Fehler und Unachtsamkeiten zu vergeben, kann ganz schön herausfordernd sein. Und doch erlebt unsere Autorin: mit Gottes Hilfe ist es möglich.
Von Sandra Geissler
Wildes Geschrei quoll aus unserem Wohnzimmer, ungebärdiges Brüllen, zwischendurch rummste es immer wieder. Es waren wohlvertraute Geräusche, die da bis zu mir nach oben drangen, denn meine Jungs spielen leidenschaftlich gerne Fußball, gerne auf dem nahegelegenen Bolzplatz, bei schlechtem Wetter jedoch in der Indoor-Variante mit Hilfe eines weichen Stoffballes. Immer wieder erinnerte ich brüllend von oben an die goldene Regel für Indoor-Fußball: Keine Hochschüsse, wegen der Blumenvasen, der Pünktchen-Teekanne und meinem kleinen Engel, allesamt zerbrechliche Kostbarkeiten.
Während ich immer noch damit beschäftigt war, endlose Wäschestapel in Schränke einzusortieren, wurde es unten auf einen Schlag plötzlich still. Eine ohrenbetäubende Stille, die nichts Gutes verhieß. Ich machte mich auf der Stelle auf die Suche nach der Quelle von so viel höchst ungewöhnlicher Geräuscharmut und wurde umgehend fündig. Im Wohnzimmer standen zwei zerknirschte Fußballhelden und schauten ziemlich bedröppelt aus. In den Händen hielten sie einen nun kopflosen Engel, den sie mir wortlos entgegenstreckten. Der Engel war ein Geschenk meiner Kommuniongruppe gewesen, die ich viele Monate auf ihrem Vorbereitungsweg begleitet hatte. Er war nicht wahnsinnig schön, keinen, den ich mir je selbst ausgesucht hätte, aber er war ein Erinnerungsstück und Ausdruck von Dankbarkeit, die ich mir wirklich schwer erarbeitet hatte.
Vor mir standen meine beiden Jungs, einer streichelt vorsichtig mit seinem Händchen meinen Arm und von der ungestümen Wildheit war nichts übriggeblieben außer Schreck und kleinlauter Reue. „Entschuldigung Mama, entschuldige bitte!“ In meinem Herzen fochten für einen Moment Zorn, Traurigkeit und Mitgefühl einen kleineren, aber heftigen Kampf, doch dann war es gut. Ich drückte meine beiden Missetäter an mich, erklärte meine Traurigkeit, vergab von Herzen und dann gingen wir den Sekundenkleber suchen.
Eine tägliche Übung
Das ist Vergebung für Anfänger. So fällt mir das Vergeben nicht schwer und ist Gnade eine meiner leichtesten Fingerübungen. Ich kann aus tiefer Seele sagen: „Alles gut, ich bin nicht mehr böse und ich trage es euch nicht nach!“ Und dann ist es auch so. Diese Form der Vergebung darf ich tagtäglich üben, immer wieder neu. Ich vergebe Missgeschicke, kleine Lügen, rotzige Antworten und verschlampte Mützen. Ich bitte um Vergebung für Ungeduld und harsche Bemerkungen, für vorschnelles Urteilen und vergessene Rücklaufzettel. Ehe und Familie sind hervorragende Übungsfelder für eine der Grunddisziplinen des Christentums: der Vergebung.
„Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.“
Das Vaterunser enthält alles, was wir zum Leben brauchen. So sollen wir beten, Jesus selbst hat uns dieses Gebet geschenkt und nicht zuletzt deshalb kommt der Vergebung ein so hohes Maß an Bedeutung zu. Die Weiten des Himmels kennen sich gut aus mit den irdischen Begrenzungen. Wir alle sind gefangen in diesen unseren menschlichen Grenzen, wir scheitern beständig, fügen anderen Unrecht und Leid zu, verletzen Menschenseelen, oft ohne jede böse Absicht. Wir sind Bedürftige, angewiesen auf die Kraft der Gnade und der Vergebung. So, wie wir sie von unserem Gott erhoffen und erbitten, so sollen wir sie einander schenken. Ich finde diesen Gedanken großartig, menschenfreundlich und lebensnotwendig. Denn die Möglichkeiten, schuldig zu werden, sind gigantisch und nahezu unbegrenzt. Sie reichen von wirklicher Bösartigkeit und Abart bis hinunter in die Niederungen von Boshaftigkeit und beißender Ironie, Lieblosigkeit und Lästerei. Solange wir auf Erden sind, werden wir schuldig an unserem Nächsten und unser Nächster wird schuldig an uns. Wenn wir trotzdem gut miteinander leben wollen, dann müssen wir immer wieder um Verzeihung bitten. Und wir müssen selbst verzeihen.
Für die Gnade entscheiden
Manchmal macht das Leben die Menschen hart und bitter, manche haben selbst Gewalt und Vernachlässigung erfahren, manche Umstände sind einfach zum Heulen, Verzweifeln oder Davonlaufen, überkommene Erziehungsmuster prägen immer weitere Generationen, die wenigsten Lebensläufe sind gerade und ohne tiefe Abgründe. Wir tun also gut daran, zu vergeben, unseren Frieden zu schließen mit unseren Umständen, unseren Leidensbringern, dem Unrecht, das uns zugefügt wurde. Je mehr ich verstehe, warum Menschen handelten, wie sie handelten und es bis heute tun, desto mehr begreife ich, wie überlebenswichtig die Vergebung für alle ist, für unsere Seelen, für die Seelen unserer Kinder und für den Frieden der Welt. Gerade weil das Leben oft alles andere als gnädig mit uns umspringt, müssen wir uns immer weiter in der Gnade üben. Also vergebe ich, erfülle die Grunddisziplin des Christseins, entscheide mich dafür, es gut sein zu lassen. Und scheitere immer wieder. Es ist ein Scheitern, das tief in meiner Seele sitzt, und auf das ich keinen Zugriff habe. Manchmal sind es Orte, die ich nach langer Zeit besuche, manche Erinnerungstage, Feiertage, ein Telefonat, alte Sätze. Dann steigt die Angst auf, bekomme ich die merkwürdigsten körperlichen Symptome, das Herz stolpert, die Nerven schmerzen, die Migräne pocht. Alles in mir wehrt sich und schreit laut: „Alarm!“ So sehr ich auch zur Vergebung entschlossen bin, so scheint dieser Entschluss niemals in den Tiefen meines Unterbewusstseins anzukommen. Das ist in doppelter Hinsicht vertrackt. Offensichtlich kann ich es nicht gut sein lassen, obwohl ich es gut sein lassen möchte. Und ich kann meiner tiefen Sehnsucht, Vergebung zu schenken, den Menschen und dem Leben, nicht folgen, so sehr ich es auch versuche. Natürlich weiß ich, dass Vergeben nicht unbedingt Vergessen bedeutet, aber es sollte doch zumindest ein „Lass es gut sein“ beinhalten. Ich bin eine Christin, die schon in einer der Grunddisziplinen eine Bauchlandung hinlegt.
Auf Gnade angewiesen
„Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.“ Na, herzlichen Glückwunsch, guter Gott, das ist ganz schön viel verlangt von Wesen, die du so vielschichtig geschaffen hast. Mir bleibt nichts anderes übrig, als das zu tun, was ich mit all meinen Bauchlandungen tue. Ich bringe sie vor diesen guten Gott, bei dem alle Schuldfragen schon längstens geklärt sind. Und ich bitte um Vergebung dafür, dass ich sehr schlecht vergeben kann. Ich bin hier auf eine Gnade angewiesen, die Menschen einander nicht schenken können, weil sie aus den Weiten des Himmels und nicht aus unseren irdischen Grenzen kommt.
Das Unrecht, das uns geschah und geschieht, ist tatsächlich eingewoben in die Muster unserer Seelen, sie erinnern uns an all das, was war. Ich darf es immer wieder wahrnehmen, fühlen, daran leiden, um mich dann wieder und wieder zur Vergebung zu entschließen. Vielleicht müssen manche Umstände nicht nur einmal, sondern tausendmal vergeben werden, immer wieder neu. Vielleicht ist das immer wieder neue Entschließen schon der entscheidende Schritt in einer christlichen Grunddisziplin und der Rest eben göttliche Gnade.
Der kleine Engel steht wieder auf unserer Fensterbank, nicht länger enthauptet, sondern ganz ordentlich, mit sorgfältig geklebtem Kopf. Aber wenn du genau hinschaust, dann kannst du ihn erkennen, den feinen Riss, die Narbe, den Klebstoffrand. Vergebung kann nichts ungeschehen machen, aber sie kann kleine Samen Himmel auf Erden säen.
SANDRA GEISSLER ist katholische Diplomtheologin und zurzeit Familienfrau. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren fünf Kindern in Nierstein am Rhein und bloggt unter 7geisslein.com
Dieser Text erschien in einer längeren Version zuerst in der Zeitschrift JOYCE (Ausgabe 03/2020). JOYCE wird vom SCM Bundes-Verlag herausgegeben, zu dem auch Jesus.de gehört.