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Ich bete an die Macht der Liebe

Dieses Lied von Gerhard Tersteegen erklingt hin und wieder bei Hochzeiten. Dabei ist es ein Beerdigungslied.

  1. Ich bete an die Macht der Liebe,
    Die sich in Jesu offenbart;
    Ich geb‘ mich hin dem freien Triebe,
    Wodurch ich Wurm geliebet ward;
    Ich will, anstatt an mich zu denken,
    Ins Meer der Liebe mich versenken.
  2. Für Dich sei ganz mein Herz und Leben,
    Mein süßer Gott, und all mein Gut!
    Für Dich hast Du mir’s nur gegeben;
    In Dir es nur und selig ruht.
    Hersteller meines schweren Falles,
    Für Dich sei ewig Herz und alles!
  3. Ich liebt und lebte recht im Zwange,
    Wie ich mir lebte ohne Dich;
    Ich wollte Dich nicht, ach so lange,
    Doch liebest Du und suchtest mich,
    Mich böses Kind aus bösem Samen,
    Im hohen, holden Jesusnamen.
  4. Des Vaterherzens tiefste Triebe
    In diesem Namen öffnen sich;
    Ein Brunn der Freude, Fried und Liebe
    Quillt nun so nah, so mildiglich.
    Mein Gott, wenn’s doch der Sünder wüßte!
    Sein Herz alsbald Dich lieben müßte.
  5. Wie bist Du mir so zart gewogen,
    Wie verlangt Dein Herz nach mir!
    Durch Liebe sanft und tief gezogen,
    Neigt sich mein Alles auch zu Dir.
    Du traute Liebe, gutes Wesen,
    Du hast mich und ich Dich erlesen.
  6. Ich fühl’s, Du bist’s, Dich muss ich haben,
    Ich fühl’s, ich muss für Dich nur sein;
    Nicht im Geschöpf, nicht in den Gaben,
    Mein Ruhplatz ist in Dir allein.
    Hier ist die Ruh, hier ist Vergnügen;
    Drum folg ich Deinen sel’gen Zügen.
  7. Ehr sei dem hohen Jesusnamen,
    In dem der Liebe Quell entspringt,
    Von dem hier alle Bächlein kamen,
    Aus dem der Sel’gen Schar dort trinkt.
    Wie beugen sie sich ohne Ende!
    Wie falten sie die frohen Hände!
  8. O Jesu, dass Dein Name bliebe,
    Im Grunde tief gedrücket ein!
    Möcht Deine süße Jesusliebe
    In Herz und Sinn gepräget sein!
    Im Wort, im Werk, in allem Wesen
    Sei Jesus und sonst nichts zu lesen.

Gerhard Tersteegen (1757)


Was ist ein Pietist?

„Frömmler“ – so der Hinweis in einem Kreuzworträtsel einer süddeutschen Zeitung. Die Lösung? Pietist. Viele werden den Kopf schütteln. Immerhin: Diese Bezeichnung für die Anhänger einer Frömmigkeitsbewegung wurde von deren Gegnern „erfunden“. Aber die Frommen haben das Wort übernommen. So heißt es schon in einer Antwort von 1689: „Was ist ein Pietist? Der Gottes Wort studiert und nach demselben auch ein heilig Leben führt.“

Diese Definition umschreibt treffend das Leben des Liederdichters Gerhard Tersteegen. Er hatte trotz hoher Schulbildung kein Studium absolvieren können, sondern arbeitete als Handwerker in einem Familienbetrieb. Nach einer inneren Krise übergab er sein Leben an Jesus Christus. An ihn adressierte er einen Brief, mit „Herzblut“ geschrieben (Tatsächlich! Nicht mit Tinte!). Sein inneres Anliegen: heilig leben!

Nicht an sich gedacht

Tersteegens Biografie zeigt deutlich, dass er, anstatt an sich zu denken, sich in die Bibel und meditative Texte vertiefte. Anbetung, Dank für die in Jesus geoffenbarte Liebe Gottes, Hingabe, Heiligung – das war sein Lebensziel. Und prägte seinen Lebensweg als Dichter, Autor, Prediger, Seelsorger. Davon singt auch das Lied „Ich bete an die Macht der Liebe“.

Gerhard Tersteegen veröffentlichte es mit acht Strophen. In heutigen Liederbüchern findet man meist nur gekürzte Fassungen. Und die Reihenfolge der Strophen sind nicht die des Originals. Nur in einer Ausgabe des Evangelischen Gesangbuchs ist die originale erste Strophe wieder an den Anfang gestellt worden. Schließlich war der Dichter dort in Rheinland-Westfalen beheimatet.

Melodie stammt aus Russland

Im Stammteil des Evangelischen Gesangbuchs sucht man das Lied vergeblich. Obwohl es doch überaus beliebt war und ist. Oder fehlt es gerade deswegen? Man wundert sich nicht ohne Grund, wenn das Lied bei Hochzeitsfeiern erklingt. Falsche Adresse! „Ich bete an die Macht der Liebe“ ist ein Beerdigungslied.

Manche haben auch Probleme mit der Melodie. Sie stammt aus Russland. Dort hat sie der Organist einer deutschsprachigen Gemeinde in St. Petersburg unserem Liedtext zugeordnet. In Deutschland kam das Lied mit dieser Melodie durch den Abdruck im Anhang des Andachtsbuchs „Schätzkästlein“ von Johannes E. Goßner im Umlauf, der zeitweilig in Petersburg tätig war.

Vom König angeordnet

Bekannt wurde die Melodie aber auch auf folgendem Weg: Ein Bläserchor spielte sie zum Abschluss einer militärischen Zeremonie. Der preußische König vernahm sie bei einem Festakt in Russland und hoch beeindruckt ordnete er die Verwendung hierzulande an. „Helm ab zum Gebet!“ Zapfenstreich! Noch heute in der Bundesrepublik Deutschland üblich (außer in Bayern!).

So viel zum historischen Kontext des Liedes und seiner Verbreitung. Nun ist aber die Zeit reif, den Text in aller Ruhe zu lesen, sich darin zu vertiefen, das Lied „Ich bete an die Macht der Liebe“ zu singen. Tersteegen fordert uns – in einem anderen Lied – dazu auf, den gegenwärtigen Gott anzubeten und in Ehrfurcht vor ihn zu treten. So wie er es sein Leben lang gehalten hat. Tersteegen starb vor rund 250 Jahren, am 3. April 1769.

Text: Günter Balders


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