Wie kann Gott das zulassen? Warum ich? Viele Fragen bleiben in der Seelsorge unbeantwortet. Laut der ehemaligen Klinikseelsorgerin Christiane Bindseil gibt es jedoch kostbare Kraftquellen, um mit diesen Fragen weiterzuleben.
Von Christiane Bindseil
Kluge Menschen haben sich die Mühe gemacht, nachzuzählen: Wie viele Fragen hat Jesus gestellt, wie viele hat er beantwortet? Und sie kommen zu dem Schluss, dass Jesus 100-mal so viele Fragen gestellt hat, wie er selbst direkt beantwortet hat. Das Verhältnis liegt bei 307:3. Antworten schließen ab, Fragen schließen auf, so könnte die Schlussfolgerung lauten; und Jesu Anliegen war und ist es, unsere Herzen aufzuschließen für die Beziehung zu Gott, für ein Leben im Glauben und in der Nachfolge.
Nun sind von den 307 Fragen, die Jesus stellte, ein großer Teil rhetorischer Natur oder gar in Fragen gekleidete Antworten. „Wo ist ein Vater, der seinem Sohn, der um einen Fisch bittet, eine Schlange gibt?“ (Lk 11,11). Oder: „Was würde es dem Menschen helfen, wenn er die ganze Welt gewinnen würde, und doch Schaden nähme an seiner Seele?“ (Mk 8,36). Die Antwort ist so klar, dass es ihrer nicht bedarf. Und die Frage, wer der Nächste dem gewesen sei, der unter die Räuber gefallen ist (Lk 10,36), muss nur deshalb beantwortet werden, damit der Hörer das Selbstverständliche einmal laut ausgesprochen hat.
Der Zählung nach wurden Jesus selbst in den Evangelien insgesamt 187 Fragen gestellt, nur 1,6 Prozent davon hat er direkt beantwortet. Meistens erwidert er mit einer Gegenfrage. Dieser Statistik komme ich in meiner seelsorgerlichen Gesprächspraxis als Gemeindepfarrerin oder als Klinikseelsorgerin vermutlich ziemlich nahe. Selten kann und will ich auf Fragen direkt antworten. Aber ich kann helfen, mit weiteren Fragen das Themenfeld zu umkreisen und zu erkunden. Und vielleicht finden sich statt einer Antwort kostbare Kraftquellen, um mit der Frage weiter zu leben. Oder der Mut, die Frage sein zu lassen und in
eine ganz andere Richtung abzubiegen.
Wenn ich gefragt werde
Ich erinnere mich an ein sehr intensives Gespräch mit einem jungen Mann, der völlig fassungslos am Bett seines Vaters stand, der sich bei einem Fahrradunfall schwer verletzt hatte. Es zeichnete sich ab, dass der Vater, wenn überhaupt, aufgrund massiver Hirnblutungen nur mit schwersten Behinderungen überleben würde. Der Sohn hatte mich als Klinikseelsorgerin gerufen, weil sein Glauben und alles, was er bisher über Gott gedacht hatte, angesichts dieser Situation zusammenzusacken drohte. Wie kann Gott das zulassen? Wie kann ich weiter glauben? Immer und immer wieder stammelte er diese Fragen. Ich denke nicht, dass er sich Hoffnung auf eine konkrete Antwort machte. Jedenfalls hätte ich sie ihm nicht geben können, natürlich nicht. Aber im Laufe unserer Gespräche gewann der junge Mann den Mut,
diese brennenden Fragen mit ins Gebet zu nehmen. Wenn Jesus selbst gestorben ist mit der schreienden Frage auf den Lippen „Mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Mk 15,34) – dann können wir doch mit dieser Frage nicht mehr ins Bodenlose stürzen.
Wie kann Gott das zulassen? Die Frage wird mir als Seelsorgerin immer wieder gestellt. Am Krankenbett, angesichts eines frühen Todes, auch angesichts von kollektiven Katastrophen. Es ist eine Frage, auf die ich nicht direkt antworten kann und auf die selten wirklich eine direkte Antwort erwartet wird. Anders als bei dem eben beschriebenen jungen Mann geht es bei der Frage oft gar nicht um den eigenen Glauben und um die eigene Gottesbeziehung. Wie kann Gott das zulassen? So fragen auch Menschen, für die der Glauben keine besondere Rolle spielt. Diese Frage ist gar nicht unbedingt eine theologische Frage oder eine Glaubensfrage. Meist ist sie Ausdruck der Fassungslosigkeit, der totalen Hilflosigkeit. Das kann ich nur mit aushalten – in aller Ehrlichkeit, dass weder ich noch sonst irgendein Mensch eine befriedigende Antwort wird geben können. Fragen, so sehr sie schmerzen mögen, so wenig sie manchmal beantwortet werden können – sie bewahren vor dem Verstummen. Indem ich die Frage ernst nehme und in ihrer Nichtbeantwortbarkeit aushalte, halte ich den Raum offen, weiter nach Sprache zu suchen, weiter um Worte zu ringen, um das nicht Fassbare auszudrücken; um nicht zu erstarren. Vielleicht kann ich ein wenig dazu beitragen, auch mit schmerzhaften, nicht zu beantwortenden Fragen im Augenblick der Krise weiterzuleben. Vielleicht kann die Frage mit der Zeit neue und kostbare Glaubensperspektiven eröffnen.
In der eben beschriebenen Situation wurde ich um Seelsorgegespräche gebeten – initial in einer akuten Krise, dann verabredet und geplant. In dem Kontext wird die Auftragsklärung dann wichtig. Welche Frage bringt der Seelsorge Suchende mit? Was ist, zumindest im Augenblick, das wichtigste Thema?
Schon die genaue Auftragsklärung kann hilfreich und heilsam sein. Sie geschieht in einem Wechselspiel von offenen Fragen, von Reformulierungen und Nachfragen, bis eine befriedigende Formulierung gefunden ist. Sie gibt erstmal die Richtung vor, kann und wird sich aber im Laufe der seelsorglichen Begleitung natürlich verändern.
Wenn ich nicht gefragt werde
Allerdings sind für mich als Klinikseelsorgerin wie als Gemeindepfarrerin die Gesprächssituationen, die mein Gegenüber nicht angefragt hat, die häufigeren. Ich gehe in der Klinik oft über die Station und ungefragt in die Krankenzimmer, stelle mich vor und biete mich als Gesprächspartnerin an. Ich klingele in meiner Gemeinde bei den Geburtstagsjubilaren ungefragt an der Tür. Mal rechnet man mit dem Besuch der Pfarrerin, oft sind die Leute überrascht. Manchmal passt es zeitlich nicht, aber selten erlebe ich, dass mein Besuch als solcher nicht gewünscht wäre. Oft werde ich reingebeten, oder ich bekomme einen Platz neben dem Krankenbett angeboten. Dann weiß ich über meinen Gesprächspartner nur, was ich in diesem Moment wahrnehme. Ich weiß nicht, welche Themen im Raum stehen, was er oder sie gerade auf dem Herzen hat und gerne gefragt werden möchte. In der Regel vermeide ich Fragen in dieser Situation. Zwar ist mein Gesprächsangebot angenommen worden, aber mein Gegenüber entscheidet, was und wie viel er bzw. sie erzählen möchte. Fragen können drängen, Dinge zu erzählen. Nicht alle haben den Mut, Fragen auszuweichen, die sie nicht beantworten möchten. „Haben Sie Kinder?“ Das habe ich bei einem meiner ersten Geburtstagsbesuche, die ich als frisch gebackene Vikarin gemacht habe, im munteren Plauderton die Jubilarin gefragt, die mir hocherfreut die Tür geöffnet und mir einen Kaffee angeboten hatte. Und ich merkte sofort, dass ich das besser nicht hätte tun sollen. Ein schweres, dunkles Schweigen breitete sich aus. Das leise gemurmelte „nicht mehr“ versuchte die Dame, in Fragen nach meinem Woher und Wohin zu ertränken. Aber das schwere Dunkel blieb und begleitete mich bis nach draußen. Seitdem vermeide ich Fragen. Jedenfalls so lange, bis ich, ausgesprochen oder unausgesprochen, die Erlaubnis bekomme, das Gespräch zu steuern. Dafür braucht es viel Vertrauen auf beiden Seiten. Und was wichtig ist – zum Beispiel wie es sich mit Kindern verhält – erzählen die Menschen früher oder später auch ohne Frage. Bei von mir selbst initiierten Gespräch beginne ich gern mit dem, was vor Augen ist. „Was für ein wunderbarer Blumenstrauß“. „Ich sehe, sie haben ganz viele Fotos aufgestellt.“ Da kann man drauf eingehen, wer den Blumenstrauß gebracht hat und warum der eine Sohn auf dem Foto fehlt – man muss es aber nicht.
Ich mache gute Erfahrungen damit, eigene Unsicherheiten offen anzusprechen, nicht als Frage, sondern als mein Eindruck. „Ich habe das Gefühl, Sie sind sich unsicher, ob Sie mir mehr davon erzählen wollen.“ „Ich bin mir nicht sicher, ob Sie möchten, dass ich an der Stelle weiterfrage.“ Dann haben meine Gesprächspartner die Freiheit, meine Gefühle komisch zu finden, oder sie können ihre eigene Unsicherheit ernst nehmen und selbst entscheiden, wie sie damit umgehen.
„Manchmal spüre ich förmlich das Ringen, die schmerzhaften Aspekte der Beziehung angemessen zu
Christiane Bindseil
formulieren.“
Wenn erstmal nur der Rahmen klar ist
Eine Gesprächssituation, um die ich zwar ausdrücklich gebeten werde, die aber oft mit großen Unsicherheiten bei meinem Gegenüber verbunden ist, ist das Trauergespräch. Der Ehepartner, Vater oder Mutter oder ein anderer naher Angehöriger sind verstorben, die Pfarrerin kommt, um die Trauerfeier vorzubereiten. Was wird sie wissen wollen? Wird sie uns ausfragen? Was wollen wir ihr erzählen und was nicht? Das, was wir miteinander besprechen, ist absolut vertraulich, so mache ich zu Beginn des Gespräches oft deutlich; insbesondere dann, wenn ich eine große Zurückhaltung spüre. Es wird bei der Trauerfeier nur das öffentlich gesagt, was von den Angehörigen autorisiert ist. Manchmal spüre ich förmlich das Ringen, die schmerzhaften Aspekte der Beziehung angemessen zu formulieren. Eigentlich will man ehrlich sein, aber über Verstorbene darf man ja auch nicht schlecht reden. Es ist nicht meine Rolle, Dinge offen zu legen, die Menschen intuitiv schützen möchten. Vielmehr möchte ich helfen, das Leben, sei es das eigene, sei es das eines geliebten Verstorbenen, ein wenig mehr unter Gottes liebevollem Blick sehen zu lernen. Das Leben mit Gottes Augen sehen lernen – dann erkenne ich die Einzigartigkeit und die ganz besondere Würde genau dieses Lebens. Ich erkenne auch die Schattenseiten, aber ich muss sie nicht fürchten. „Was war Ihr Vater denn für ein Mensch?“ Diese Frage führt nur selten zu bereitwilligem Erzählen. Erst recht nicht, wenn mehrere nahestehende Menschen anwesend sind, die diesen Vater alle unterschiedlich erlebt haben.
Sie erfordert eine Urteilsbildung und Festschreibung, die anmaßend wirken kann. In Gottes Blick sind wir so viel mehr als das, was vor Augen liegt. Auch viel mehr als das, was wir in Worte fassen können. Deswegen frage ich gerne nach Bildern oder Symbolen, die mehr als das Sichtbare deutlich machen und mit denen mehr ausgedrückt werden kann als mit Sprache. Bilder und Symbole eröffnen Deutungsspielräume und laden ein zu neuen Perspektiven: Welche Jahreszeit hat am besten zu Ihrem Vater gepasst? Wenn Ihre Familie ein Haus wäre, welches Zimmer wäre Ihre Mutter gewesen? Wenn Sie an den Verstorbenen denken, welche Farbe kommt Ihnen in den Sinn? Warum? Über die Farbe können Angehörige unverfänglich miteinander diskutieren – anders als darüber, was der Vater denn nun für ein Mensch war. Eine breite Palette von Lebensdeutungen kann sich dabei erschließen. Auch das natürlich in den Grenzen unserer Fantasie, aber doch Raum für Gottes Blick ermöglichend.
Die Alltagsfrage
Im Alltagsgebrauch gibt es Fragen, auf die möchten wir gar keine Antwort. Die am häufigsten gestellte Frage in diesem Zusammenhang ist sicher: „Wie geht es Ihnen?“ – millionenfach gestellt bei zufälligen und bei geplanten Begegnungen. Die Frage wird so oft gestellt, dass der Gefragte meistens beim Antworten über ihren Inhalt nicht nachdenkt. Und wenn er es doch tut und ernsthaft antworten möchte, kann das für den Fragenden ganz unpassend sein. Ich selber stelle diese Frage nur noch, wenn ich sicher bin: Ich habe Zeit für eine echte Antwort, nicht nur für ein nichtssagendes „Danke, gut“. Also lieber nicht zwischen Tür und Angel oder an der Supermarktkasse, wenn mein quengelndes Kind an mir zerrt und wenn ich das Fass, was ich möglicherweise aufmache, von der belastenden Pflege des Ehemanns bis zur Sorge über die schwerkranke Tochter, gar nicht schließen kann. Ich stelle die Frage nur noch, wenn ich sie ernst meine und es wirklich wissen möchte. Dann spüren das die Gefragten und sind dankbar, wahrgenommen und ernstgenommen zu werden in ihrer Vorfindlichkeit. Vielleicht können sie dann auch etwas spüren von Gottes liebevollem, sorgendem Blick auf ihr Leben; von diesem Gott, der doch unser Leben so angelegt hat, dass es „sehr gut“ sein möge (Gen 1,31), vor jeder und ohne jede Frage.
Dr. theol. Christiane Bindseil, geboren 1973, war viele Jahre Klinikseelsorgerin in Heidelberg. Sie ist
jetzt Pfarrerin der ev. Bonhoeffergemeinde in Heidelberg-Kirchheim.
Dieser Artikel ist in der Zeitschrift P&S, Magazin für Psychotherapie und Seelsorge erschienen. P&S ist Teil des SCM Bundes-Verlags, zu dem auch Jesus.de gehört.