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„Ich möchte noch nicht sterben!“

Das Leben dankbar feiern, aber trotzdem den Tod nicht verdrängen. Eine Annäherung an ein schwieriges Thema von Ulrich Eggers und Thomas Härry.

Uli: Eine der großen Aufgaben des (zumindest teilweisen …) Ruhestands ist für mich der Fokus auf all das, was ich in vielen Berufsjahren nicht geschafft habe: Unser Haus aufräumen, enorme Mengen von Büchern aus all meinen Sammelgebieten ordnen und sichten – und mich mal so richtig daran freuen. Und das tue ich gerade – wobei das Stapeln und Schleppen und Ordnen noch im Vordergrund steht. Zugleich ist solch eine Art Zwischenbilanz eine merkwürdige Zeit: „Hey, für wie viele Jahre voraus mache ich das alles eigentlich noch? Wer von uns weiß denn schon, wann genau er stirbt? Und wie viel – schönen – Kram braucht man eigentlich so für den (jeweiligen …) Rest des Lebens? Womit verbringen und binden wir Zeit? Spannende Frage, weil ich merke, dass sie ja in Wirklichkeit nicht neu ist. „Herr, lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden“, heißt es in Psalm 90,12. Und so einen wuchtigen Vers kennen wir ja „irgendwie“ alle, wissen um die konstante Bedrohung des Lebens – und weisen sie doch real weit von uns. Ich sage heute mit einer gewissen Lebenserfahrung: Müssen sie von uns weisen, weil man nicht die Bedrohung des Lebens (psychisch gesund bleibend …) ständig im Vordergrund des Alltags mit sich schleppen kann.

Ich glaube, es gibt da auch eine positive Form der Verdrängung: Eine Konzentration auf das Leben und das Notwendige und Grundsätzliche. Aber was heißt dann, das Sterben bedenken – und was bedeutete Klugheit darin? Richard Foster redet davon, dass wir „das Leben feiern“ sollen – also eine tief verwurzelte, alle Sinne umfassende Umarmung des Lebens. Und des Todes? Und das dann im Sinne eines „Carpe diem“ – „Nutze den Tag, freu Dich an ihm, koste ihn aus – es ist unverfügbares, kostbares Geschenk?“

Vor kurzem starb Renate, das erste Mitglied unserer Gemeinde und kleinen christlichen Gemeinschaft, die gehen musste. Sehr plötzlich, sehr unerwartet, sehr früh. Vieles war schon geordnet bei ihr – aber am Ende blieb doch ein großer Haushalt und lauter abgebrochene Lebens- und Beziehungslinien. Mitten in ihre und unsere Erwartungen hineinkam überraschend der Tod. Und so ist es vermutlich in jeder Gemeinde – immer wieder erschüttern uns die Nachrichten von schwerer Krankheit, überraschender Bedrohung, plötzlichem Tod. Immer sind wir überrascht, entsetzt, verstört. Und ich denke: Was heißt es denn, klug mit dem Tod zu leben? Hast Du da schon Denk- und Haltungs-Wege, Thomas?

Dankbarkeit nach hinten – und Vorfreude nach vorn

Uli Eggers

Thomas: Ja, ausgelöst durch Corona. Ich werde den Moment nicht vergessen: Es muss im April oder Mai 2020 gewesen sein. Ich stehe in meiner kleinen Schreibstube und schaue aus dem Fenster. Vor mir unten im Tal (wir wohnen etwas erhöht auf einer Moräne) und blicke auf eine gespenstisch stille Stadt Aarau. Es ist früher Abend. Normalerweise brummt die Stadt von Verkehr. Jetzt ist es totenstill. Lockdown. Am Radio kommt in Dauerschleife die Meldung: „Bleiben Sie zu Hause…!“ Da stehe ich nun, blicke über die Dächer von Häusern, in die sich die Menschen verkrochen haben und ein Ende des Übels abwarten. Da durchzuckt mich der Gedanke: „Was, wenn diese Pandemie dein Leben kostet? Wenn du nicht mehr lange zu leben hast? Was würdest du bereuen? Was wäre dein größter Schmerz und Verlust?“ Diese Frage traf mich ganz unvorbereitet.

Einen Tag später formten sich erste Antworten – unter anderem eine Art empfundene Beauftragung von Gott, zwei, drei Buchprojekte nicht hinauszuschleppen, sondern möglichst rasch zu realisieren. Dort, in diesem Moment am Fenster, war der Tod auf einmal nahe. Anders als damals vor Jahren, als ich beinahe im Mittelmeer ertrunken bin. Dort war es viel dramatischer und bedrohlicher. Aber ich merke schon, dass mich der Gedanke an den eigenen Tod sticht. Er ist mir unangenehm, ich möchte noch nicht sterben! Beobachte aber in meinem Umfeld, dass manche (nicht alle) alte Menschen an einen Punkt kommen, wo der Tod für sie das Bedrohliche verliert. Es fasziniert mich immer, wenn ich das beobachte und hoffe, dass ich mal auf ähnliche Art bereit bin. Aber bitte jetzt noch nicht!

Gibt es in deinem Leben auch Dinge, von denen du sagst: Ich bin zwar in Rente, aber das und jenes will ich noch; das gehört noch zu meinem Auftrag?

Uli: Das beruhigt mich ja erstmal, dass Du da ähnlich berührbar bist wie ich – eine zu gelassene Haltung Richtung Tod und Sterben bei manchen Christen irritiert mich immer. Kann man wirklich zutiefst lieben – was man dann so leicht loszulassen meint? Bei Deiner Frage komme ich in Konflikt mit einem meiner Lebenssätze. Ich habe mal für mich formuliert: „Dankbarkeit nach hinten – und Vorfreude nach vorn, das ist für mich ein wichtiges Lebensparadigma“.

Tatsächlich lebe ich ganz stark davon: Bin sehr, sehr dankbar für so viel Gutes und auch manches Schwere, das mich geformt hat. Kann es dankend umfassen. Und lebe von einer ganz starken Vorfreude, Pläne, Projekte, Vorhaben zu erreichen, mir Wege dahin zu erarbeiten, Hindernisse aus dem Weg zu räumen. Die Zukunft zieht mich enorm – und das kann ein schöner Urlaub oder ein großes geistliches Projekt genauso sein, wie – total banal – das Aufräumen meiner Bücherzimmer hier im Haus: Gestern Abend konnte ich schwer schlafen, weil ich am liebsten immer noch weiter gemacht hätte – endlich das umgeräumte Zimmer sehen! Noch ein paar Kisten auspacken, noch ein paar Gebiete ordnen – warum überhaupt schlafen, anpacken! Und dann merke ich auf einmal: Mein Satz funktioniert ja nur so lange … wie es nach vorn und in die Zukunft hinein Projekte und Planbares gibt! Ich lebe von Plänen! Und … wenn ich keine mehr machen kann – weil da keine Zukunft ist? Wow, das hat mich noch mal gepackt, da habe ich mich gefragt, ob mein Lebensparadigma nicht ein sehr vollmundiges „Mitte-des-vitalen-Lebens-Konzept“ ist – ja, da kann man das! Aber wenn man älter und alt ist? Wenn die Projekte schrumpfen und Zukunft schwindet? Dann müsste – geistlich korrekt – die Freude auf den Himmel als starker Ersatz dienen können, die Lücke ausfüllen. Und … da bin ich noch nicht. Das ist und wäre mir derzeit zu unkonkret. Darin hoffe ich mich mal fallen zu lassen – aber jetzt liefe ich damit vor die innere Wand meiner eigenen Erwartungen …

Aber ja, ich kann mir vorstellen, irgendwann mal so lebenssatt zu sein – krank, alt, alles gemacht, alles durch, Kraft fehlt –, dass sich Vorfreude auf den Himmel entwickelt und Leichtigkeit im Blick auf das Gehenwollen. Große Projekte müsste ich nicht mehr erfüllt haben dafür, da ist meine Ernte in der Scheune – ich „muss“ nichts mehr. Aber ich möchte schon gern noch – mit meiner Frau, mit den Enkeln, mit den Freunden. Lebenshunger und Appetit ist ja da. Vermutlich das Gegenteil von „lebenssatt“ …

Auch junge Menschen können „lebenssatt“ sein

Thomas Härry

Thomas: Und weißt du, was ich faszinierend finde? Dass „lebenssatt“ und Bereitschaft zum Sterben tatsächlich nicht allein mit dem Alter zu tun hat, sondern mit einer Erkenntnis, die sich dem Menschen an der Grenze zum Tod oft langsam erschließt – egal wie alt er ist. Von daher muss ich mich selbst korrigieren, wenn ich oben sage, dass ich das bei älteren Leuten schon beobachtet habe. Mir kommt in den Sinn: Nein, auch schon bei jüngeren. Ich erinnere mich an Markus, einen jungen Mann in der Gemeinde, inmitten seiner Zwanzigerjahre, der Leukämie hatte. Nach erfolglosen Therapien wuchs in ihm die Bereitschaft zum Sterben und die Freude auf den Himmel – während seine Freunde wohlmeinend den Kopf schüttelten und unbedingt für Heilung beten wollten bis zu letzten Sekunde. Es kam der Moment, wo er abwinkte und sagte: „Der Himmel ist mir zunehmend eine gute Vorstellung.“.

Und noch woanders bin ich diesem Phänomen gerade kürzlich begegnet: Im Abschiedsbrief von Helmut James von Moltke, einem Widerstandskämpfer im Nationalsozialismus und Mitbegründer der Widerstandsgruppe „Kreisauer Kreis“. Gerade vorgestern habe ich in einer Veranstaltung seinen letzten Brief an seine Frau Freya vorgelesen. Er entstand buchstäblich in den letzten Stunden und Minuten seines Lebens, unmittelbar vor seiner Erhängung durch die Nazis. In diesem Brief schreibt er: „Mein Herz, mein Leben ist vollendet und ich kann von mir sagen: Er starb alt und lebenssatt…“ (Anmerkung von mir: Moltke ist zu diesem Zeitpunkt gerade 39 Jahre alt) „Das ändert nichts daran, dass ich gerne noch etwas leben möchte, dass ich dich gerne noch ein Stück auf dieser Erde begleitete. Aber dann bedürfte es eines neuen Auftrags Gottes. Der Auftrag, für den mich Gott gemacht hat, ist erfüllt.“ Nach diesem Satz schließt er mit einem Segen. Er verschließt den Brief, gibt ihn seinem Henker, damit er ihn an seine Frau schickt, und tritt dem Tod entgegen. Als ich diesen Text vorlas, waren die Zuhörer tief bewegt – und mich selbst hat es auch nochmal aufgewühlt. So jung, solche Worte, solche Kraft!

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Uli: Ja, das sind starke Worte, starke Beispiele. Möge sich das für uns so ereignen, wenn es mal so weit ist! Zugleich denke ich: Wenn man etwas als „schön, tief, sinnvoll, zunehmend reif – aber noch nicht vollendet“ empfindet, dann wäre es unnatürlich, ein offenes Verhältnis zum Sterben und zum Tod zu haben. Ich kann schwer sagen, dass ich das Leben feiere, mich meiner Enkel freue, meine Frau liebe und so gern in ihrer Nähe bin – und mich dann da raus wünschen. Leben ist gute Gabe. Und Sterben, Tod und Himmel verlangt von mir eine starke Phantasie und reale Hoffnung, die ja eben das komplette Gegenteil von Lebensfreude und Dankbarkeit für das Hier und Jetzt ist. Von daher pflanze ich gern noch Apfelbäume (Luther) und hoffe, dass ich sie noch blühen und reifen sehe. Und wenn nicht, dann nehme ich eben auch aus dem guten Leben hier und meiner Dankbarkeit Gott gegenüber die gewachsene Hoffnung und Zuversicht mit, dass im Himmel eine Wohnung bereit ist – noch sehr fremd und fern. Aber wenn Gott hier schon so gut und persönlich ist, dann ist der einzig logische Schluss, ihm auch dort alles zuzutrauen …  


Thomas Härry und Ulrich Eggers sprechen über Glaube, Führung, Lebensstile und Literatur. Die Idee kam ihnen beim Biografie-Projekt von Ulrich Eggers (Der Ideen-Entzünder – Von der Treue im Großen, mutigen Entscheidungen und dem Glauben am Montag)

www.EggersundHaerry.net

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