Obwohl wir selbst ungern in Schubladen stecken, bestimmen Klischees oft unseren Umgang miteinander. Was die Bibel damit zu tun hat, erklärt der Theologe Thorsten Dietz.
Bald bin ich es auch: Ein alter weißer Mann. Als ich den Ausdruck zum ersten Mal gehört habe, fand ich ihn nervig und ungerecht. Mir ist shon klar, was man damit meint. Überall ziehen sie die Strippen, diese alten weißen Männer: Vom DAX-Vorstand bis zum Vatikan, vom Olympia-Komitee bis in den kleinsten Sportverein. Trotzdem sind die allermeisten alten, weißen Männer keine großen Strippenzieher. Sie müssen oft selbst sehen, wo sie bleiben, und werden dabei nicht mal so alt wie Frauen! Warum stört mich dieses Klischee dann? Weil ich damit nicht verwechselt werden möchte. Ich will nicht als ein Exemplar eines solchen Allgemeinbegriffs enden. Ich will nicht „so einer“ sein, sondern ich selbst. Dieses Gefühl begleitet viele Menschen ihr Leben lang: die Geschiedene, den Schwarzen, die mit dem Kopftuch oder den Schwulen.
Klischees legen uns fest
Obwohl wir selbst oft ungern in Schubladen stecken, verwenden wir solche Einordnungen, weil sie Orientierung stiften. Sie geben uns (vermeintliche) Sicherheit, was wir von anderen (oder uns selbst) erwarten können. Daher bestimmen diese Konzepte unseren Umgang mit anderen Menschen. Natürlich glaubt kaum einer, dass solche Zuschreibungen jedes davon betroffene Individuum vollständig erfassen. Im Gegenteil, man räumt großzügig ein, dass der Einzelne sich davon irgendwie abheben mag. Aber selbst, wenn das klar ist: Klischees legen fest, mindestens die Aufmerksamkeit. Und das macht viel kaputt.
Was ist mit positiven Klischees? Schwarze machen die Erfahrung, dass ihnen per se bestimmte Dinge zugetraut werden: Dass sie rhythmisch tanzen können, gefühlvoll singen, schnell laufen oder gut boxen. Aber auch das sind Klischees. Wenn jemand beim Laufen richtig gut ist oder auf der Bühne explodiert, sagt man leicht: Klar, die Schwarzen haben das im Blut. Und man sieht nicht mehr, wie viel Training oder eine außergewöhnliche Begabung dahintersteckt. Oder man kommt zu absurden Abwertungen wie: Du kannst nicht gut singen, obwohl du schwarz bist? Auch positive Klischees schaden.
Heute werden Männer nicht mehr dafür gelobt, wenn sie den Kinderwagen schieben. Aber in meiner Zeit wurde ich als junger Vater immer mal wieder öffentlich dafür wertgeschätzt, wenn ich ein Kind wickeln oder es beruhigen konnte. Meine Frau nie. Dass eine Frau das kann und macht, galt als selbstverständlich. Lob kann sehr ungerecht sein.
Aber sind Klischees nicht unvermeidbar? Ja, sie gehören zur Alltagsorientierung. Für touristische Zwecke ist es wohl wirklich nicht zu umgehen, wenn kulturelle Tendenzen runtergebrochen werden auf Kurzformeln wie „Japaner ekeln sich, wenn man sich vor ihren Augen die Nase putzt.“ Jede erste Erkenntnis grober Zusammenhänge wird so oder so klischeehaft sein. Die Kunst besteht darin, an dieser Stelle nicht stehen zu bleiben. Und dafür bietet die Bibel sehr hilfreiche Anregungen.
Biblische Festschreibungen
Könnte man nicht sagen: Selbst die Bibel enthält Klischees? Was ist denn beispielsweise mit der verstörenden Aussage im Titusbrief: „Es hat einer von ihnen gesagt: ‚Die Kreter sind immer Lügner, böse Tiere und faule Bäuche.‘ Dieses Zeugnis ist wahr.“ (Titus 1,12-13)
Klischees waren unter den Zeitgenossen Jesu weitverbreitet. Viele hatten stereotype Vorstellungen von Samaritern und Zöllnern, Römern und Prostituierten. Es ist interessant zu beobachten, wie Jesus damit umgeht. Seine Handlungen und Geschichten sind in dieser Hinsicht sehr pointiert. Er erzählt von Samaritern, die entgegen aller Vorurteile dankbar (Lukas 17,11) und wohltätig (Lukas 10) sind. Er begegnet Zöllnern, die ihre Geldgier abstreifen (Lukas 19,1 ff.) und römischen Hauptleuten, die Gott bedingungslos vertrauen (Lukas 7,1 ff.). Er redet mit Prostituierten, die Gottes Liebe besser verstehen als die Schriftgelehrten (7,36 ff.).
In seiner Erzählung „Der andorranische Jude“ beschreibt der Schriftsteller Max Frisch die Geschichte eines Mannes, der Zeit seines Lebens für einen Juden gehalten wurde. Erst als er von Antisemiten ermordet wird, erfährt das Dorf: In Wahrheit war er ein Findelkind, das von einer jüdischen Familie aufgenommen wurde. Er war einer von ihnen. Aber sie haben es nie bemerkt, so stark war das Klischee. Und erschrocken sehen sie: dieses Klischee selbst ist eine Lüge, die tödlich sein kann. Frisch macht die Moral von der Geschichte überdeutlich. Du sollst dir kein Bildnis machen, heißt es in der Bibel. Wir können von Gott nicht reden ohne Zuschreibungen. Aber wir dürfen ihn damit nicht verwechseln. Jeder Mensch ist ein Ebenbild Gottes. Jeder Einzelne von uns ist versehen mit Ewigkeit im Herzen (Prediger 3,11). Darum gehen auch wir nie in den Bildern, die wir uns voneinander machen, auf. Die Ehrfurcht vor Gott führt in der Bibel zur Ehrfurcht vor dem Menschen, zum Bewusstsein: Jeder Einzelne ist und bleibt ein Geheimnis. Die Bibel formuliert diese Einsicht mit dem Satz: „Ein Mensch sieht, was vor Augen ist. Der HERR aber sieht das Herz an.“ (1. Samuel 16,7)
Bild und Wirklichkeit
Warum sind solche Klischees oder Stereotype aus christlicher Sicht also problematisch? Klischees engen ein. Klischees können das Miteinander vergiften. Klischees können tödlich werden. Gruppenbezogene Menschenfeindschaft entsteht nicht aus dem Nichts. Es beginnt immer mit der Unterscheidung von Wir und Die. Es geht weiter mit Zuschreibungen aller Art, negativer, auch positiver, die ihrerseits die Stimmigkeit wesentlicher Abgrenzung unterstreichen. Unter Umständen wird aus diesem vermeintlichen Wissen eine Praxis. Das vermeintliche Wissen verhindert Neugierde und Gespräche. Gott schuf die Menschen als Abbild seiner selbst. „Rassen“ haben wir erfunden. Gott schuf den Menschen männlich und weiblich, wie es in der Bibel wörtlich heißt. Was das alles bedeuten kann, konstruieren wir, jede Kultur ein wenig anders. Weiß ist eine Farbe. Weißsein ein Privileg. Alle sehen es. Nur viele Weiße nicht. Wir leben mit Bildern im Kopf. In der Bibel können wir lernen, diese Bilder niemals mit der Wirklichkeit zu verwechseln.
Der Artikel von Thorsten Dietz erschien in der Zeitschrift DRAN (Ausgabe 02/2021; zum Thema Klischees). DRAN erscheint regelmäßig im SCM Bundes-Verlag, zu dem auch Jesus.de gehört.