Das vierte Buch der Psalmen ist eine Antwort auf die Krise der Juden im Exil. Die Gläubigen werden daran erinnert, dass Gott ihre Zuflucht und Stärke ist.
Von Julius Steinberg
Was, wenn alles zusammenbricht? Wenn das, worauf wir unser Leben gebaut haben, auf einmal infrage steht? Die Israeliten im babylonischen Exil hatten alles verloren, was ihnen heilig war: das von Gott geschenkte Land; den Tempel, wo sie Gott begegneten; den von Gott eingesetzten König. War das das Ende der Geschichte Gottes mit seinem Volk? Im ersten Teil hatte ich beschrieben, dass der Psalter in fünf sogenannte „Bücher“ eingeteilt ist. Die ersten drei Psalmbücher sind von Psalmen eingerahmt, die die Geschichte des Königtums nacherzählen, und zwar von der Einsetzung Davids (Psalm 2) über die Weitergabe an den Nachfolger (Psalm 72) bis hin zum Untergang des Königtums im babylonischen Exil (Psalm 89). Wie es danach weitergeht, beschreibt das vierte Psalmbuch, also die Psalmen 90 bis 106.
Das vierte Psalmbuch
Psalm 90 beginnt mit den Worten: „Ein Gebet des Mose“. Der Satz erinnert daran, dass Gottes Weg mit seinem Volk ja nicht erst mit König David begonnen hat. Gott war schon lange vorher da, und auch lange nach David wird er noch immer da sein. Der Ewigkeit Gottes gegenüber steht allerdings die Vergänglichkeit des Menschen. Hier sagt der Psalm ganz radikal: Wir sind wie Gras, das am Morgen aufsprosst und am selben Abend schon verwelkt. Weil alles Irdische vergeht, ist wahre Zuflucht nur bei Gott zu finden. Dies unterstreicht Psalm 91, der mit den Worten beginnt: „Wer unter dem Schirm des Höchsten sitzt …“ Psalm 92 führt diesen Gedanken weiter. Wer seine Zuflucht bei Gott sucht, den wird Gott segnen. Die Gottlosen mögen wie Gras vertrocknen, der Gottesfürchtige aber wird wie eine majestätische Palme oder Zeder emporwachsen. Die Psalmen 90-92 zeigen also auf, dass wir als vergängliche Menschen beim ewigen Gott Zuflucht finden können.
Heilig und gnädig
In den Psalmen 93 bis 100 wechselt nun der Blick von der Rolle des Menschen weg hin zu Gott selbst. Gottes Eigenschaften werden in diesen Psalmen beschrieben – oder besser: gefeiert. Gott ist mächtig, er ist gerecht, er ist Rächer und Richter, er ist heilig, er ist gnädig. Und vor allem wird in diesen Psalmen immer wieder eines gesagt: Gott ist König. Ob nun ein Davidsohn in Israel regiert oder nicht – Gott ist König; ob nun die Assyrer oder die Babylonier zu herrschen scheinen – Gott ist König. Und auch über unsere Lebenskrisen dürfen wir den Satz schreiben: „Gott ist König.“ Die Psalmen 101 bis 103 behandeln dann die Erneuerung des Bundes zwischen Gott und seinem Volk. Mit Worten Davids erneuern wir in Psalm 101 unsere Hingabe an Gott; mit Worten Davids loben wir in Psalm 103 den barmherzigen Gott, „der alle deine Sünden vergibt und heilt alle deine Gebrechen.“
Der Herr der Geschichte
Die Psalmen 104-106 schließlich fassen noch einmal die Geschichte Israels zusammen, und zwar von der Erschaffung der Welt bis zum babylonischen Exil (1. Mose bis 2. Könige). Gott ist der Herr über Schöpfung und Geschichte. Er hat sein Volk immer wunderbar geführt. Das Psalmbuch endet mit einem Schuldbekenntnis und mit der Bitte um Errettung aus dem Exil.
Dies ist Teil 2 einer dreiteiligen Reihe über die Psalmen. Morgen folgt der abschließende Teil.
Hier geht es zum Teil 1: Ist die Reihenfolge der Psalmen ein Zufall?
Julius Steinberg hat Theologie in Gießen und in Leuven studiert und war Prediger einer Landeskirchlichen Gemeinschaft. Seit 2007 ist er Professor für Altes Testament an der Theologischen Hochschule Ewersbach.
Dieser Artikel ist in der Zeitschrift Faszination Bibel erschienen. Faszination Bibel wird vom SCM Bundes-Verlag herausgegeben, zu dem auch Jesus.de gehört.
Sehr interessant, was alles hinter den Psalmen steht. Das liest man so auf Anhieb nicht alles raus.