Neutestamentler Armin Baum erklärt, warum Paulus heute dagegen wäre, dass Christinnen Kopftücher tragen.
Von Dr. Armin D. Baum
Viele Texte der Bibel sprechen uns unmittelbar an. Der Mensch ist in seinem Kern über die Jahrtausende derselbe geblieben und die Grundfragen der Menschheit haben sich nicht verändert. Andere Berichte oder Gebote aber kommen uns fremd vor. Sie klingen wie aus einer anderen Welt. Wie können wir diese Texte richtig verstehen, ohne uns nur von unserem Befremden leiten zu lassen? In der Mitte des ersten Jahrhunderts schrieb der Apostel Paulus den Christen und Christinnen in Korinth: „Jede Ehefrau, die mit unbedecktem Kopf betet oder prophetisch redet, entehrt ihr Haupt. Es ist dann genauso, als wenn sie kahl geschoren wäre. Eine Ehefrau, die ihren Kopf nicht bedeckt, kann sich auch gleich das Haar abschneiden lassen. Weil es aber für eine Frau entehrend ist, sich das Haar abschneiden oder sich kahl scheren zu lassen, soll sie auch ihren Kopf bedecken“ (1. Korinther 11,5-6).
In welcher Weise sollten wir uns heute in unserer modernen Kultur noch an dieser Anweisung orientieren? Um diese Frage zu beantworten, ist es unerlässlich zu erkunden, was es mit dem Kopftuch in der antiken Welt der ersten Christen auf sich hatte. Was hat Paulus vor zweitausend Jahren mit diesen Sätzen bezweckt? Auf dieser Grundlage kann dann eine „Kontextualisierung“ – der Transfer einer antiken Anweisung in unsere gegenwärtige Kultur – gelingen.
Was bedeutete die weibliche Kopfbedeckung in der Antike?
Um den kulturellen Hintergrund von 1. Korinther 11,5-6 zu verstehen, muss man mindestens bis ins zweite Jahrtausend vor Christus zurückgehen. In den mittelassyrischen Gesetzen aus der Regierungszeit des assyrischen Königs Tiglatpileser I. (1115-1076 v. Chr.) heißt es: „Wenn ein Bürger seine Eingeschlossene (d. h. seine Konkubine, mit der er nicht verheiratet ist) verhüllen will, so soll er fünf oder sechs seiner Genossen Platz nehmen lassen, sie in ihrer Gegenwart verhüllen und sagen: ‚Sie ist meine Gattin‘. Dann ist sie (tatsächlich) seine Gattin.“ Bei der Eheschließung wurde der Kopf der Ehefrau demnach mit einem Tuch bedeckt. Das bedeckte Haupt war das sichtbare Kennzeichen der Ehefrau. Diese Sitte hat sich über Jahrhunderte erhalten. Sie war auch in neutestamentlicher Zeit sehr verbreitet, als Paulus seinen ersten Korintherbrief schrieb. Letztlich ist die antike Verhüllung der Ehefrau sogar ein Vorläufer unseres modernen Brautschleiers, den die Braut bei der kirchlichen Trauung trägt. Seit Jahrtausenden kommen Frauen bei der Eheschließung im wahrsten Sinne des Wortes „unter die Haube“. Die Kopfbedeckung symbolisiert in ihren zahllosen Spielarten immer dasselbe, nämlich den neuen Status der Ehefrau.
Wann wurde die weibliche Kopfbedeckung getragen?
In unserer modernen Kultur trägt die Braut ihren Brautschleier allerdings nur am Tag der Hochzeit. Danach bewahrt sie ihn (zusammen mit ihrem Hochzeitskleid) in einem Schrank auf, um ihn später vielleicht einmal ihren Kindern und Enkeln zu zeigen. Keine Ehefrau ist verpflichtet, ihren Kopf nach der Hochzeit mit einem Schleier oder Kopftuch zu bedecken. Im alten Assyrien (im Gebiet des heutigen Irak) verhielt es sich ganz anders. Die frisch vermählte Ehefrau zog ihre Kopfbedeckung nach ihrer Eheschließung immer über, wenn sie ihr Privathaus verließ und den öffentlichen Bereich betrat. Zu Hause, im privaten Bereich, vor ihren Verwandten, brauchte sie ihren Kopf nicht zu bedecken. Aber in der Öffentlichkeit sollte sie an ihrer Kopfbedeckung für jedermann als Ehefrau erkennbar sein. Dagegen war es Prostituierten in Assyrien strengstens verboten, in der Öffentlichkeit ihren Kopf zu bedecken. Übertretungen dieses Verbots wurden brutal geahndet. Und wer es versäumte, solche Vergehen anzuzeigen, wurde ebenfalls streng bestraft. Ähnliche Regeln galten zur Zeit des Neuen Testaments, sowohl im griechisch-römischen als auch im jüdischen Kulturkreis. Es war selbstverständlich, dass verheiratete Frauen ihren Kopf bedeckten, wenn sie zum Einkaufen, zu einem Fest oder zu einer religiösen Veranstaltung gingen. Nur in ihren Privathäusern ließen sie ihren Kopf unbedeckt.
Die Bedeckung des Kopfes konnte in der Antike ganz unterschiedlich ausgeführt werden. Man kannte auch den Gesichtsschleier, der dazu diente, das weibliche Gesicht männlichen Blicken zu entziehen. Viel verbreiteter war es jedoch, nur den Kopf zu bedecken. Dies konnten römische Frauen mit minimalem Aufwand tun, indem sie die Palla, ein Übergewand, das sie zum Ausgehen trugen, von hinten über den Kopf zogen. Eine kurze Handbewegung reichte, um beim Wechsel vom privaten in den öffentlichen Raum die gewünschte Symbolik herzustellen. Dies lässt sich an zahllosen antiken Abbildungen ablesen.
Was bedeutete das öffentliche Ablegen der Kopfbedeckung?
Was es bedeutete, wenn eine Frau in der Öffentlichkeit einen unbedeckten Kopf hatte, kommt in einer Bemerkung Philos von Alexandrien zum Ausdruck. Dieser jüdische Zeitgenosse des Apostels Paulus entnahm einer Gesetzesbestimmung in 4. Mose 5,18, dass der jüdische Priester einer Frau, die er des Ehebruchs verdächtigte, ihre Kopfbedeckung herunterziehen sollte. Die weibliche Kopfbedeckung bezeichnete Philo in diesem Zusammenhang als „das Symbol der Scham (oder des Anstands), das die völlig unbescholtenen Frauen zu tragen pflegen“. Wenn einer Ehefrau in der Öffentlichkeit die Kopfbedeckung abgenommen wurde, bedeutete dies, dass ihre eheliche Treue infrage stand. Und wenn eine Ehefrau ihren Kopf freiwillig unbedeckt ließ oder enthüllte, konnte dies als Signal dafür verstanden werden, dass sie offen war für außereheliche Abenteuer.
Wenn eine römische oder jüdische Ehefrau sich nicht an die Regel hielt, dass sie in der Öffentlichkeit ihren Kopf zu bedecken hatte, konnte dies ernste Konsequenzen haben. Von Gaius Sulpicius Gallus, einem römischen Konsul des Jahres 166 v. Chr., heißt es: Er „entließ seine Ehefrau, da er sie mit unbedecktem Haupt auf den Märkten erkannt hatte.“ Auch im antiken Judentum zählte das Ausgehen mit unbedecktem Haupt zu den groben Verstößen gegen die jüdische Sitte.
Warum verzichteten die Christinnen in Korinth auf die Kopfbedeckung?
Die Worte des Paulus in 1. Korinther 11,5-6 setzen voraus, dass in der christlichen Gemeinde von Korinth Frauen mit unbedecktem Kopf beteten und prophetisch redeten. Offenbar waren sie der Ansicht, dass das Evangelium sie von der Pflicht zur Kopfbedeckung befreit. Vielleicht beriefen sie sich dabei auf Prinzipien wie das in Galater 3,27-28: Unter den getauften Christen zählt der Unterschied zwischen Mann und Frau nicht mehr. Genaueres über die Beweggründe der korinthischen Frauen weiß man nichts. Wahrscheinlich fühlten sie sich im Namen der christlichen Freiheit berechtigt, sich über eine Verhaltensregel ihrer Zeit hinwegzusetzen.
Mit welchen Argumenten plädierte Paulus für die Kopfbedeckung?
Wie seine Stellungnahme zeigt, hatte Paulus nichts dagegen einzuwenden, dass Christinnen sich mit unterschiedlichen Wortbeiträgen an gottesdienstlichen Versammlungen beteiligten. Ihre neue Kleiderordnung konnte er aber nicht akzeptieren. Sein Einwand lautete, dass auch christliche Frauen die Signale beachten müssen, die sie durch ihre Kleidung aussenden. Das demonstrierte Paulus anhand einer noch radikaleren Maßnahme: Keine antike Christin würde sich freiwillig die Haare kurz schneiden oder den Kopf kahl rasieren lassen. Denn in dieser Aufmachung wäre sie von jedermann als Ehebrecherin oder Hure betrachtet worden. Genauso wenig sollte eine Frau in der Öffentlichkeit auf ihre Kopfbedeckung verzichten. Denn ein unbedeckter Kopf bedeutete: Ich fühle mich nicht zur ehelichen Treue gegenüber meinem Ehemann verpflichtet. Paulus behauptete nicht, dass die Korintherinnen das tatsächlich meinten – aber sie erweckten diesen Eindruck, und schon das Aussenden solcher Botschaften lehnte er ab. Dass die frühen Christinnen sich an diese Anweisung gehalten haben, kann man an den antiken Katakombenmalereien ablesen, auf denen Frauen, die mit erhobenen Händen beten, regelmäßig mit einer Kopfbedeckung dargestellt werden.
Welche exegetischen Missverständnisse sollte man vermeiden?
Heute ist es in Teilen der Brüderbewegung und in manchen mennonitischen Gemeinden vorgeschrieben oder üblich, dass weibliche Gottesdienstbesucher ein Kopftuch tragen. Die betroffenen Frauen sagen: „Ich trage das Kopftuch immer dann, wenn gebetet wird: beim Brotbrechen, im Hauskreis und bei meiner Stillen Zeit.“ Oder: „Ich bedecke überall dort mein Haupt, wo ich mit gläubigen Christen zusammen bin.“ Andererseits heißt es: „Wenn ich unterwegs in der Stadt bin und ein Stoßgebet spreche, trage ich es allerdings nicht. Das wäre ein ständiges Auf- und Absetzen“ (idea spektrum 43/2003, 18-19). Eine solche Praxis verfolgt das Ziel, die Anweisung des Apostels Paulus ernst zu nehmen und zu befolgen und ist insofern aller Ehren wert.
Sie wird dem neutestamentlichen Bibeltext aber nur teilweise gerecht. Denn im Rahmen seiner Kultur kann die Anweisung des Paulus nur bedeutet haben, dass Christinnen ihren Kopf in der Öffentlichkeit immer bedecken sollten: nicht nur bei den Zusammenkünften der christlichen Hausgemeinden, sondern erst recht auf der Straße und dem Marktplatz, wo die Ehefrauen ebenfalls mit nicht verwandten Männern zusammentrafen. In der eigenen Familie oder im eigenen Zimmer war dagegen kein Kopftuch erforderlich. Eine heutige Christin, die ihren Kopf auch in ihrer privaten Gebetszeit bedeckt, geht daher über die von Paulus gegebene Anweisung hinaus. Wenn sie ihren Kopf nur in kirchlichen Räumen bedeckt, bleibt sie dagegen hinter der Anweisung des Apostels zurück. Eine Frau, die die Anweisung in 1. Korinther 11,5-6 so befolgen will, wie Paulus sie gemeint hat, müsste nicht nur im Gottesdienst oder im Hauskreis ein Kopftuch tragen, sondern immer dann, wenn sie ihre private Wohnung verlässt.
Das andere Extrem besteht darin, die Aussage des Paulus in 1. Korinther 11,5-6 insgesamt als überholt zu verwerfen und jede aktuelle Relevanz zu bestreiten. Besser ist es, einen Mittelweg einzuschlagen und auf den Text über die weibliche Kopfbedeckung eine Auslegungsmethode anzuwenden, die man als Kontextualisierung bezeichnet. Bei der Kontextualisierung unterscheidet man zwischen dem zeitlosen und kulturübergreifend gültigen Kern einer biblischen Aussage und ihrer zeitbedingten Form. Entscheidend ist, welches ethische Grundprinzip Paulus angewandt und welche Intention er damit verfolgt hat. Diese Kernaussage überträgt man aus ihrem antiken kulturellen Kontext in unsere moderne Kultur.
In 1. Korinther 11,5-6 ist das ethische Grundprinzip, mit dem Paulus arbeitete, die Unverletzlichkeit der (christlichen) Ehe. Seine Intention war es, auch nur den Anschein zu vermeiden, bei den Christen würde die Ehe relativiert. Eine kulturelle Form, in der dieses Prinzip in der Antike ausgedrückt wurde, war die weibliche Kopfbedeckung. In den vergangenen Jahrhunderten hat sich die Bedeutung des Kopftuchs jedoch gewandelt. Sieht man heute eine Frau mit Kopfbedeckung, liegt der Schluss nahe, dass es sich um eine traditionsbewusste Muslimin handelt.
Was hat Paulus uns heute noch zu sagen?
Heutzutage kommt die symbolische Bedeutung, die das antike Kopftuch hatte – in sehr abgeschwächter Form – durch den Ehering zum Ausdruck. Er signalisiert, dass eine Frau (oder ein Mann) verheiratet ist. Das Ablegen des Eherings kann unter Umständen als Hinweis darauf verstanden werden, dass eine Ehe gefährdet ist. Paulus hätte sicher wie in 1. Korinther 11,5-6 Einspruch erhoben, falls eine moderne Christin, die einen Gottesdienst moderiert, am Anfang demonstrativ ihren Ehering abstreift.
Wirklichkeitsnäher ist natürlich der Fall, dass ein Ehemann, bevor er auf Geschäftsreise geht, seinen Ehering ablegt, um keine Frauenbekanntschaften abzuschrecken. Diesen Mann hätte Paulus nicht nur mit dem Vorwurf konfrontiert, dass er falsche Signale aussendet, sondern ihn massiv vor außerehelichen Affären gewarnt. Das ethische Prinzip, das Paulus in 1. Korinther 11,5-6 mit aller Kraft verteidigt hat, bleibt zeitlos gültig und ist heute mindestens so wichtig wie vor zweitausend Jahren: Christen müssen in aller Eindeutigkeit für die Unverletzlichkeit der Ehe einstehen. Aber die Formen und Zeichen, mit denen sie dies tun, wandeln sich.
Würden wir den Apostel ins 21. Jahrhundert beamen und fragen, ob er findet, dass das weibliche Kopftuch ein geeignetes Mittel ist, um sein Anliegen zu transportieren – er würde bestimmt die Hände über dem Kopf zusammenschlagen und uns mit einem „auf keinen Fall!“ auffordern, unsere unaufgebbaren christlichen Grundüberzeugungen nicht in einer überholten Zeichensprache, sondern kultur- und zeitgemäß zu vermitteln. Außerdem würde Paulus uns wohl daran erinnern, dass wir es so ja ganz zu Recht auch mit anderen neutestamentlichen Anweisungen halten: einander mit dem „heiligen Kuss“ zu grüßen (1. Korinther 16,20 und öfter.), auf aufwendige Frisuren, teure Kleider und wertvollen Schmuck zu verzichten (1. Petrus 3,3 u. ö.) oder beim Beten die Hände zu erheben (1. Timotheus 2,8). In allen diesen Fällen haben sich die Bedingungen heute verändert. Die kulturellen Formen passen nicht mehr und müssen auch nicht um jeden Preis passend gemacht werden. Die Kontextualisierung hilft in diesen Fällen, den Sinn einer biblischen Anweisung auch unter veränderten Bedingungen, wenn die kulturelle Form nicht mehr passt, zu verstehen und zu befolgen.
Dr. Armin D. Baum ist Theologe und Professor für Neues Testament an der Freien Theologischen Hochschule Gießen

Dieser Artikel ist in der Zeitschrift Faszination Bibel erschienen. Faszination Bibel wird vom SCM Bundes-Verlag herausgegeben, zu dem auch Jesus.de gehört.