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Wer bin ich jenseits meiner Termine?

Jahresanfang und -ende sind für viele eine Zeit der persönlichen Reflexion und großen Jahresrückblicke. Was ist gelungen? Was haben wir erlebt? Da kommen Zahlen auf den Tisch, Erfolge, Ereignisse. Ulrich Eggers merkt: Neben all diesen „äußeren Reisen“ interessiert er sich zunehmend für die „innere Jahres-Reise“.

Uli: Eine der schönen Sachen rund um den Jahreswechsel finde ich die vielen persönlichen Rundbriefe und Newsletter von entfernten Freunden und Weggenossen, die sich einmal im Jahr auf diese Weise melden. Da hält sich ein Stück Beziehung wach und warm, die manchmal durch Entfernung oder eine andere Lebensphase gerade nicht aktiv ist. Ich überlege, ob ich dieses Jahr nicht auch so ein Mail schreibe …
Am meisten bedeuten mir bei diesen Freundes-Rundbriefen solche, die nicht nur von Aktionen und Außen-Daten erzählen: „Das und das habe ich gemacht, war dort im Urlaub und wir haben mittlerweile X Enkel – und nächstes Jahr mach ich dies und das“.

Thomas: Beim Lesen davon geprägter Rundbriefe bin ich oft auch zweigeteilt. Natürlich interessiert mich in manchen Fällen, was im Leben dieser Personen gerade läuft. Andererseits stillt es nicht mehr als meine oberflächliche Neugier und hat oft wenig inhaltliche Substanz. Aber das ist vielleicht auch nicht beabsichtigt. Hinzu kommt, dass solche Rundbriefe ja oft in großer Zahl und an sehr unterschiedliche Leute geschickt werden: Verwandte, entfernte Bekannte, Freunde, Unterstützer. Ich verstehe, dass man all diesen Menschen gegenüber nicht im gleichen Maße die Seele nach außen kehren mag. Und so greift man auf Allgemeinheiten zurück.

Uli: Klar, das ist auch verständlich bei sehr großen Empfänger-Gruppen, die ja dann oft auch sehr heterogen sind. Und es ist ja immer auch interessant, um auf Stand zu bleiben und voneinander zu wissen. Schließlich bin ich auch gern im Urlaub, Aktionen sind auch mir wichtig – und Enkel erst recht. Das gehört ja alles zum Leben – aber könnte es nicht noch mehr geben in solchen Rundbriefen? Erschließen sich Menschen und Beziehungen nur über diese Außen-Fakten? Was bleibt bei denen übrig, die keine tollen Urlaube, starke Aktionen und Kinder oder Enkel haben? Was erzählen die von ihrem Jahr? Bin ich nicht viel mehr als das, was ich tue – und habe?

Du stehst da, hast dich geöffnet – aber es gab keinen Dialog, keine Begegnung, keine Augenhöhe. Will ich das? Eher nicht, also lass ich’s.

Thomas Härry

Thomas: Ich vermute mal, dass sich viele solche Fragen gar nicht groß stellen. Und diejenigen, die es tun, bringen sie wahrscheinlich an anderen Orten als in einem Jahresrundbrief zur Sprache. Denn ein solcher Streuwurf ist zu 95 Prozent eine Einbahnstraße. Stell dir vor, du teilst deine Seele mit 200 Leuten – von denen vielleicht zehn mit einem freundlichen „Danke, spannend, was du schreibst“ antworten – mehr nicht. Der Rest schweigt und du stehst da, hast dich geöffnet – aber es gab keinen Dialog, keine Begegnung, keine Augenhöhe. Will ich das? Eher nicht, also lass ich’s.

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Uli: Ja, vielleicht ist das der eingefleischte Journalist oder Autor in mir, der immer sendet, um auch zu empfangen. Ich entdecke oft ganz spannende Spuren in diesen Briefen. Mich würde zum Beispiel oft sehr interessieren, ob es bei den Leuten neben den äußeren Reisen auch eine Art „innerer Jahres-Reise“ gegeben hat – oder ein paar große Fragen, an denen man gerade herumdenkt? Entwicklungen im Glauben? Einsichten über mein Alter, unsere Gemeinden, meine innere Haltung? Oder gibt es vielleicht auch so etwas wie eine Jahres-Biografie des inneren Lebens und Werdens, eine „unterjährige Erkenntnis-Geschichte“? Ist mein Innenland nicht auch ein Reisegebiet, von dem man berichten könnte?
Wobei, bloß kein Stress! Mir ist ja beides wichtig – und die große Jahreskurve von meiner Reise ins Innenland per Freundes-Rundbrief habe ich ja bisher auch noch nicht abgeliefert. Aber ich merke: Das würde mich bei vielen interessieren. Warum? Weil man darin Lebensgefühle und Entwicklungen abgleichen kann – lernen von denen, die schon weiter sind. Etwas verstehen davon, wenn es Leuten ganz anders geht. Nicht nur äußerlich im Bild bleiben, sondern eine innere Verbundenheit erfahren, die sich über die Jahre vertiefen kann. Und dann vielleicht hier oder da mal bei einem guten Kaffee zusammensitzen und das Gespräch aufnehmen. Tiefer hören, nachfragen können. Für mich erschließt sich darin ganz viel vom Schönsten des Lebens: Einander auf ehrliche Weise begegnen und wahrnehmen – erkennen und erkannt werden.

Thomas: Ja, das wäre toll und wertvoll – wobei für mich eben Rundbriefe kein Ort der Begegnung und echter Wahrnehmung ist – es sind eher Morsezeichen an die grosse Welt da draussen: Das Wichtigste, das Nötigste, sich mal gemeldet, aber nicht viel mehr. Ich habe in den letzten drei, vier Jahren keine solchen Rundbriefe mehr geschickt, u.a. aus obigen Gründen. Was ich aber jedes Jahr Ende Dezember mache, ist ein paar Menschen eine kurze, persönliche Grusskarte schicken. Mein Kriterium: Ich möchte Menschen danken, mit denen ich im vergangenen Jahr auf irgendwelche Weise näher verbunden war. Besondere Begegnungen, tiefe Gespräche, Freundschaft, Nähe. Das will ich nochmal wertschätzend ehren und erwähnen. Ich schreibe keine langen Sache, einfach ein paar einfache Worte und ein Danke. Fertig. Etwa 20 oder 30 Karten. Das schaffe ich, alles andere nicht.

Uli: Sowas finde ich auf jeden Fall viel besser als die vielen Standard-Weihnachts-Grußkarten, die für alle Beteiligten manchmal eben eher Pflicht sind. Und ich weiß auch nicht, ob diese Rundbrief-Idee für jeden so passt – bei mir ist es halt so, dass als Teil meines Berufsweges viele schöne Beziehungen da sind, die phasenweise mal tief oder heiß waren, sich dann aber wieder gelöst haben. Ich bin viel umgezogen, habe unterschiedliche Funktionen bedient – überall gibt es Menschen, die mir etwas bedeuten, wo aber mangels Begegnungs-Möglichkeiten die Beziehung schlummert. Zugleich haben diese Leute von ihrer Leidenschaft oder Lebenssituation oder Erfahrung her oft ganz Wichtiges zu sagen – und sie sind in freundlicher Halb-Distanz, das macht ja manchmal Beziehung leicht: Zu weit weg, um sich zu reiben. Aber innerlich vertrauensvoll nah …

Thomas: Dieses Jahr dachte ich das erste Mal noch an ein anderes Projekt, allerdings keines zum Versenden an Freunde und Bekannte, sondern vor allem für mich selbst und meine Kinder: Ich habe Ende des Jahres Geburtstag und dachte für mich: Ich könnte zu jedem Jahrestag meines Geburtstags einen kurzen Text schreiben: Was mir im vergangenen Jahr wichtig war, was mich geprägt hat, was wichtige Ereignisse und Erkenntnis waren. So wie du es oben skizzierst. Höchstens zwei Seiten. Darauf kam ein nächster Gedanke: ich könnte das anhand meiner Tagebücher auch zu meinen bereits vergangenen 56 Lebensjahren machen. Von Geburt bis heute – ähnlich wie es Christa Wolf in ihren beiden Büchern „Ein Tag im Jahr“ gemacht hat. Einen ersten Schritt habe ich gemacht: Ich bin zu meiner Mutter gefahren und habe sie über meine ersten 15 Lebensjahre ausgefragt und es als Sprachnachricht aufgenommen. Und sofort kam mir noch ein Gedanken: Man könnte auch ein Buch daraus machen… Und schon bin ich bei der Verzweckung meines Innenlebens, was mich dann auch wieder nervt.

Da klopft mir sofort das Herz – mein alter Lebenstraum: „Geistliche Zeitgenossenschaft mit anderen“.

Ulrich Eggers

Uli: Verstehe ich, muss man sicher auch gut überlegen. Aber das Verlegerherz in mir klopft natürlich sofort, weil ich sicher bin, dass viele so etwas lesen würden, eben weil es diese Echolot-Funktion bedient, nach der wir uns im Grunde sehnen: Senden und Resonanz empfangen. Ich glaube, das ist eine Grund-Definition von Menschsein, oder? Der Schriftsteller Walter Kempowski hat ja dieses „Echolot-Projekt“ mit Lebens-Reflexen aus dem Dritten Reich gemacht, wo sich aus vielen „Schallwellen“ von Menschen am Ende ein ganz eigenartiger Umriss von Wirklichkeit des Dritten Reiches ergibt. Das kommt mir bei Deiner Idee sofort in den Sinn. Oder ich denke an ein Buch von Ulrich Schaffer irgendwann in den Achtzigern: „Journal“ – zusammengestellte Auszüge aus seinen Tagebüchern. Ich weiß gar nicht, ob das damals ein Erfolg war, aber ich habe es gern gelesen – das hatte eben genau diesen Effekt: Einblick, Teilen, potenzielle Resonanz erzeugen.

Aber so einen Jahres-Geburtstagsbrief finde ich auch eine ganz starke Idee – vielleicht ist es das, was ich mit den persönlichen Rundbriefen an Freunde meine. Da ich im August Geburtstag habe, würde ich so etwas immer mehr ans Jahresende legen – aber im Grunde geht es um diese Art Zwischenbilanz unter Freunden. Ich habe in den letzten Jahren in der Februar-Ausgabe von AUFATMEN immer versucht, eine Art „Bilanz-Artikel“ mit klugen Abschlussfragen zum alten Jahr und guten „Projekt-Fragen“ zum neuen zu bringen: Was war bei mir los? Was war wichtig, schwer, enttäuschend – was will ich anders machen? Ich denke, solche Bilanzen, die man anderen zugänglich macht oder bewusst ins Gespräch bringt, können einen ganz wertvollen Austausch anregen. Da klopft mir sofort das Herz – mein alter Lebenstraum: „Geistliche Zeitgenossenschaft mit anderen“. Gemeinsam unterwegs sein in einer konkreten Zeit und Lage – voneinander hören, Tendenzen erkennen, Fragen formulieren, an Antworten bauen, Ideen bewegen …

Thomas: Schon allein mit ein zwei Freunden (oder Freundinnen) solche Fragen zu bewegen wäre sehr wertvoll. Vielleicht müssten wir ein anderes Mal darauf zurückkommen, denn gerade unter Männern, so meine ich, gibt es selten solch ehrliches „Einblick-Geben“.

Uli: Ja, an diesen Themen werden wir sicher dran bleiben – ich weiß zum Beispiel gar nicht, ob Du Tagebuch schreibst. Das ist ja auch so eine Form von Resonanz auf sich selbst. Weißt Du es von mir? Naja, das nehmen wir mal in einem anderen Dialog auf …



Ulrich Eggers hat seine eigene Biografie im Dialog mit Thomas Härry geschrieben. „Der Ideen-Entzünder – Von der Treue im Großen, mutigen Entscheidungen und dem Glauben am Montag – Eine Biografie im Dialog“ ist Anfang 2022 bei SCM R.Brockhaus, Holzgerlingen erschienen.

Der Dialog zwischen Thomas Härry und Ulrich Eggers geht weiter:
www.EggersundHaerry.net

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