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Reich trifft arm – was tun?

Mit Armut hat Jost Stahlschmidt als Leiter der FeG Diakonie sowie der Auslands- und Katastrophenhilfe täglich zu tun. Wenn er ausgemergelte Kinder sieht, geht ihm das jedes Mal nahe. Aber auch wenn es ihm deutlich besser geht, hadert er nicht mit einem schlechten Gewissen. Er nimmt etwas ganz anderes aus diesen Begegnungen mit: Dank.

Mit einer Pappschachtel vor sich sitzt der kleine Romajunge an der alten Steinbrücke über den Fluss Vardar in Skopje. Die Brücke ist das Wahrzeichen der Stadt. Es ist kurz vor Mitternacht an einem heißen Samstagabend im August. Unzählige Menschen drängeln sich in beiden Richtungen an dem Kind vorbei, auch meine Frau und ich. Nach einem langen Tag wollten wir noch einen kleinen Spaziergang machen. Der Junge ist nur mit einer schmutzigen Hose bekleidet.

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Helfen oder Gewissen beruhigen?

Gut 50 Meter weiter sitzt ein kleines Romamädchen auf der Brücke, schrummelt auf einer Kindergitarre, schaut sich hilfesuchend um und weint. Wir können es nicht fassen, bleiben erschüttert stehen. Was sollen wir tun? Ich krame in meiner Geldtasche herum. Hilflos lege ich ein paar Denar in die Pappschachtel des Mädchens. Warum mache ich das? Um mein Gewissen zu beruhigen? Habe ich etwas Gutes getan und kann beruhigt weitergehen? Wie oft habe ich im Fernsehen Bilder von ausgemergelten Kindern gesehen. Selten hat es mich so berührt wie diese beiden kleinen Kinder, an denen ich unmittelbar vorbeimusste.

„Schlechtes Gewissen bleibt bei sich selber
und der eigenen Gerechtigkeit stehen.“

Das ist nur eine Begegnung von vielen, in denen sich etwas widerspiegelt von der Armut vieler Menschen in den Ländern Südosteuropas. Als FeG Auslands- und Katastrophenhilfe versuchen wir auf vielfältige Weise, so gut wir können zu helfen. Trotzdem lässt mich die Not der Menschen in diesen Ländern oft ratlos zurück. Jedes Mal kehre ich mit bewegenden Erlebnissen, tief berührenden Begegnungen und Bildern von Armut nach Deutschland und in mein gutes Zuhause zurück. Die täglichen Bilder von Krieg, Hunger, Flucht und Vertreibung kommen dazu. Wie umgehen mit der Not, ohne die Not zu umgehen?

Schlechtes Gewissen behindert Gerechtigkeit

Wo lebe ich, wie lebe ich, womit beschäftige ich mich? Was ist wesentlich? Ja, natürlich rührt es immer auch mein Gewissen: Da müssen wir doch etwas tun. Das ist unsere christliche Verantwortung. Gott steht auf der Seite der Armen und Bedürftigen. Wir müssen uns gegen Ungerechtigkeit stellen. Das ist richtig. Aber reicht das als Antrieb, wirklich helfen zu können?

Die FeG Auslands- und Katastrophenhilfe wird vielfach um Unterstützung angefragt. Dabei leitet uns die Frage, welche Hilfe wirklich angemessen ist, damit die Empfänger befähigt werden, sich selber helfen zu können. Wir könnten immer noch mehr tun, mehr geben, mehr Hilfstransporte fahren, mehr teilen, mehr in Projekte investieren. Ja, wir könnten, wir sollten, wir müssten. Müssten wir nicht angesichts der Not ein schlechtes Gewissen haben? Nein, ich habe kein schlechtes Gewissen, wenn ich die Not der Menschen sehe, die nicht weit weg von uns in Europa leben. Ein moralisierendes schlechtes Gewissen führt zum Mitleidspfennig, der nicht wirklich hilft, sondern den anderen in seinem erbarmungswürdigen Zustand belässt. Der Bedürftige bleibt von der Hilfe abhängig. Am Ende kann ihn das nur lähmen oder sogar aggressiv machen.

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Einsatz für andere
Foto: Remi Walle, Unsplash

Dankbarkeit als Schlüssel zur Gerechtigkeit

Etwas anderes hat sich bei mir verändert, seitdem ich unmittelbar Menschen begegne, die in Armut leben. Ich werde dankbarer. Ein schlechtes Gewissen zu haben, setzt unter Druck oder geht der Not am Ende aus dem Weg. Dankbarkeit befreit zum verantwortlichen Handeln. Es ist zuerst die Freiheit, zu empfangen und mich an dem zu freuen, was Gott gibt. Es ist dann die Freiheit, mich auf den Weg zu machen und genau hinzuschauen; und auch die Freiheit, auf etwas verzichten und verantwortlich teilen zu können.

Wer übernimmt Verantwortung in einer Welt, die aus den Fugen geraten ist? Nicht nur die Politik sei verantwortlich, Ungerechtigkeit zu korrigieren, meinte Kofi Annan auf dem Deutschen Evangelischen Kirchentag 2015 in Stuttgart. Solidarität beginne beim Einzelnen. Und Frank-Walter Steinmeier verstärkte das: „Gerade als Christen tragen wir Verantwortung für unser Handeln und Nicht-Handeln.“ Wegschauen dürfe keine Alternative sein. Der Mensch gerade in seiner Armut und in seiner Hoffnung auf Gerechtigkeit darf nicht vergessen werden.

Verantwortlich handeln als Beschenkte

Was bzw. wer aber treibt uns zum verantwortlichen Handeln? Dankbarkeit und die Frage nach Gott, die Frage danach, wem wir unser Leben verdanken und welche Macht uns treibt? Ohne die Frage nach Gott, ohne Vertrauen auf seine Gegenwart, seine Liebe, Freundschaft und Zuneigung werden wir zu Machern. Wo wir Macher sind und nicht mehr Beschenkte, halten wir krampfhaft fest, was wir selber gemacht haben, und können es nicht mehr loslassen. Und was wir festhalten, worum wir kämpfen, das kostet uns unendlich viel Kraft und Mühe, nimmt uns gefangen und macht uns unfrei für lebendige, heilsame Beziehungen.

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„Und seid dankbar“ (Kolosser 3,15): Im NT wird an vielen Stellen das Prinzip der Dankbarkeit hervorgehoben. Das gilt sowohl für die persönliche Ökonomie (Gesetz des Hauses) als auch für die Ökonomie der Gemeinde. Wie dankbar dürfen wir sein für unseren Wohlstand, weil er uns ermöglicht, helfen zu können! Dankbar zu sein und wirklich danken zu können, verändert unser Leben vom Habenwollen zum Empfangen, vom Festhalten zum Loslassen. Wir empfangen unser Leben aus Gottes Hand. Dankbarkeit hat in Gott seine Adresse.

Schlechtes Gewissen bleibt bei sich selber und der eigenen Gerechtigkeit stehen, die wiederhergestellt werden soll, damit man wieder ruhig schlafen kann. Ein dankbares Herz motiviert, sich für Gerechtigkeit im jeweiligen gesellschaftlichen Kontext und im globalen Zusammenleben einzusetzen. Ein dankbares Herz lässt uns hinschauen, wie es dem anderen geht und was ihm wirklich helfen kann. Das heißt nicht, den Menschen ihre Eigenverantwortung abzunehmen. Vielmehr muss jede Hilfe zur Verantwortung für das eigene Leben und zur Selbsthilfe ermutigen.

Eine Haltung der Dankbarkeit

Worauf richten wir zu Tagesbeginn unseren Blick? Für mich ist es die Kaffeemaschine und dann mein erster Becher guter Kaffee. Und dann bin ich einfach nur dankbar für diesen Kaffee und danke Gott für den Tag, der vor mir liegt, für die Zeit, die er mir schenkt. Dankbarkeit für die alltäglichen Dinge können wir einüben. Auch als Gemeinde in den Gottesdiensten. Was steht am Anfang? Der Dank Gott gegenüber, der uns überreich mit Leben beschenkt? Die vielen kleinen Alltäglichkeiten, können wir sie noch erkennen? Danken hilft. Nicht zuletzt danken wir für das, was Gott uns in seinem Wort zugesagt hat: „Ich bin bei euch!“

Natürlich rührt offensichtliche Ungerechtigkeit und schreiende Not unser Gewissen an. Schlimm, wenn es nicht so wäre. Schlimm ist, wenn wir dabei stehenbleiben und meinen, dass wir doch nichts tun können. Besser ist es, unser Gewissen aufrichtig zu befragen, warum wir es haben. Dann können wir unser Leben anschauen, dankbar werden und überlegen, was uns möglich ist. Mit einem dankbaren Herzen lernen wir, gut zu haushalten und verantwortungsvoll einzusetzen, was Gott uns anvertraut hat. „In Südosteuropa können wir mit wenig Geld viel bewirken“, wie Klaus Kanwischer, Geschäftsführer des Bundes FeG, einmal sagte. Eine gute Erkenntnis, die aus einem dankbaren Herzen entspringt.

Nicht zuletzt hat Gott uns eine Stimme gegeben. Damit sollten wir zuerst den Einen laut loben, dem wir unser Leben verdanken. Dankbar dafür, in einer freiheitlichen Demokratie leben zu dürfen, darf gleichzeitig unsere Stimme viel lauter werden, um im Namen Gottes auf Ungerechtigkeit aufmerksam zu machen und uns für die Benachteiligten und Bedürftigen einzusetzen. Unabhängig vom Erfolg unseres Einsatzes für eine gerechtere Welt werden wir ganz viel Dankbarkeit erleben.


Dieser Beitrag ist zuerst in Christsein Heute erschienen, dem Magazin des Bundes Freier evangelischer Gemeinden in Deutschland (FeG).

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