faszinieren, teilen ihre Entdeckungen und gehen ins Gespräch über das, was bleibt. Ein Alltagsdialog über Glaube, Führung, Lebensstile und Literatur. Ein Dialog zwischen Thomas Härry und Ulrich Eggers.

www.EggersundHaerry.net

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