Die Bibel ist bunt und reich wie das Rote Meer, sagt Pfarrer Steffen Tiemann. Von der Kunst, in biblische Texte einzutauchen.
Vor einigen Jahren haben wir als Familie Urlaub am Roten Meer gemacht. Gleich am ersten Tag ging es mit Brille und Schnorchel ans Wasser. Wenn man vom Strand aus auf dieses Meer blickt, sieht es aus wie jedes andere Meer. Aber sobald ich mit der Brille auf der Nase in das Wasser stieg, betrat ich eine völlig andere Welt. Unter mir leuchteten Korallen in allen nur vorstellbaren Farben. Und um sie herum schwammen die kuriosesten Fische: knallig bunt und in allen Größen und Formen. Es war wahnsinnig schön!
Wenn wir einen biblischen Text betrachten, kann uns ähnliches passieren. Wir können eintauchen in eine andere Welt. Diese Welt der Bibel ist bunt, vielfältig, überraschend wie ein Korallenriff. Wir treffen hier Menschen mit seltsamen Namen und merkwürdigen Bräuchen. Wir stoßen auf tyrannische Herrscher und aufmüpfige Untertanen.
Wir lernen Viehzüchter und Kaufleute kennen, Magier und Seherinnen, Muskelprotze und Pflegefälle, Huren und Heilige. Und wir begegnen auf allen Seiten einem Gott, der aktiv in das Weltgeschehen eingreift, der sich diesen einzelnen Menschen offenbart und zu ihnen eine Beziehung sucht, der ganz nahe kommt und doch so geheimnisvoll bleibt.
Reinsteigen, statt nur den großen Zeh befeuchten
Wer die bunte Welt des Roten Meeres erleben will, muss tatsächlich eintauchen. Eintauchen bedeutet, dass wir uns ganz in das Wasser hineinbegeben. Wir bleiben nicht am Ufer stehen. Wir stecken auch nicht bloß den großen Zeh ins Wasser, sondern steigen komplett in das andere Element hinein, sodass es uns ganz umgibt. Und so fangen wir an, die Dinge von innen her zu sehen.
Auch bei der Beschäftigung mit der Bibel kommt es darauf an, dass wir uns komplett hineinbegeben in das, was dort berichtet wird. Wir gucken nicht nur von außen. Wir stecken nicht nur vorsichtig die Nase in diese Geschichten, sondern begeben uns ganz, von Kopf bis Fuß, hinein. Und so fangen wir an, die Welt der Bibel von innen zu betrachten.
Für mich als Gemeindepfarrer, der regelmäßig über biblische Texte predigt, ist dieses Eintauchen entscheidend wichtig. Nur wenn dies gelingt, kann ich Neues empfangen und habe auf der Kanzel etwas zu sagen. Aber auch wenn Sie nicht predigen, sondern nur für sich die Bibel lesen, kann so ein Eintauchen einen großen Unterschied machen.
Viele Christen empfinden das Lesen in der Bibel als eine etwas trockene Übung, die ihnen wenig bringt und daher auch nur selten praktiziert wird. Wenn Sie lernen, in die biblischen Texte einzutauchen, kann sich das ändern. Es kann passieren, dass sich vor Ihnen ein ganzes Meer von neuen Erkenntnissen und Erfahrungen öffnet.
Wobei es auf jeden Fall sinnvoll ist, einen Abschnitt aus der Heiligen Schrift zunächst als Text zu erfassen und zu verstehen.
Aber wie tauchen wir ein? Im Theologiestudium lernt man so etwas leider nicht. Da werden einem allerlei Methoden beigebracht, mit denen man biblische Texte eher seziert als erlebt. Wobei es auf jeden Fall sinnvoll ist, einen Abschnitt aus der Heiligen Schrift zunächst als Text zu erfassen und zu verstehen. Damit sollte man anfangen.
Wir stellen dazu einige Fragen: In welchem Zusammenhang steht dieser Text? Was kann ich herausfinden über den historischen Hintergrund? Hier können Bibelkommentare eine wichtige Hilfe sein. Wir fragen weiter: Wie ist der Text aufgebaut? Welche Abschnitte gibt es? Welche Personen kommen vor? Wie agieren sie miteinander? Welche wichtigen theologischen Begriffe tauchen auf? Was bedeuten die? Gibt es eine Zielaussage oder etwas, was dem Autor besonders wichtig zu sein scheint?
Mit solchen analytischen Fragen nähern wir uns dem Text von außen. Wir stecken sozusagen unsere Füße ins Wasser und betrachten die Oberfläche. Das ist wichtig, aber erst der Anfang.
Mit dem inneren Auge sehen
Denn jetzt geht es weiter. Wir steigen tiefer hinein und tauchen ein in das, was dort berichtet wird. Von entscheidender Bedeutung ist dabei unsere Vorstellungskraft, unsere Imagination. Gott hat uns Menschen mit der wunderbaren Gabe ausgestattet, uns Ereignisse, die wir lesen, vorstellen zu können.
Wir lesen einen Bericht, und vor unserem inneren Auge sehen wir etwas. Es steigen Bilder auf. Für die Beschäftigung mit biblischen Texten ist dieses Sehen mit dem inneren Auge ein Schlüssel. Mithilfe der Imagination begeben wir uns ins Innere der Bibel. Wir durchstoßen die Texthülle, wie wir die Wasseroberfläche durchstoßen und ins Meer eintauchen. Und jetzt können wir das Berichtete von innen betrachten.
Wir lesen zum Beispiel die Geschichte, wie Joseph von seinen Brüdern in die Zisterne geworfen wird (Genesis 37,12-36). Aber wir lesen nicht nur einen Text, sondern imaginieren, was dort beschrieben wird. Vor dem inneren Auge lassen wir Bilder aufsteigen. Wir sehen, wie die Brüder Joseph packen und ihm das bunte Gewand herunterreißen. Wir sehen die Wut der Brüder, das Entsetzen in Josephs Augen. Wir spüren den Aufprall auf dem feuchten Boden der Zisterne, riechen den modrigen Geruch. Wir hören seine verzweifelten Schreie und spüren seine Angst.
In den Text hineindenken
Je genauer wir uns bei der analytischen Annäherung mit dem Kontext, dem historischen Setting und den Schlüsselbegriffen beschäftigt haben, desto besser und angemessener kann sich unsere Vorstellung entwickeln. Wir denken uns also in das im Text Berichtete hinein und stellen uns die Vorgänge so plastisch und detailliert wie möglich vor. Auf diese Weise werden wir selbst Teil des Geschehens. Wir identifizieren uns mit den handelnden Personen und lassen zu, dass das, was sie erleben, unser Inneres berührt. So teilen wir ihre Angst und Freude, ihre Zweifel und ihr Staunen. Wir werden eins mit ihnen.
Eintauchen geschieht also durch Vorstellung oder, um es mit Fremdworten zu sagen, Immersion geschieht durch Imagination. Das gilt insbesondere für erzählerische Texte, die ja den größten Teil der Bibel ausmachen. Aber auch bei abstrakteren Texten, bei den Briefen, den Psalmen oder prophetischen Reden, geht es darum, mit den inneren Augen zu schauen.
Wir tauchen ein in die Gedanken von Paulus und versuchen, sie von innen her nachzudenken. Wir spüren den Pulsschlag der Propheten, wenn sie das Unrecht der Oberschicht gegenüber den Armen anprangern. Wir tauchen ein in die Bilder der Psalmen und sehen den Psalmisten, der in seinem Schmerz fast versinkt und seufzen mit ihm zu Gott. Und wir freuen uns an Gott, der uns Sonne und Schild ist und unter dessen Flügeln wir Schutz finden.
Gott ist der Grund des Meeres, auf den wir stoßen, wenn wir ganz tief hinabtauchen.
Das, was hier beschrieben ist, sind übrigens keine neuen Erkenntnisse. Seit Jahrhunderten wurde in geistlichen Gemeinschaften und von einzelnen Christinnen und Christen diese Form der Bibelbetrachtung praktiziert. Es ist die Übung der meditatio, der Schriftmeditation, in der man um einen Bibeltext kreist und immer tiefer in ihn eindringt. So begeben wir uns also hinein in die Heilige Schrift und tauchen tiefer und tiefer. Und dann kann noch etwas anderes geschehen.
Es kann passieren, dass wir auf Gott stoßen. Er steckt ja hinter all diesen biblischen Geschichten. Er ist es, der in seine Schöpfung hineinwirkt, der sich dem Volk Israel offenbart und mit ihm Geschichte schreibt, der dann in Jesus Mensch wird, um uns mit sich zu verbinden und durch die Gemeinde in der Kraft des Heiligen Geistes sein Reich baut. Gott ist der Grund des Meeres, auf den wir stoßen, wenn wir ganz tief hinabtauchen. Und er ist kein toter Grund, sondern lebendig und gegenwärtig.
Was wir vorher längst theoretisch gewusst haben, wird auf einmal brennende Einsicht.
Es kann passieren, dass wir beim Betrachten der Bibel etwas von ihm wahrnehmen, dass wir sein sanftes Wehen spüren, sein Raunen hören. Wir merken, wie Gott durch das biblische Wort leise in unser Leben hineinspricht. Paulus betet einmal für die Epheser, dass Gott die Augen ihres Herzens erleuchtet (Epheser 1,18). Genau das kann geschehen, wenn wir tief in einen biblischen Text eintauchen.
Aus dem meditativen Kreisen um die Bibel wird ein kontemplatives Schauen mit dem Herzen. Wir erfassen auf einmal mit tiefer Klarheit etwas von Gottes Wesen. Was wir vorher längst theoretisch gewusst haben, wird auf einmal brennende Einsicht. Oder wir können uns selbst plötzlich mit anderen Augen sehen. Oder wir bekommen eine Gewissheit, was in einer verworrenen Situation zu tun ist.
Ein Beispiel
Ich möchte ihnen ein Beispiel erzählen. Bei einer Predigtvorbereitung dachte ich über die Szene nach, als Mose vor dem brennenden Dornbusch steht und Gott ihn beruft (Exodus 3,1-10). Ich stellte mir Mose vor: ein Prinz mit bester Ausbildung, der ideale Voraussetzungen hatte, um politische Karriere zu machen und der dann durch fehlende Selbstbeherrschung alles verliert.
Seit Jahren lebt er in der Wüste und hat nichts Besseres zu tun, als Schafe zu hüten. Wie oft werden seine Gedanken zurück nach Ägypten gegangen sein! Wie oft wird er das „Hätte-hätte-Spiel“ gespielt haben! Und dann sieht er diesen Dornbusch, der brennt und doch nicht verbrennt und aus dem heraus Gott ihm eine neue Berufung schenkt.
Ich sah mein Leben mit kontemplativer Klarheit.
Als ich in diese Geschichte eintauchte, sah ich auf einmal, dass dieser Dornbusch wie ein Spiegel ist. In diesem Spiegel konnte Mose sein eigenes Leben betrachten. Er selbst war ja wie so ein Wüstenstrauch, alt, wertlos und völlig unbedeutend. Aber Gott steckt in ihm drin und brennt. Seine Energie ist es, die dieses Feuer in Gang hält.
In diesem Spiegel sah ich dann aber auch mich selber. Ich sah mein Leben mit kontemplativer Klarheit: nur ein Wüstenstrauch, einer von Millionen, mit dürrem Glauben und kleiner Kraft in trockenem Boden. Aber Gott wohnt in mir drin. Da ist sein Feuer, das brennt. Ich muss es nicht selbst in Gang halten.
Ich muss keinen starken Glauben oder große Gaben haben. Gott ist da und lässt sein Feuer in mir brennen. Und er kann mit mir und durch mich sein Reich bauen. Es war ein Klarheitsmoment, der mir da von Gott geschenkt wurde und der enorm ermutigend war.
Imagination braucht Zeit
Solche Momente können wir nicht machen. Es ist ein Geschenk, wenn wir in einen Bibeltext eintauchen und Gott uns darin begegnet. Wir haben es nicht in der Hand. Aber wir haben es in der Hand, ein Umfeld zu schaffen, wo dieses kontemplative Schauen geschehen kann. Wir brauchen dafür vor allem so etwas wie Muße: freie Zeit ohne Druck und Erfolgszwang.
Es braucht Zeit, einen biblischen Text zu erforschen, und es braucht Zeit, um unsere Fantasie spielen zu lassen, um eine Szene zu imaginieren. Es braucht auch Zeit, um unsere Seele für Gott zu öffnen und seine Signale wahrzunehmen. Es ist daher ratsamer, sich mit einem biblischen Text über einen längeren Zeitraum immer wieder zu beschäftigen als vielerlei Texte oberflächlich zu betrachten.
Die Bibel ist bunt und reich wie das Rote Meer.
Wichtig ist auch ein passender äußerer Rahmen. Ich selbst kann zum Beispiel am Schreibtisch überhaupt nicht meditieren. Da lenkt mich viel zu viel ab. Meistens gehe ich mit einem Bibeltext im Wald spazieren. Kürzere Abschnitte lerne ich auswendig, bei längeren nehme ich meine Bibel mit. Die Einsamkeit im Wald und die gleichmäßige Bewegung helfen mir, mich in den Text hineinzuversetzen und die Seele für Gottes Stimme zu öffnen.
Für andere Menschen ist es vielleicht ein schöner Sessel im Wohnzimmer, die Hängematte im Garten, eine Gebetsecke oder auch die Badewanne, wo sie zur Ruhe kommen und ihre Imagination fließen kann. Die Bibel ist bunt und reich wie das Rote Meer. Ich wünsche Ihnen viel Freude beim Eintauchen und dass Sie auf ihrem Grund Gott selbst entdecken!
Steffen Tiemann (61) arbeitet als Pfarrer der Auferstehungsgemeinde in Bonn.
Dieser Artikel ist im Kirchenmagazin 3E erschienen. 3E ist Teil des SCM Bundes-Verlags, zu dem auch Jesus.de gehört.
Da die Osterzeit mit ihren Schriftlesungen nun praktisch vorbei ist, werde ich auch wieder die Bibel zur Hand nehmen. Mein großes Vorhaben für 2023 ist, die mir noch unbekannten Stellen einmal vollständig durchzulesen. Gotteserfahrungen (oder was ich dafür halte) beim Lesen der Bibel hatte ich schon zweimal beim Lesen der Offenbarung des Johannes. Ich habe plötzlich so totale Liebe gespürt. Irgendwie verrückt, dass dies ausgerechnet bei diesem Abschnitt so ist, oder? Ein spannendes Buch ist die Bibel auf jeden Fall.