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Brücken bauen: das Vaterunser ganz neu gebetet

Es bröckelt in unserer Gesellschaft: Solidarität, Gemeinschaft, Verständnis – all das sucht man zuweilen vergebens. Doch ein bekanntes Gebet könnte helfen, die Gräben zu überwinden.

Von Veronika Smoor

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Der Tag, an dem ich mit dem Schreiben dieses Artikels beginne, ist der 9. November. Unweigerlich – wie jedes Jahr – denke ich an die Reichspogromnacht. Ich hätte mir keinen besseren Zeitpunkt für dieses Thema wählen können: In der düstersten Zeit des deutschen Volkes hatten Lagerdenken und Nazi-Ideologie dazu geführt, dass jüdische Mitbürger misshandelt wurden und Synagogen brannten, während viele ihrer christlichen Nachbarn zuschauten. Manche applaudierten. Das, was noch wenige Jahre zuvor undenkbar schien, war Wirklichkeit geworden. Endlich durfte man offen seinen Rassismus und Antisemitismus zeigen. Nur wer blind ist, erkennt keine Parallelen zur Gegenwart.

Wir müssen in unserer eigenen Geschichte nur läppische 80 Jahre zurückblicken und das ewige Mantra „Früher-war-alles-besser“ zerfällt zu Staub. Zugegeben: Vor dem World Wide Web wussten Fanatiker weniger voneinander. Das kam unserer Weltengemeinschaft zugute. Nun sind sie bestens vernetzt und fressen sich in unser Denken und unsere Emotionen. Im Netz blühen die wildesten Fakes, und nur wenn man sich radikal aus den sozialen Medien raushält, kann man sich dem entziehen und seinen Seelenfrieden wahren. Mein Algorithmus zeigt mir manchmal verstörend anders denkende Menschen. Der Ton ist schärfer geworden. Die Rhetorik spaltend. Auch unter uns Christen. Unsere Weltbilder bestehen aus ausgehärtetem Stahl. Und das ist es ja, was die momentane Situation der Lagerbildungen so schwierig macht:

Wir verspielen unsere Chance auf ein echtes Verstehen, wenn wir den anderen mit einem radikalen Etikett versehen und auf Nimmerwiedersehen in einer Schublade verschwinden lassen.

Dann ziehen wir ganz schnell Mauern hoch und bilden Lager, in denen wir unser Weltbild bestätigt bekommen.

Gepflegte Feindbilder

Ich nehme mich da gar nicht aus. Wie oft empöre ich mich über Trump-Wähler, Christen in der AfD, Verschwörungsgläubige? Wie oft schmeiße ich alle AfD-Wähler in einen Topf, rühre wütend um und markiere ihn mit „Nazis“? Und wie oft empören sich andere abfällig über mich als „Gutmenschen“?

Wir verspielen unsere Chance auf ein echtes Verstehen, wenn wir den anderen mit einem radikalen Etikett versehen und auf Nimmerwiedersehen in einer Schublade verschwinden lassen. Natürlich möchte ich hier betonen, dass ich niemals auch nur einen Millimeter nach rechts rücken würde – aber wenn wir lernten, hinzuhören, anstatt die Nazikeule auszupacken, könnte der andere vielleicht sogar bereit sein, einen Millimeter Richtung Nächstenliebe zu rücken. Wie wäre das?

Ich glaube, dass unsere Zeit Brückenbauer statt Mauernhochzieher benötigt. Und obwohl ich mich liebend gern in mein Lager zurückziehen möchte und ein bisschen mehr meine Feindbilder streicheln würde, so ist es mir doch ein noch viel größeres Anliegen, das Brückenbauen zu lernen. Pfeiler um Pfeiler in den Boden aus Missverständnissen und Trennung und Hass zu rammen. Ob der andere dann die Brücke überqueren möchte, liegt nicht in meiner Verantwortung. Aber ob ich den ersten Pfeiler in die Hand nehme, schon.

Eine gespaltene Gesellschaft kann keine gute Zukunft bauen.

Ein Gebet, das alle vereint

Wenn ich mich im Kreis drehe und nicht mehr weiß, was ich eigentlich noch beten soll, dann hilft mir das Vaterunser. Der Kern unseres Glaubens. Das Gebet, das wir alle gemeinsam sprechen: Verschwörungsgläubige, Trump-Wähler, Rechthaber, Gutmenschen. Wenn wir genau hinhören, können wir feststellen, dass das Vaterunser ein gesellschaftsveränderndes Gebet ist:

–– Vater unser im Himmel

Mit diesen schlichten Worten erkenne ich an, dass nicht nur ich Gottes geliebtes Kind bin, sondern auch der Mensch, der auf Facebook Verschwörungstheorien verbreitet, und auch der verkorkste Nachbar und der Christ mit Rechtsdrall. Diese Sicht entschuldigt nicht, aber sie weitet das Herz für Gottes skandalöse Wahrheit: Dass alle Platz und Gnade bei ihm finden. Ich ordne mich ein in eine Weltengemeinschaft, die so viel größer ist als meine Filterblase. Ich bin nur eine unter ganz vielen. Das macht demütig und still.

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–– Geheiligt werde dein Name

Manchmal merken wir gar nicht, wie wir uns in Ideologien verbeißen. Es ist verlockend, sich der Komplexität der Welt zu entziehen, indem wir simplen Lösungen folgen und diese als Allheilmittel anpreisen. Und manchmal folgen wir blindlings Menschen, die diese Lösungen anbieten. Unsere aufkochenden Gefühle machen wir zur Leitschnur unserer Handlungen und Worte. Unüberlegt hinterlassen wir bissige Kommentare im Netz.

Es ist immer klüger, einen Schritt zurückzugehen und sich selbst zu überprüfen, wo man das wirklich Wichtige aus dem Blick verloren hat. Geheiligt werde dein Name. Nicht indem ich Ungeprüftes weiterleite. Nicht indem ich Öl ins brennende Feuer kippe. Nicht indem ich dazu beitrage, dass Hass und Lügen zum Flächenbrand werden. Gottes Namen heiligen wir, wenn wir uns und unsere vermeintliche Deutungshoheit nicht so furchtbar ernst und wichtig nehmen.

–– Dein Reich komme

Ich glaube, dass Gottes Reich keine Zukunftsmelodie für fromme Schwärmer, sondern tagtäglich bereits in Arbeit ist. Und damit ist keine politische Agenda gemeint. Gottes Reich zeigt sich nicht durch die Großen und Lauten dieser Welt, sondern an den Rändern der Gesellschaft. Überall dort, wo Nackte gekleidet, Gefangene besucht, Kranke versorgt, Hungrige gespeist, Gäste willkommen geheißen werden. Jesus ist im Gesicht des Anderen, des Fremden, des Unterdrückten zu finden. Ist es nicht grandios, wie Gottes Reich all unsere Wertesysteme und Anschauungen auf den Kopf stellt?

–– Dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auf Erden

Gott braucht keine Fürsprecher, keine Moralapostel, keine Wächter am Tor der biblischen Korrektheit. Kurz: Niemand ist der verlängerte Arm Gottes auf Erden. Natürlich gibt es geistliche Leiter, die eine besondere Verantwortung tragen. Aber dort, wo Feindbilder gepflegt werden, Ideologien auf den Thron gehoben werden und die Fähigkeit zur eigenen demütigen Reflexion schwindet, ist das immer ein Warnzeichen. Ab und an sollten wir alle einen Schritt zurücktreten, unsere Ansichten und Werte auf den Prüfstand stellen und das Loslassen üben. Gott wirkt mysteriös und oft völlig entgegen unserer Erwartungen oder luftiger Deutungshoheiten.

–– Unser tägliches Brot gib uns heute

Manchmal stehe ich besonders früh auf, um einen Brotteig anzusetzen. Am Abend ziehe ich dann duftende Brotlaibe aus dem Ofen, die schneller verzehrt sind, als ich „Sauerteig“ sagen kann. Es ist der ewige Kreislauf aus Hungrigsein und Sattwerden, der uns daran erinnert, dass wir bedürftige Menschen sind. So viel uns auch trennen mag, einen uns unsere Grundbedürfnisse, die allen Menschen gleich sind: das Bedürfnis nach Nahrung und Wasser, nach Luft, Gesundheit, Angenommensein, Liebe, Schlaf, Sex, Nähe. Ich glaube sogar, dass fast alle Konflikte aus ungestillten Bedürfnissen entstehen. Es hilft, den anderen durch die Linse seiner Bedürfnisse zu sehen, die ich mit ihm teile.

Rechthaben ist wie ein Drogenrausch.

–– Und vergib uns unsere Schuld

Rechthaben ist wie ein Drogenrausch. Wir wetzen unsere Wörter wie Klingen, legen uns klug klingende Argumente zurecht. Es bleibt jedoch nicht aus, dass uns der Teppich unter den Füßen weggezogen wird und unser strahlender Heiligenschein Flecken bekommt. Ganz tief in uns kriechen Zweifel hoch. Und je länger wir uns auf dem Holzweg befinden, desto fester zementieren wir unsere Ansicht nach außen. Ich weiß, wovon ich rede. Denn ich bin Expertin darin. Um Vergebung bitten zu können, ist aber einer der wichtigsten Brückenpfeiler hin zu einer geeinteren Gesellschaft. Nichts baut Brücken schneller und stabiler als das Zugeben von Fehlern und Schuld.

–– Wie auch wir vergeben unseren Schuldigern

Die größten Brückenbauer waren diejenigen, deren Kernwert die Vergebung war: Nelson Mandela. Martin Luther King. Gandhi. Jitzchak Rabin. Vergebung ist eine Handlung, die unserer Intuition widerspricht und die den wenigsten von uns leicht fällt. Immer wenn ich an meinem Groll festhalten will, denke ich an die Worte der amerikanischen Autorin Anne Lamott: „Nicht zu vergeben ist wie Rattengift zu trinken und darauf zu hoffen, dass die Ratte stirbt.“

–– Und führe uns nicht in Versuchung

Das heißt für uns so viel wie: Meide gewisse Kommentarspalten. Halte dich nur kurz oder gar nicht in sozialen Medien auf. Erweitere dein Wissen und wende es nicht an, um jemand anderen in Grund und Boden zu stampfen. Poliere nicht dein Image. Bible niemanden nieder.

–– Erlöse uns von dem Bösen

Ein falscher Friede deckt Ungerechtigkeit zu, die weiterhin gärt, bis es zur Explosion kommt. So konnten wir es in der „Black Lives Matter“-Bewegung erst kürzlich beobachten. Aufarbeitung von Ungerechtigkeit, Schuld, Hass, klare Abgrenzung von toxischen Einflüssen und Beziehungen sind schmerzhaft und doch so essenziell wichtig. Unrecht muss Unrecht genannt werden dürfen. Denn baufällige Brücken sind gefährlich. Wir müssen sie einreißen, ein neues Fundament bauen, bevor wir wieder neu aufeinander zugehen können.

–– Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen.

Ich glaube aus ganzem Herzen an das göttliche Versprechen, dass wir eines Tages alle an einem Tisch sitzen werden. Dort werde ich dann vielleicht neben dem unausstehlich gesetzlichen Gemeindevorsteher, der schrillen Charismatikerin, dem verbitterten Protestwähler sitzen und mich empören, wie die UM GOTTES WILLEN dort hingekommen sind. Und dann wird Gott, der uns gerade seinen ausgezeichneten Wein serviert, mir augenzwinkernd zuraunen: Und die fragen sich, warum sie ausgerechnet neben einer rechthaberischen Freigesinnten sitzen müssen. Wir werden miteinander anstoßen und uns lachend fragen, warum wir mit dem Brückenbauen nicht schon eher angefangen haben.


Dieser Text von Veronika Smoor stammt aus der Zeitschrift Family. Family erscheint sechsmal im Jahr im SCM Bundes-Verlag, zu dem auch Jesus.de gehört. 

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