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Betroffene: „Es braucht nach Missbrauch Menschen, die einfach da sind“

Ille Ochs hat als Betroffene und als Therapeutin eine doppelte Perspektive auf die aktuelle Missbrauchsdebatte. Auch in ihrem Buch „Sexueller Missbrauch: Wenn die heile, fromme Welt zerbricht“ bearbeitet sie das Thema. Mit uns sprach sie darüber, was in den Opfern vor sich geht und was die Kirche tun kann. 

Jesus.de: Wenn Sie die Berichte über die Missbrauchsopfer verfolgen, was geht Ihnen dabei durch den Kopf?

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Ille Ochs: „Puh“, denke ich und fühle mich erschlagen. Wie gut, dass es endlich wirklich thematisiert wird. Hier werden Zahlen von Missbrauchsfällen genannt, die unvorstellbar sind. Gleichzeitig erschüttert es mich, dass es mich so wenig überrascht. Am allerschlimmsten ist die jahrelange Vertuschung, das Wegschauen. Das passiert nicht nur in der katholischen Kirche, sondern auch in evangelischen Kirchen, Freikirchen und nichtchristlichen Institutionen sowie in Familien. Da werden Kinder einem System geopfert. Das ist der eigentliche Skandal.

Was bedeutet es für die Betroffenen, wenn so eine Tat in einem geschützten Raum wie der Kirche passiert? 

Erst mal ist mir wichtig: Eine Institution, welchen Namen sie auch immer trägt, die nach außen ein perfektes Bild abgeben muss, in der Verantwortliche auf einen moralischen Sockel gehoben und menschliche Abgründe verschwiegen und tabuisiert werden, kann niemals ein geschützter Raum sein. Das schließt sich aus. Wenn man nicht offen reden kann, ist die Institution nur scheinbar ein geschützter Raum.
Für die Opfer ist es besonders schlimm, wenn es sich beim Täter oder bei der Täterin um eine Person handelt, die sie lieben und der sie vertrauen. Kinder lieben und vertrauen sehr bereitwillig. Das ist ja gerade ihre Stärke. Und da tut nun diese Person etwas, was sie nicht einordnen können, was Angst und Schmerzen erzeugt und ein ungutes Gefühl zurücklässt. Der vertraute Mensch bekommt plötzlich ein anderes Gesicht. Schlimm ist es auch, wenn es sich bei diesem Menschen um eine allgemein beliebte, anerkannte Autoritätsperson handelt, die quasi Gott auf ihrer Seite hat und schon deshalb im Recht ist. Das führt zu einer tiefen Verunsicherung. Das Kind ist sich seiner selbst nicht mehr sicher. Es schämt sich, fühlt sich schuldig: „Ich habe etwas falsch gemacht! Ich bin falsch. Mit mir stimmt etwas nicht. Gott ist böse auf mich.“

Wie lange braucht es für die Opfer, sich des Geschehenen bewusst zu werden? Und wie sind die Langzeitfolgen?

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Das lässt sich so nicht beantworten und ist individuell verschieden. Aber dahinter steckt vielleicht die oft gestellte Frage: Warum haben die Opfer so lange gewartet? Warum kommen sie erst jetzt?
In einer Nachrichtensendung berichtete eine Katholikin, dass sie immer wieder zu Ihrem Pfarrer bestellt und von ihm sexuell missbraucht wurde. Sie ging damit zur Beichte (Das Opfer beichtet die Tat? Was für eine Rechtsverdrehung!). Dort wurde sie von ihrem Beichtvater der Lüge bezichtigt und weggeschickt. Wie viele Kinder werden wohl versucht haben, darüber zu reden, aber sie wurden nicht gehört, nicht ernst genommen. Ihre vorsichtige Klage ging ins Leere.
Manche Kinder trauen sich nicht, damit herauszukommen, weil sie vom Täter unter Bedrohung zum Schweigen genötigt wurden. Andere haben das Erlebte aus ihrem Bewusstsein abgespalten. Das Trauma, die Wunde aber bleibt und wirkt ins weitere Leben. Ich selbst hatte viele Ängste, vor Männern, vor Autoritätspersonen, vor starken Frauen. In Situationen, die Gefühle von damals hervorriefen, sogenannten Triggern, erstarrte ich innerlich und wurde handlungsunfähig. Scham und Schuldgefühle waren meine ständigen Begleiter. Mit Mitte dreißig kamen körperliche Symptome und Panikattacken hinzu. Erst als ich es zuließ und aussprach, dass ich sexuellen Missbrauch erlebt habe, konnte ein Heilungsweg beginnen.

Kann man den Umgang mit sexuellem Missbrauch in der eigenen Geschichte lernen? Wenn ja, was braucht es?

Ja, ich habe daraus gelernt und tue es noch. Ich bin sensibilisiert für die Gefahr des Missbrauchs, bin wacher für Grenzüberschreitungen aller Art. Ich schaue genauer hin, habe gelernt, mich selbst und meine Reaktionen besser zu verstehen und verstehe auch das Verhalten anderer Menschen besser.
Was es dazu braucht? Es braucht Menschen! Begleitende Menschen, die zuhören und einfach da sind, ohne schnelle Lösungen parat zu haben oder sofort mit der Aufforderung, zu vergeben, um die Ecke kommen. Menschen, die einen Raum der Klage und Anklage bieten. Menschen, die nicht um die Erhaltung des Systems bemüht sind, das ja nicht durch die Opfer beschmutzt wird, sondern bereits beschmutzt ist.

Was sollte die Kirche Ihrer Meinung nach jetzt tun? Was sind nötige Schritte, um die Problematik aufzuarbeiten?

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Ich bin kein Mitglied der katholischen Kirche und möchte nicht sagen, was sie zu tun hat. Ich denke, sie ist auf einem guten Weg, wenn sie nun vorbehaltlos durch eine unabhängige Studie die Missbrauchsfälle aufarbeitet. Sie sollte diesen Weg konsequent zu Ende gehen und dabei die Opfer nicht vergessen. Denn sie sind die Leidtragenden. Es sind ihre persönlichen Geschichten, die sehr schnell verloren gehen, wenn nur auf das große Ganze geschaut wird. Zahlen können manchmal das persönliche Leid überdecken. Die Opfer brauchen einen wirklichen Raum der Anklage. Sie brauchen Parteilichkeit. Daneben ist es richtig, die Ursachen zu erforschen und nach dem Nährboden zu fragen, auf dem dieses Ausmaß an sexuellem Missbrauch wachsen konnte. Das ist sicher noch ein langer und schwerer Weg.
Als Mitglied einer Freikirche möchte ich sagen: Haltet alles überall und jederzeit für möglich. Versteckt euch nicht hinter diesem Satz: „Bei uns gibt es so etwas nicht.“ Ich bin sehr froh, dass Missbrauch thematisiert wird, dass es Einrichtungen und Gremien gibt, die sich damit auseinandersetzen, sowie Schutzräume für die Opfer. Aber leider sieht die Situation in den Ortsgemeinden oft noch anders aus. Dort besteht immer noch eine Ignoranz. Meine Empfehlung wäre: Holt euch nicht erst Hilfe, wenn es passiert ist, sondern nehmt Beratung und Schulung in Anspruch, um sexuellem Missbrauch vorzubeugen. Wer, wenn nicht wir Christen, können es wagen, hinzuschauen, weil wir an einen barmherzigen Gott glauben, der sich in die tiefsten menschlichen Abgründe hineinbegeben hat und der sehr viel mehr an der Heilung von Menschen interessiert ist als an dem guten Ruf unserer Institutionen.

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