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Zwischen Golgatha und Tempelberg: Sechs Jahre in Jerusalem

Steffi und Guido Baltes haben sechs Jahre lang in der Altstadt von Jerusalem gelebt. In einem Rückblick sprechen sie über Maschinengewehre unterm Schlafzimmerfenster und Osternächte in der Grabeskirche.

Für viele Israel-Reisende ist sie wegen ihrer engen und verwinkelten Gassen, dem Gedränge der Touristen, Pilger und Verkäufer, der fremden Gerüche und Geräusche ein bedrohlicher, unheimlicher und fremder Ort. Für uns ist sie mit den Jahren zur Heimat geworden: die Altstadt von Jerusalem.

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Mitten in der Altstadt, unweit des Hügels Golgatha, an der achten Station der „Via Dolorosa“, liegt das Johanniter-Hospiz, in dem wir gewohnt haben. 1854 wurde es vom damaligen preußischen König als Herberge für wandernde Handwerksburschen eröffnet. 1993 wurde die Leitung des Hauses vom Christus-Treff Marburg übernommen. Seither dient es als Ort des Gebets und der Begegnung und als Unterkunft für Reisende und Pilger.

Guido: Was mich an diesem Ort besonders fasziniert hat, ist das enge Miteinander so vieler Gegensätze: Hier, im Herzen Jerusalems, kommen wie in einem Brennglas all die verschiedenen und bunten Facetten dieser Stadt an einem Punkt zusammen. Glaube und Politik, Religion und Alltagsleben. Vor der Türe ziehen singend und betend Pilgergruppen aus aller Herren Länder vorüber, während im Nachbarhof die arabischen Kinder Fußball spielen und sich um ihr Bobbycar streiten. Unter unserem Schlafzimmerfenster stehen bewaffnete Polizisten Wache und erinnern an den Konflikt, der hier allgegenwärtig ist, und aus der Kapelle nebenan erklingen deutsche Lobpreislieder zur Gitarre. So bunt ist die Altstadt. Und deshalb ein Ort, an dem man so viel lernen kann. Über sich selbst. Über die anderen. Über das Miteinander. Und über Gott. „Von Zion wird Weisung ausgehen“, heißt es in der Bibel (Jesaja 2,3). Und in der Tat: Lernen kann man hier einiges.

Die Bibel zum Anfassen

Steffi: Eines der größten Geschenke, die Gott mir in unserer Zeit in Jerusalem gemacht hat, ist eine neue Liebe zur Bibel. Ihre Erzählungen und die biblischen Orte sind mir viel realer geworden und näher gerückt. Die Altstadt Jerusalems und andere Orte wurden für mich zum lebendigen „Bibelparcours“ und „Gebetsgarten“.

Zwei Menschen stehen vor Jerusalem.
Steffi und Guido Baltes vor der Altstadt Jerusalems. Foto: Privat

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Nur drei Minuten zu Fuß von unserem Haus entfernt befindet sich z. B. der Hügel Golgatha und das Grab von Jesus, zugleich auch der Ort seiner Auferstehung. Kaiser Konstantin hat diese Orte mit einer riesigen Kirche überbaut, deren Überreste westliche Christen heute „Grabeskirche“, östliche Christen aber zutreffender „Auferstehungskirche“ nennen. Mitten im Alltag bin ich dort manchmal hineingegangen und habe mich einen Augenblick in die Kapelle auf Golgatha gesetzt, um mich daran zu erinnern, was Jesus für uns getan hat.

An jedem Palmsonntag konnten wir zum nahegelegenen Ölberg laufen, um an der großen Prozession von Christen aus vielen Nationen der Erde teilzunehmen, die sich von Betfage den Ölberg hinunterschlängelt – mit Palmwedeln, Liedern und Gebeten. Dann kam es mir oft so vor, als würde ich wirklich im Gefolge von Jesus nach Jerusalem einziehen. Und am Heiligen Abend sind wir von unserem Haus aus ins nur acht Kilometer entfernte Bethlehem gelaufen, um zusammen mit Menschen aus aller Welt die Geburtsgrotte zu besuchen. Dabei hatte ich das Gefühl, wie damals die Hirten und Sterndeuter an der Krippe von Jesus zu stehen. Einmal konnten wir sogar mit anderen Deutschen zusammen Paul Gerhardts „Ich steh an deiner Krippen hier“ singen.

Ich durfte „zuhause bei Jesus“ sein und sein Geburtsland kennenlernen. Das hat mich reich beschenkt und mir viele neue Einsichten in das Land der Bibel eröffnet.

Von jüdischen Nachbarn lernen

Guido: Obwohl wir selbst im arabischen Teil der Altstadt wohnten, waren es nur wenige Schritte in das jüdische Viertel mit seinen Synagogen und Plätzen und zur sogenannten „Klagemauer“, dem Jahrhunderte alten jüdischen Gebetsort am Fuß des Tempelberges. Hier ist für mich sichtbar und greifbar geworden, was ich eigentlich aus Büchern schon wusste: dass mein christlicher Glaube eng und unauflöslich verbunden ist mit dem jüdischen Volk, seinem Glauben und seiner Geschichte. Aber nicht nur die räumliche Nachbarschaft, auch die Einbettung in den jüdischen Kalender und den Wochenrhythmus machen mir diesen Zusammenhang mit zuverlässiger Regelmäßigkeit deutlich: Freitag abends sind wir oft in der Dämmerung zur Klagemauer spaziert, um dort den Beginn des Schabbat zu erleben. Die ruhige und zugleich heilige Freude, die dieser Ort in diesem Moment ausstrahlt, haben mir einen Blick dafür geöffnet, dass der Schabbat, wie so viele Gebote der Bibel, keine Einschränkung ist, von der man befreit werden muss. Sondern ein Geschenk, das das Leben fördert.

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Hier in der Altstadt von Jerusalem gehört das jüdische Leben zum Alltag. So wie in meinem Neuen Testament. Vieles, was ich in meiner Bibel lese, ergibt erst dann Sinn, wenn ich es im Kontext eines solchen jüdischen Alltags lese. Und so waren meine jüdischen Nachbarn für mich Herausforderung und Bereicherung zugleich: Herausforderung, weil so viele Klischees und Vorurteile, die ich in mir trug, in sich zusammenfielen, je besser ich meine Nachbarn kennenlernte. Und gleichzeitig Bereicherung, weil sie mir einen Weg öffneten in die Alltags- und Glaubenswelt meiner Bibel.

Begegnung der Religionen

Steffi: Heute ist Jerusalem heiliger Ort von Christen, Juden und Muslimen. Und deshalb auch ein guter Ort, das Miteinander der Religionen einzuüben. Vieles, was jetzt schon in Jerusalem Alltag ist, steht uns in Europa erst noch bevor. Die meisten Menschen in Jerusalem gehen sehr offen mit dem Thema „Religion und Glaube“ um: Glaube ist Gesprächsthema im Alltag. Beim Einkauf in einem muslimischen Geschäft in unserem Viertel konnte es schon mal vorkommen, dass ich gefragt wurde, ob wir mit unserem Haus so eine Art Kloster seien oder warum wir Christen eigentlich drei Götter haben (ein weit verbreitetes Missverständnis). Den jüdischen Oberrabbiner im Nachbarviertel haben wir mit unserer Gemeinde regelmäßig besucht und über Gemeinsamkeiten und Unterschiede im Glauben diskutiert. Als es einmal um unsere unterschiedlichen Messiaserwartungen ging, schloss der Rabbiner am Ende augenzwinkernd: „Wir warten mal ab. Dann werden wir ja sehen, wer der Messias ist, der am Ende der Tage kommt – oder wiederkommt.“

Einige Male besuchten uns jüdische Freunde zu Weihnachten und freuten sich darüber, eines der höchsten christlichen Feste mitfeiern zu können. Als wir gemeinsam sangen „Noel, Noel, born is the king of Israel“, hoffte ich dabei insgeheim, dass der Friedefürst Jesus eines Tages wirklichen Frieden schaffen wird in dem Land, in dem Weihnachten zuhause ist.

Zwei Menschen stehen vor einem antiken Tor.
Guido Baltes mit einem Passanten in der Jerusalemer Altstadt. Foto: Privat

Es hat mich beeindruckt, dass der Glaube im Alltag ein ganz selbstverständliches Thema ist, bei Juden wie bei Muslimen. Glaube ist nichts Privates, das heimlich hinter verschlossenen Türen praktiziert wird. Glaube wird im Alltag gelebt: Einmal kam ich um die Mittagszeit in ein muslimisches Geschäft. Seltsamerweise war niemand zu sehen, obwohl die Tür offenstand. Dann bemerkte ich den Ladenbesitzer, der gerade auf seinem Gebetsteppich hinter der Theke sein Mittagsgebet verrichtete. Ich verließ etwas verwirrt das Geschäft und fragte mich, warum es mir mitunter so schwerfällt, in einem Restaurant vor dem Essen kurz meine Hände zu falten und zu beten.

Und noch etwas habe ich gelernt: Anders als bei uns in Deutschland werden in der Begegnung zwischen Religionen die Unterschiede nicht versteckt oder verwischt, sondern offen beim Namen genannt. Jeder ist stolz auf das, was er glaubt. Es gehört zum guten Ton, den Glauben zu bekennen und nicht zu verleugnen. Und gleichzeitig den anderen zu respektieren, wenn er das Gleiche tut. Der Schlüssel für ein gutes Miteinander liegt im Ernstnehmen der Religion, nicht darin, sie zu verstecken.

Konflikt und Versöhnung

Guido: Natürlich ist in der Altstadt von Jerusalem auch die schmerzliche Realität des politischen Konfliktes allgegenwärtig: Die Altstadt gehört zu den „umstrittenen Gebieten“, deren Zugehörigkeit zu Israel von der internationalen Staatengemeinschaft nicht anerkannt wird. Soldaten patrouillieren an jeder Straßenecke, aber auch die vielen unscheinbaren Gedenkplaketten für Opfer des Terrors, die hier in den Straßen starben, erinnern daran, dass der Traum vom Frieden noch ferne Zukunftsmusik ist. Schon die Aufteilung der Altstadt in verschiedene Viertel, je nach Religion und Volkszugehörigkeit, macht die Zerrissenheit dieses Landes deutlich. Hier ist es nicht möglich, jüdische und arabische Wohngebiete durch Mauern oder Zäune voneinander zu trennen, weil die Nahtlinie mitten durch die engen Gassen führt. Eine saubere Trennung in „zwei Staaten“, wie sie von westlichen Beratern und Beobachtern seit Jahren als Allheilmittel vorgeschlagen wird, scheitert hier an den Realitäten. Es wird deutlich: Frieden kann es nur geben, wenn sich in den Herzen der Menschen etwas ändert und wenn beide Seiten bereit sind, auf den anderen zuzugehen und ihn als Bruder oder Schwester zu akzeptieren, auch wenn er oder sie anders ist. Hier, in der Altstadt, wird deutlich, dass Versöhnung am Ende wichtiger ist als Diplomatie und Verhandlungsgeschick. Leider haben wir es oft erlebt, dass Christen weniger zur Versöhnung als vielmehr zur Verschärfung des Konfliktes beigetragen haben: Die einen kombinieren ihre Liebe zu Israel mit einem erstaunlich unverhohlenen Hass gegen Araber und Muslime. Die anderen bemühen unter dem Vorwand der Solidarität uralte antisemitische Klischees und entschuldigen sogar den Terror im Namen Gottes. Nur wenige machen Ernst mit dem biblischen Auftrag, Botschafter der Versöhnung zu sein (2. Korinther 5,20) und dem politischen Feind mit Liebe zu begegnen (Matthäus 5,44). Sie sind für mich Vorbild und Hoffnungsträger geworden.

Die Vielfalt der Gemeinde Jesu

Steffi: Jerusalem ist ein wundervoller Ort, um in die verwirrende, aber auch beglückende Vielfalt christlicher Konfessionen einzutauchen. Hier konnte ich lernen: Es gibt so viele Christen, die ganz anders aussehen, reden, singen und beten als ich … und die doch denselben Jesus lieben und verehren wie ich auch.

Einen dieser „Aha-Momente“ hatte ich in der Osternacht in der Grabeskirche, die von Christen verschiedenster Konfessionen nur so wimmelte. Da war z. B. die junge russisch-orthodoxe Frau, die in einer Kapelle eine Kerze anzündete und ein Gebet sprach. Oder ein junges armenisches Paar, ins Gespräch vertieft mit einem Mönch der armenisch-apostolischen Kirche (Armenien bekehrte sich bereits um 301 n. Chr. zu Jesus). Auf dem Dach der Grabeskirche hatten sich in weiße Gewänder gekleidete äthiopische Christen auf dem Boden niedergelassen und lauschten einem engagierten Prediger. Ich verstand nichts außer dem Wort „Yesus“ und ich spürte: Hier herrscht Gottes Geist. In der koptischen Kapelle an der Rückseite des heiligen Grabes feierten Mönche einen Gottesdienst und ägyptische Christen stimmten in die wehmütig-melodischen Gesänge mit ein. Für mich war diese Osternacht in der Grabeskirche wie ein kleines Fenster zum Himmel und ein Vorgeschmack darauf, wie es einmal sein wird, wenn Menschen aller Nationen und Sprachen vor dem Thron Gottes ihre Loblieder singen.

Lieb geworden sind mir in Jerusalem auch meine katholischen Geschwister. Nur ein paar Schritte von unserem Haus entfernt, an der 6. Station der Via Dolorosa, leben z. B. einige „Kleine Schwestern Jesu“, eine Ordensgemeinschaft, die durch das Vorbild von Charles de Foucauld inspiriert wurde. Ihr praktisches, demütiges Leben im Dienste der Ärmsten der Armen hat mich beschämt und beeindruckt.

Eingang des Johanniter-Hospizes.
Eingang des Johanniter-Hospizes an der achten Station der Via Dolorosa. Hier lebt und arbeitet auch heute noch ein Team des Christus-Treffs Marburg. Steffi und Guido Baltes wohnten dort von 2003 bis 2009. Foto: Privat

Faszinierend war für mich auch immer wieder die Begegnung mit jesusgläubigen jüdischen Freunden in Jerusalem – Juden, die Jesus als ihren Messias angenommen haben und ihm nachfolgen, ganz ähnlich wie die ersten Anhänger des „neuen Weges“ vor 2000 Jahren. Gemeinsam trafen wir uns regelmäßig, um für die Menschen des Heiligen Landes zu beten, zusammen mit katholischen und evangelischen Christen aus westlichem Hintergrund und auch arabischen Christen.

Die arabischen Christen des Heiligen Landes – heute nur noch eine verschwindend kleine Minderheit – gehören zu denen, die die gute Botschaft von Jesus schon in der Anfangszeit des Christentums angenommen haben.

Viele der Begegnungen mit Christen anderer Konfessionen in Jerusalem haben mir deutlich gemacht: Wir westlichen Christen sind nicht der „Nabel der Welt“, sondern wir stehen auf den Schultern derer, die lange, lange vor uns da waren und für den Glauben an Jesus gelebt, gelitten und ihn bewahrt haben – in dem Land, in dem alles begann.

Der rote Faden im Gewirr

Guido: Sucht man nach dem gemeinsamen Nenner der vielen unterschiedlichen Erfahrungen, die wir aus Jerusalem mitgenommen haben, dann ist es vielleicht dieser: Wohl an kaum einem Ort der Welt prallen die Gegensätze des Lebens, des Glaubens, der Politik und des Alltags so geballt aufeinander wie hier. „Jerusalem ist gebaut als eine Stadt, in der man zusammenkommen soll“, heißt es in Psalm 122,3. Aber mitten durch dieses Getümmel zieht sich der rote Faden der Geschichte Gottes: Er ist es, der genau hier, an diesem Ort, Frieden gemacht hat zwischen sich selbst und uns, zwischen denen in der Ferne und denen in der Nähe. Und deshalb lädt der Psalm dazu ein, mit unserem Leben an diesen roten Faden anzuknüpfen: „Sucht den Frieden Jerusalems!“ (Psalm 122,6).

Steffi Baltes ist Pfarrerin, Lektorin und Autorin. Sie gehört zum Leitungsteam des Christus-Treffs Marburg. Ihr Mann, Dr. Guido Baltes, unterrichtet Neues Testament am MBS Bibelseminar, der Theologischen Hochschule Tabor in Marburg und ist Lehrbeauftrager für Neues Testament an der Philipps-Universität Marburg.

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