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Mit YouTube abschließen

Beziehung beendet – ein fiktiver Abschiedsbrief ans Netzwerk.

Liebes YouTube, ich habe ein Problem mit dir. Mein Leben hatte in den letzten Wochen den Schleudergang eines Mixers auf der höchsten Stufe. Die psychotischen Anfälle unseres Nachbarn waren zeitweise so schlimm, dass ich zu Freunden umgezogen bin und aus einer 49-Liter-Reisetasche gelebt habe. Irgendwie war diese Begrenztheit schön. Es hat mein Leben auf das reduziert, was ich für wesentlich hielt. Für ein YouTube-Video wäre es eine ideale Situation gewesen: Ein 49 Liter-Leben passt zum hochgelobten Minimalismus. Ich hätte filmen können, was ich alles eingepackt habe. Denn Minimalismus ist, so scheint es mir, auf deiner Plattform ein Allheilmittel für sämtliche Probleme in unserer konsumorientierten Gesellschaft.

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Täglich dürfen wir deshalb daran teilhaben, wie Menschen auf deiner Plattform intensiv ausmisten, von Schubladen über Zimmer bis hin zu ganzen Wohnungen oder Häusern. Das Einzige, was bleibt, ist Freude. Absurd schöne Menschen mit absurd schönen Wohnungen präsentieren dann ihr neu gewonnenes Lebensglück. Und fast würde ich ihnen glauben – wäre da nicht die Ironie, dass die materielle Befreiung nicht lange anhält. Beinahe im zweiten Atemzug wird nämlich ein Produkt präsentiert, das nun so viel besser zur halbleeren Wohnung passt. Auch bei umweltbewussten Nachhaltigkeitsmenschen. Vielleicht eine Duftkerze aus Sojawachs, ein japanischer Lippenstift oder ein Pulli aus dem Secondhandladen.

Wohlstandsverwahrlosung

Liebes YouTube, wenn man freiwillig mit wenig lebt, ist das Wohlstandsverwahrlosung. Auch bei mir selbst. Ich lebte ja nicht grundsätzlich als heimatlose Nomadin, sondern nur temporär. Und überhaupt: Wo soll der Zyklus des Ausmistens denn aufhören? Der gefeierte Pulli aus dem Secondhandladen weicht irgendwann einem neuen aus recycelten Fischernetzen. Und der wird wiederum aussortiert für einen, dessen Kauf Geflüchtete unterstützt. Aus einem vermeintlich umweltbewussten Leben wird so einfach umweltbewusster Konsum. Geändert wird nichts.

Liebes YouTube, ich ärgere mich, dass ich viel zu oft deinen Lügen glaube, man könnte umweltbewusstes Leben konsumieren. Mein temporäres Halbnomadentum hat mir das mal wieder gezeigt. Ein gutes Leben, echte Freundschaft und Liebe finde ich nicht per Kreditkarte. Wenn ich spontan bei Freunden einziehen kann, die sich sogar freuen, dass ich komme, ist das viel wertvoller als jedes Fünf-Sterne-Hotel. Wo sonst ist ein „Fühl dich wie zu Hause“ so ernst gemeint? Und trotzdem glaube ich so oft, ich müsste mein Leben im Alleingang bewältigen. Warum eigentlich?

Ich kann nur soziopsychologisch spekulieren, aber ich denke, es kostet meinen Stolz, Bedürfnisse zu zeigen. Wir haben Angst, weil wir uns verletzlich machen – auch ich. Wir können keine Fassade aufrechterhalten, wenn wir sagen, dass wir auf andere Menschen angewiesen sind. Wir müssen uns trauen zu fragen, ob wir vorbeikommen dürfen, obwohl wir emotional nicht stabil sind. Es kostet Mut, um Hilfe zu bitten und beim Nachbarn nach dem Hammer zu fragen.

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Miteinander funktioniert nicht anonym

Liebes YouTube, dein konsumbestimmtes Leben geht allein, aber ein Miteinander funktioniert nicht anonym. Wenn wir wirklich minimalistischer leben wollen, läuft das – nach meinen aktuellen Erkenntnissen – nur gemeinsam. So lassen wir das schräge Bedürfnis los, alles besitzen zu müssen. Wozu braucht jeder ein eigenes Waffeleisen oder eine eigene Akkubohrmaschine? Und kann es tatsächlich sein, dass ich dem blödsinnigen Gedanken verfalle, dass ein neuer Lidschatten aus Kokosöl mir mehr Selbstbewusstsein gibt als ein tröstendes Gespräch mit einer Freundin? Warum fällt es mir so schwer, jemanden anzurufen und zu sagen „Ich pack’s grad nicht“, und so leicht, Geld für etwas auszugeben, das im Badezimmerschrank verstaubt?

Liebes YouTube, ich muss unsere Beziehung vorerst beenden. Dein Minimalismus sieht schick aus, aber er macht mich unzufrieden und einsam. Meine schöne, staubfreie Wohnung eignet sich jetzt zwar für Sportstunden und den IKEA-Katalog, aber es ist kein Zuhause mehr. Mein Leben ist zu perfekt. Ich bin sehr dankbar für meine Mitbewohnerin, weil sie manchmal ihre Sachen rumliegen lässt. Ich bin dankbar für die Katze, weil sie mir meine perfekte Wohnung vollkotzt. Ich brauche wieder Leben. Jeder kämpft für sich allein und guckt abends um zehn Tutorials, wie man in dieser leistungsorientierten Welt klarkommt. Wann haben wir verlernt, miteinander über unsere Probleme zu reden? Wann haben wir zum letzten Mal zugegeben, dass wir manchmal überfordert sind? Ich will raus aus dieser Anonymität. Ich will aufhören, so beschäftigt mit meinem daueroptimierten Leben zu sein. Ich möchte wieder Zeit dafür haben, wildfremde Menschen in der Bibliothek anzulächeln.

Liebes YouTube, ich fange bei mir an. Es kostet mich viel Mut. Aber ich kann nicht mehr stehenbleiben und meinen Blick auf einen Bildschirm richten. Ich will mein ästhetisches digitales Nomadentum aufgeben und mich zeigen. Nicht vor einer Kamera. Sondern im echten Leben. Ich mache hier den ersten Schritt. Mach dich auf etwas gefasst!

-Fabienne

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Cover dran 4_20Dieser Artikel stammt aus dem Magazin DRAN für junge Erwachsene, Ausgabe 4/20. DRAN wird vom SCM-Bundes-Verlag herausgegeben, zu dem auch Jesus.de gehört.

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