Der biblische Kanon wurde nicht durch das Konzil von Nicäa festgelegt. Es war ein langer, teils kontroverser Prozess, bei dem die Praxis in den Gemeinden eine wichtige Rolle spielte.
Von Dr. Pieter Lalleman
Seit Dan Brown im Jahr 2003 den Roman „Der Da Vinci Code“ schrieb, denken viele, dass der Inhalt des Neuen Testamentes aufgrund irgendeines offiziellen Beschlusses festgelegt worden sei. Diese Entscheidung sei irgendwann im Laufe des vierten Jahrhunderts erfolgt. Zu dieser Zeit herrschte Kaiser Konstantin über das Römische Reich. Er bekehrte sich zum Christentum und gewann Einfluss in der Kirche.
Das ist jedoch ein klassisches Missverständnis. Solch eine Kommission hat es niemals gegeben! Aber wie kam es dann, dass all die verschiedenen Bücher, aus denen das Neue Testament heute besteht, zu einer einzigen Sammlung zusammengefasst wurden? Und wie lief das vorher beim Alten Testament ab?
Die 66 Bücher der Bibel sind unabhängig voneinander entstanden. Zugegebenermaßen wissen wir wenig darüber, was danach geschah. Damals hielt man noch keine kirchlichen Versammlungen ab, und es wurden keinerlei Protokolle oder Beschlusslisten verfasst.
Wie die Bibel Israels entstand
Was das Alte Testament betrifft: Das Volk Israel las diese Bücher und maß ihnen große Autorität bei. Im Laufe der Zeit wählte man eine Anzahl Bücher aus, die als Heilige Schriften betrachtet wurden. Andere hingegen wurden nicht ausgewählt und gerieten nach und nach in Vergessenheit. Sie werden zum Beispiel in 4. Mose 21,14; 1. Samuel 10,25; 2. Samuel 1,18 und 1. Könige 11,41 erwähnt. Solche Bücher wurden nicht mehr abgeschrieben und gingen dadurch verloren.
Wahrscheinlich wurde diese Auswahl im Volk Israel anhand folgender Kriterien getroffen: Spricht Gott durch dieses Buch zu uns? Enthält es Gottes Wort, so wie wir es durch Mose und die Propheten empfangen haben, oder ist es eine angemessene Antwort auf eine göttliche Offenbarung wie die Psalmen oder die Klagelieder?
Die Bücher, die ausgewählt wurden, hat man immer wieder abgeschrieben. Sie wurden im Tempel und später in den Synagogen verwendet. Diese Schriften bildeten zu einem bestimmten Zeitpunkt gemeinsam die Heilige Schrift (das, was Christen später das Alte Testament nannten). Oft wird diese Büchersammlung auch der „Kanon“ des Alten Testaments genannt. (Das Wort bedeutet in diesem Zusammenhang „Liste der aufgenommenen Bücher“.) Sie sind alle auf Hebräisch geschrieben, mit Ausnahme einiger Textabschnitte aus dem Daniel- und dem Esra-Buch.
Einige Fachleute sind der Meinung, dass der alttestamentliche Kanon schon vor der Geburt von Jesus abgeschlossen war. Andere sagen, dass die Juden diese Entscheidung erst Ende des ersten Jahrhunderts nach Christus gefällt haben. Die Argumente für den ersten Standpunkt sind stark, weil im Neuen Testament nur Zitate aus den kanonischen Büchern zu finden sind.
Jesusbücher und Apostelbriefe
Das Neue Testament ist auf dieselbe Art entstanden. Verschiedene Jesusnachfolger wie Paulus und Johannes verfassten Schriften, die von den Gemeinden verbreitet, angenommen und vor allem angewendet wurden. Man las sie bei den Gemeindezusammenkünften und empfand sie als Reden Gottes. Schon bald kam der Gedanke auf, dass diese Bücher ebenfalls Heilige Schriften waren und dass sie darum zusammengehörten – und zu den Büchern, die es bereits gab. Weil die neuen Bücher auf Griechisch geschrieben waren und weil sie von Jesus handeln, lag es auf der Hand, dass sie eine gesonderte Sammlung bildeten. Diese nannte man später das Neue Testament, und welche Schriften dazu gehörten, hat sich größtenteils im zweiten Jahrhundert verfestigt.
Kanonbildung an der Basis
Wie es dann weiterging, finde ich persönlich schwierig zu erklären: nämlich dass man danach nicht aktiver eingegriffen hat. Es wurde keine Kommission eingesetzt, um die richtigen Bücher auszuwählen und die anderen zu verwerfen. Welche Bücher zum Neuen Testament gehören sollten, stand im ersten Jahrhundert schon mehr oder weniger fest, aber erst in der zweiten Hälfte des vierten Jahrhunderts war der Kanon abgeschlossen. Ein wichtiger Schritt war, was der bekannte und einflussreiche Bischof Athanasius von Alexandrien tat: Er nahm die 27 Bücher umfassende Liste in einen Brief auf, den er im Jahr 367 an die Gläubigen seines Bistums schickte1. Es war keine Kommission beteiligt, und Athanasius bestätigte nur, was in der Praxis ohnehin schon mehr oder weniger feststand. Man kann daher durchaus sagen, dass die Kanonbildung „an der Basis“, also in den Gemeinden stattfand.
Im Rückblick auf diesen Prozess wird deutlich, dass die Gemeinden hinsichtlich der Bücher, die heute im Neuen Testament stehen, drei Fragen stellten:
• Wird dieses Buch von allen Gemeinden benutzt, oder wenigstens den allermeisten?
• Stimmt sein Inhalt mit der Botschaft Jesu überein?
• Wurde das Buch von einem Apostel oder von jemandem geschrieben, der in engem Kontakt zu den Aposteln stand? Für den Brief an die Hebräer war es in Bezug auf die letzte Frage hilfreich, dass man Paulus für seinen Verfasser hielt. (In Wirklichkeit wissen wir nicht, wer der Verfasser war. Es kann auch Apollos gewesen sein, vorgeschlagen wurden auch Barnabas oder Priszilla.)
Was draußen blieb, ist wirklich anders
Es gab noch eine Menge andere Schriften, die sich um einen Platz im Neuen Testament bewarben. Darunter ist das Thomasevangelium, das übrigens gar nicht von Thomas geschrieben wurde. Es gab viel mehr als vier Evangelien, es gab viele Bücher über das Wirken der Apostel und verschiedene sogenannte Offenbarungen. Nur konkurrierende Briefe gab es kaum. Wir bezeichnen die Schriften, die letzten Endes verworfen wurden, heute als neutestamentliche Apokryphen. Diese Bücher wurden nicht in Betracht gezogen, weil die meisten von ihnen falsche Vorstellungen von Gott und Jesus enthalten – gemessen an den kanonischen Büchern des Neuen Testaments.
Sowohl beim Alten als auch beim Neuen Testament wurde die Entscheidung über den Inhalt also im Laufe eines langen Prozesses von den Gemeinden getroffen, die in bestimmten Büchern die Stimme Gottes erkannten und in anderen nicht (oder nicht in demselben Ausmaß). Bischöfe und andere Leiter haben diesen Prozess der Kanonisierung zwar beeinflusst, hatten jedoch keine Entscheidungsbefugnis.
Und das Schöne ist: Wenn Sie heute in den Schriften lesen, die abgelehnt wurden (soweit sie noch existieren) – und ich habe viel darin gelesen –, dann wissen Sie sofort, dass die Kirche die richtigen Entscheidungen getroffen hat. Gott spricht zu uns in den 66 Büchern, die in den Kanon des Alten und Neuen Testaments aufgenommen wurden. Das heißt nicht, dass die anderen Bücher, zum Beispiel die „Apokryphen“, die bei den Katholiken zum Kanon gehören, wertlos sind oder Gott nicht durch sie spräche. Aus protestantischer Sicht sind sie aber nicht gleichrangig. Man kann sie vielleicht mit Büchern von bekannten christlichen Autoren vergleichen. Auch sie sollen immer an den kanonischen Büchern gemessen werden.
Dr. Pieter Lalleman ist Forschungsbeauftragter am Spurgeon’s College, London, Pastor der Knaphill Baptist Church, England, und Herausgeber der Europäischen theologischen Zeitschrift. Auf Deutsch ist von ihm als Buch erschienen: „Goldadern der Bibel. Von der bleibenden Bedeutung des Alten Testaments“. Der Beitrag wurde aus dem Niederländischen übersetzt von Martina Merckel-Braun.
1 Seine Festlegung wurde später auf den Synoden von Hippo (393 n. Chr.) und Karthago (397 n. Chr.) bestätigt. Dagegen fanden andere Schriften, die in frühchristlichen Gemeinden noch regelmäßig in Gottesdiensten verlesen worden waren (z. B. der 1. Klemensbrief oder der „Hirte des Hermas“) keine Aufnahme in den Kanon. [Hinweis der Redaktion]

Dieser Artikel ist in der Zeitschrift Faszination Bibel erschienen. Faszination Bibel wird vom SCM Bundes-Verlag herausgegeben, zu dem auch Jesus.de gehört.
Dr. Pieter Lalleman scheint nicht mal was von der mündlichen Tora gehört zu haben.
Dieses hier liest sich eher nach: „So wäre es doch sehr schön, also war es sicherlich so“.
Als wenn das Konzil von Nicäa damit nichts zu tun gehabt hätte.
„Die Argumente für den ersten Standpunkt sind stark, weil im Neuen Testament nur Zitate aus den kanonischen Büchern zu finden sind.“
Falsch, denn im Beuen Testament im Judas-Brief wird in Judas 14ff. das apokryphe Buch Henoch zitiert.
Dieser Prozess der Kanonbildung an der Basis klingt doch auch sehr nach einem Wirken des Heiligen Geistes.
Gott selbst hat offensichtlich über diese Sache gewacht.