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Micha-Initiative: Globale Nächstenliebe leben

Stefanie Linner hat sich bewusst dafür entschieden, nicht immer mehr zu wollen. Was das für sie mit einem guten Leben und dem Wunsch nach Gerechtigkeit zu tun hat, erzählt die Leiterin der Nachhaltigkeits-Initative Micha im Interview.

Von Melanie Carstens

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Für die Micha-Initiative zu arbeiten ist nicht nur ein Job für dich, sondern prägt dein ganzes Leben. Was ist dir in letzter Zeit wichtig geworden?
Eine wichtige Erkenntnis, die ich für mich aus der Beschäftigung mit den Micha-Themen gezogen habe, ist, sich zu trauen. Mach Dinge einfach anders. Und du musst dich nicht dafür schämen, wenn du damit hinter dem typischen westlichen Standard dessen, was die Gesellschaft vorgibt, zurückfällst. Man darf sich zum Beispiel trauen Menschen einzuladen, selbst wenn man nur eine ganz kleine Wohnung hat. Ich sage damit: Ich mag dich, ich möchte Zeit mit dir verbringen. Das ist wichtiger als die üblichen deutschen Standards mit dem Wunsch nach Privatsphäre. Denn wenn ich selbst eingeladen werde und die Leute sich und ihren Raum verschenken, dann ist das Tollste zu merken: Die öffnen sich für mich. Etwas anderes braucht man doch gar nicht, um sich wohlzufühlen. So oft ist man gesteuert von dem Gedanken: Was erwarten die jetzt von mir? Das beschäftigt einen dann so stark, dass man sich gar nicht mehr richtig auf die Begegnung einlassen kann.

Wenn ich bei anderen zu Gast bin, geht mir das genauso. Aber wenn ich selbst andere einlade, frage ich mich oft: Ist das denen nicht zu klein und zu eng bei uns? Fühlen die sich da wirklich wohl?
Das ist interessant, dass wir gesellschaftlich so geprägt sind: Statt nach ganz oben oder ganz unten zu schauen und uns mit Leuten zu vergleichen, die bedeutend mehr oder bedeutend weniger Geld haben als wir, schauen wir innerhalb unserer Schicht nach links und nach rechts.

„Man darf sich zum Beispiel trauen Menschen einzuladen, selbst wenn man nur eine ganz kleine Wohnung hat.“

Wir suchen den sozialen Vergleich auf der Ebene und fragen uns: Wie stehe ich denn da? Wir, mein Mann und ich, wohnen mit Mitte dreißig nur in einer kleinen Wohnung, machen Flugreisen nur, wenn es unbedingt sein muss, und fragen uns bei ganz vielen Dingen: Brauchen und wollen wir das wirklich? Denn jede neue Anschaffung braucht auch unsere Zeit, Pflege und Aufmerksamkeit. Es ist immer wieder eine ganz bewusste Entscheidung für mich, diesem Trieb in uns nach dem sozialen Vergleich nicht nachzugeben.

Die Frage ist nur: Wie schafft man das?
Das erste ist, immer wieder zu realisieren, dass das ein Trieb ist. Dass du merkst: Dieser Impuls kommt immer, wenn Leute um mich herumstehen, mit denen ich mich direkt vergleichen kann. So sensibilisierst du dich selbst. Du merkst: Ach ja, das sind jetzt wieder solche Kandidaten, die in mir das Gefühl auslösen: „Das will ich auch haben.“ Und „Müsste unser Leben nicht auch so aussehen?“
Außerdem ist es hilfreich, wenn man diese Themen mit Freunden oder dem Partner immer wieder anspricht: Was macht eigentlich ein gutes Leben für dich aus? Wo ist deine Lebensmitte? Woher beziehst du deinen Wert, deinen Sinn? Eigentlich sollte das für uns als Christen umso natürlicher sein, immer wieder danach zu fragen: Was ist für dich die Mitte deines Lebens? Wo ist deine Quelle von Freude? Von Wohlergehen? Von Fülle, von genug haben. Bei Micha ist das für uns ein sehr wichtiges Thema bei allem, was mit Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit zu tun hat: Was ist das Genug des Menschseins?

„Ich brauche Zeit, um mich zu bilden.“

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Hast du für dich definiert, was für dich ein „gutes Leben“ ausmacht?
Auf jeden Fall! Für mich ist es ganz wichtig, Zeit zu haben zum Nachdenken. Das gehört für mich ganz entscheidend zum guten Leben. Dass ich meine Zeit so einteilen kann, dass ich mir im Alltag immer wieder Ruhepole suche.
Bildung ist für mich auch ganz wichtig, weil ich ohne die Möglichkeit, mich fortzubilden, nicht an dem Punkt wäre, wo ich heute bin. Wissen ist schon auch Macht – die Macht, das Leben bewusst zu gestalten und informierte Entscheidungen zu treffen. Und das hat wieder mit Zeit zu tun. Ich brauche Zeit, um mich zu bilden.
Dann Beziehungen mit Menschen, mit denen ich gemeinsam etwas bewegen kann. Was mich sehr bewegt und auch verändert hat in den letzten Jahren ist der Gedanke des Gemeinwohls. Ich bin davon überzeugt, dass das auch das Prinzip der Zukunft ist, dass Kinder dahin erzogen werden, an etwas Größeres zu glauben als nur an das eigene Wohlergehen oder das der unmittelbaren Familie. Dass Menschen dafür sensibilisiert werden, für das Ganze der Schöpfung einzutreten und sich zu fragen: Was bedeutet es, dass Gott uns gleichzeitig als Geschöpfe und Schöpfer geschaffen hat? In der großen Schöpfungsgemeinschaft sind wir ein abhängiges Geschöpf und dabei doch selbst Schöpferinnen und Schöpfer neuer Ideen, die die Welt verändern können! Ich fi nde es wichtig, sich selbst als kraftvolles Wesen zu spüren, das merkt: Wow, da ist so viel in mir drin, was mich kreativ, schöpferisch und verantwortungsvoll mit dem umgehen lässt, was mir gegeben ist.

Beim Thema „etwas verändern“ sind wir schnell bei Micha. Was charakterisiert Micha als Initiative?
Unser Leitvers aus Micha Kapitel 6,8, aus dem Propheten-Buch der Bibel, bringt es eigentlich auf den Punkt: „Es ist dir doch gesagt Mensch, was gut ist und was Gott von dir erwartet. Nichts anderes als dies: Gerechtigkeit üben, Gemeinschaftssinn lieben und aufmerksam mitgehen mit deinem Gott.“ Das ist für mich eine wunderschöne Passage, die uns ewige Orientierung gibt in kurzlebigen Zeiten. Sie fasst den Micha-Spirit zusammen. Es geht immer darum, sich bewusst zu machen: Was hat uns Gott als grundsätzliche Weisung ins Leben mitgegeben? Hier klingen drei ganz wichtige Grundwerte an: Gerechtigkeit, die eingeübt werden will, Gemeinschaftssinn, also über sich selbst hinaus denken und echte Gemeinschaft leben – und in allem aufmerksam mitgehen mit Gott. Du bist unterwegs mit Gott, nimmst aufmerksam wahr und merkst: Gott lässt dich an seinem Herzen für die Welt teilhaben. Wir können uns dabei immer mehr öffnen, herzensweicher werden und Gottes Herzschlag für die Welt mitfühlen.

Was bedeutet für dich der Wunsch nach „mehr Gerechtigkeit“ konkret?
Für mich ist dabei sehr wichtig, sich die genauere Bedeutung von Gerechtigkeit bei Gott anzuschauen. Darin steckt ja auch „etwas oder jemandem gerecht werden“, die innerste Ordnung von etwas zu verstehen und mich dafür einzusetzen, dass die Dinge „in Ordnung“ kommen. In Bezug auf uns Menschen und die Schöpfung meint das: Wer ist der Mensch? Was lässt uns aufblühen, was lässt uns unsere Gaben entfalten und in Würde leben? Was braucht die Schöpfung, damit sie bewahrt werden kann? Gerechtigkeit meint immer Beziehungen. Sie geht über ein Denken in Einzelpersonen hinaus. Der Mensch ist immer schon in eine Gesellschaft und Schöpfung von unzähligen Beziehungen hineingeboren.

„Heute sind wir zur globalen Nächstenliebe berufen.“

In einer sich globalisierenden Welt stellt sich die Frage nach Gerechtigkeit mit einem viel weiteren Horizont. Heute sind wir zur globalen Nächstenliebe berufen. Ich wünsche mir, dass Menschen sich bewusst Gedanken machen über die Zukunft des Lebens auf der Welt: Ist es für uns Christen vertretbar, dass heute rund zwei Milliarden Menschen am Existenzminimum oder darunter leben und die Lebensgrundlagen für kommende Generationen gefährdet sind – weil wir heute auf ihre Kosten leben?
Klar, das sind große Themen und Fragen. Es kann aber im Kleinen damit anfangen, dass ich mir bewusst mache: Die Produkte des täglichen Lebens wachsen nicht im Supermarktregal. Sie bestehen aus dem wirklichen „Stoff der Schöpfung“ und werden durch die Hände echter Menschen gefertigt. Ich persönlich möchte nicht, dass andere für mein komfortables Leben die billige „Drecksarbeit“ machen und entwürdigt werden. Das ist für mich nicht so, wie Gott sich unser Zusammenleben wünscht. Deshalb ist es wichtig zu lernen, unter welchen Bedingungen unser Leben hierzulande zustande kommt und wie wir uns für gerechtere Lebensweisen und Strukturen einsetzen können.

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Ich glaube schon, dass bei vielen Christen ein Bewusstsein da ist für ungerechte Strukturen. Einige kaufen deshalb ihren Kaffee fairtrade oder denken darüber nach, welche und wie viel Kleidung sie kaufen. Aber oft bleibt doch ein Ohnmachtsgefühl, weil man denkt: Ich kann strukturell doch nicht so viel verändern. Wie geht dir das?
Mich hat nichts so sehr befreit von so einem Ohnmachtssinn wie die Arbeit bei Micha. Weil du eben plötzlich diese ganzen Stellen entdeckst, wo du Gott am Werk siehst und merkst: Ah – hier verfl üssigen sich plötzlich die Strukturen, die früher so fi xiert und fest erschienen.

Versucht ihr mit Micha eher einzelne Menschen anzusprechen oder ganze Gemeinden?
Beides. Der Ansatz ist, dass wir als Christen, als Gemeinden eine ganz tolle Vielfalt und Kraft haben, als Leib Christi in die Welt hineinzustrahlen und da Salz und Licht zu sein. Wir als Micha bieten einerseits Bildung und Informationen an, wie es aussieht in der Welt – und andererseits versuchen wir auch zu befähigen und zu sagen: Leute, mit diesem Wissen könnt ihr jetzt auch etwas tun und euch engagieren.
Viele fragen dann immer: Und welche konkreten Schritte gibt es jetzt? Aber hier geht’s nicht darum, Schritte vorzugeben, sondern das Wichtigste ist erst mal ein neuer Horizont in deinem Leben. Wir engagieren uns dafür, dass Menschen die Welt neu sehen und begreifen lernen – und daraus ganz viele neue Gestaltungsmöglichkeiten wahrnehmen.

„Wenn das stimmt, dass Gott in dieser Welt lebendig ist und sich selbst verherrlicht sehen will durch unser Sein, dann ist das erst mal eine Herzensöffnung unseres Horizontes zur Welt hin.“

Denn wenn ich die ersten zwanzig Umgestaltungsmöglichkeiten für Gemeinden zitiere, sind viele überfordert, weil sie das als Anleitung empfi nden und denken: Oh, hier müssen wir jetzt fairen Kaffee kaufen und da Strom anders beziehen und auch unser Geld anders anlegen. Aber damit arbeiten sie nur eine Todo-Liste ab und es sieht so aus, als ob Gott uns To-do-Listen aufbürdet und sagt: Die müsst ihr jetzt durchkriegen, dann seid ihr bessere Christen. Aber darum geht es ja gar nicht. Es geht nicht um eine andere Form von Werkgerechtigkeit. Es geht vielmehr darum, diese Verbindung zwischen den Menschen überall auf der Welt und der Schöpfung wahrzunehmen und zu sagen: Wenn das stimmt, dass Gott in dieser Welt lebendig ist und sich selbst verherrlicht sehen will durch unser Sein, dann ist das erst mal eine Herzensöffnung unseres Horizontes zur Welt hin. Und aus diesem neuen Fühlen, Erkennen und Sehen kann ich plötzlich erkennen: Aha, die Dinge sind gar nicht in Stein gemeißelt, sondern ich kann darauf Einfluss nehmen.

Du beschäftigst dich sehr intensiv mit all den ungerechten Strukturen auf der Welt – wie behältst du dabei deine Lebensfreude?
Ich glaube, es ist eine wichtige Lebenslektion, wie man mit Schmerz und negativen Emotionen umgeht. Das hat für mich etwas mit erwachsen werden zu tun. Dass es nicht um Schmerzvermeidung geht, sondern um einen achtsamen Umgang damit. Und natürlich helfen auch Freundschaften und tiefe Beziehungen, in denen ich mich ganz zeigen kann – ich rede zum Beispiel viel mit meinem Mann darüber.

„Diese Selbstfürsorge und das achtsame Umgehen mit meinem Gleichgewicht und der Fähigkeit, immer noch aufrecht stehen zu können, das ist wieder die Freiheit und die Selbstverantwortung.“

Wenn man all diesen Fragen, Problemen und Herausforderungen nachgeht, dann landet man immer wieder bei der Freiheit. Dass Gott uns zutraut und auch zumutet, sich zu positionieren und sich bewusst zu werden, wer wir Menschen sind, wozu wir auf der Welt sind, was uns gegeben und anvertraut ist, was unsere Gaben, sind. Dass sie eben nicht dazu da sind, damit wir uns komfortabel einrichten, sondern um dem Gemeinwohl zu dienen.
Für mich sind Gerechtigkeit, Würde, Nachhaltigkeit und Nächstenliebe auch Werte an sich. Selbst wenn ich gar nicht mehr kann, es ungemütlich in meinem Leben wird und ich denke: Ich könnte doch auch einen einfacheren Job machen, dann erinnere ich mich an den Vers: „Es ist dir doch gesagt Mensch, was gut ist.“ Ich komme immer wieder zurück zu dem Punkt, an dem ich weiß: Es ist aber das Richtige, das zu tun. Es ist es wert, das zu tun. Diese Selbstfürsorge und das achtsame Umgehen mit meinem Gleichgewicht und der Fähigkeit, immer noch aufrecht stehen zu können, das ist wieder die Freiheit und die Selbstverantwortung. Dass ich merke: Ich darf nicht in Größenwahn verfallen. Ich bin nicht die Retterin der Welt. Ich bin nicht die, die die ganze Last schultern muss. Sondern ich darf das immer wieder an Gott zurückgeben und darf fragen: Was ist meine kleine, aber trotzdem irgendwie bedeutsame Aufgabe darin, die Welt zu verändern.

Für mehr Infos geht’s hier zur Website.


Dieser Artikel ist zuerst in der JOYCE erschienen, die wie Jesus.de zum SCM Bundes-Verlag gehört.

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