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Mensch, lass deine Gefühle raus!

Gerade Christen fällt es schwer, offen mit ihren Emotionen umzugehen, meint die Psychotherapeutin Angelika Heinen. Sie erklärt, woran das liegt und was hilft.

Frau Heinen, Sie schreiben in Ihrem Buch „Gefühle brauchen frische Luft“, dass sich gerade Christinnen und Christen oft schwertun, ehrlich, authentisch und gesund mit ihren Gefühlen umzugehen. Woran liegt das?

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Angelika Heinen: Grundsätzlich tun sich viele Menschen schwer, ehrlich und authentisch mit Ärger, Angst und Traurigkeit umzugehen. Zum einen, weil diese Gefühle für sie selbst sehr unangenehm sind und wir Menschen alles Unangenehme gerne vermeiden wollen. Zum anderen gehen viele Menschen davon aus, dass diese Gefühle auch in ihrer Umwelt nicht gut ankommen, und verbergen oder überspielen sie deshalb.

Für Christinnen und Christen kommt nun noch eine besondere Schwierigkeit hinzu, die ich den „frommen Anspruch an unsere Gefühlswelt“ nenne. Damit meine ich die Erwartung, dass es uns, wenn wir mit Jesus leben, rundherum gut gehen müsste. Er ist unser Licht, unsere Kraft und Zuversicht! In ihm finden wir Halt und Trost, Liebe und Vergebung! Das ist die gute Nachricht, die wir lesen, hören und predigen und der ich auch voll zustimmen kann.

Wir leiten daraus aber leider häufig ab: „Wenn ich mit Jesus ja all das habe, dann gibt es doch keinen Grund mehr, traurig zu sein, Angst zu haben oder mich zu ärgern!“ Wenn wir dann noch Bibelverse lesen wie „Freut euch allezeit“ (Philipper 4,4), „Seid dankbar in allen Dingen“ (1.Thessalonicher 5,18) oder „Fürchtet euch nicht“ (Jesaja 43,19), wächst in uns die Überzeugung, dass unser Leben von Freude, Dankbarkeit und Vertrauen geprägt sein sollte, wohingegen wir Angst, Traurigkeit und Ärger mit Gottes Hilfe längst überwunden haben sollten.

„Diese Gefühle sind keine Fehler oder Schwächen“

Wie kann man gut mit diesem Anspruch umgehen?

Heinen: Zuallererst dürfen wir verstehen, dass Gott selbst diesen Anspruch gar nicht an uns stellt, sondern dass es ein Druck ist, den wir uns selbst machen. Gott hat uns als fühlende und emotional lebendige Beziehungspartner geschaffen und hat jedem Menschen eine „Grundausstattung“ von sieben Gefühlen mitgegeben, zu denen auch Ärger, Angst und Traurigkeit gehören. Diese Gefühle sind keine Fehler oder Schwächen von uns, sondern sind dringend notwendig und wertvoll, um in dieser Welt leben zu können.

Sogar Jesus selbst konnte richtig ärgerlich werden, er hat getrauert und echte Todesangst ausgestanden, obwohl er doch so innig mit Gott verbunden war wie niemand sonst. Ein intensives Gottvertrauen schaltet also nicht automatisch unangenehme Gefühle aus. Insofern ist dieser Anspruch an uns schlichtweg falsch und das Beste, was wir tun können, ist, uns davon freizumachen und uns mit Gottvertrauen diesen Gefühlen ehrlich zuzuwenden.

Sie beschreiben im Buch eine Szene, in der Sie sich in einem Gottesdienst von der geballten Positivität – fröhliche Lobpreislieder, eine Predigt über die Aufforderung, sich zu freuen, und gut gelaunte Gottesdienstbesucher – überfordert gefühlt haben, weil es Ihnen selbst nicht so gut ging. Was kann man in solch einer Situation tun?

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Heinen: Ich kann nur Mut machen, sich nicht um einer fröhlichen Fassade willen zu verstellen, sondern sich selbst treu zu bleiben und die eigenen Gefühle zu akzeptieren und ernst zu nehmen. Wenn ich mit den Texten im Lobpreis nichts anfangen kann, dann bleibe ich still, schließe die Augen und bringe Gott das, was ich bringen kann: Meine Traurigkeit, meine Erschöpfung, Verletztheit oder was auch immer mich belastet.

Und dann besteht mein persönlicher Lobpreis darin, dass ich bete „Danke, Herr, dass du für mich da bist, auch wenn ich mich gerade total fehl am Platz fühle.“ Und in dieser ehrlichen Begegnung mit Gott erfahre ich oft eine viel stärkere Ermutigung als Lobpreis und Predigt hätten bewirken können.

Sollte man auf Nachfrage ehrlich sagen, dass es einem nicht so gut geht – auch wenn nach einem Gottesdienst oft nicht wirklich Raum und Zeit für ein langes Gespräch ist?

Heinen: Wenn man in der Nachfrage ehrliches Interesse spürt und der Person vertraut – ja, dann würde ich dazu ermutigen, es zu sagen. Selbst wenn man nur mitteilt: „Es geht mir gerade nicht so gut, aber im Moment möchte ich auch nicht weiter darüber reden.“ Daraus kann ja entstehen, dass die andere Person im Gebet an einen denkt oder während der Woche noch einmal nachfragt, wie es geht.

Ich würde mir sehr wünschen, dass wir in Gemeinden offener damit umgehen, dass das Leben mit Jesus nicht nur Sonnenschein bedeutet und wir miteinander auch Stürme, Regen und schwere Unwetter aushalten. Und ich sage bewusst „aushalten“, weil das auch bedeuten kann, tröstende Worte und positive Verheißungen mal zurückzuhalten und stattdessen einfach da zu sein, zu verstehen und mitzufühlen, – so wie Jesus es tut.

„Wir sollten nur nicht versuchen, unangenehme Gefühle damit ‚vom Tisch zu wischen‘, sondern sie als berechtigt akzeptieren.“

Angelika Heinen

Sie beobachten, dass Christen häufig versuchen, auch in den schwersten Situationen, noch etwas Gutes darin zu finden. Warum?

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Heinen: Eines von vier Grundbedürfnissen des Menschen ist das Bedürfnis nach Kontrolle und Orientierung. Wir versuchen, das Leben zu verstehen, wir suchen einen Sinn und fühlen uns immer dann besonders hilflos, wenn wir in manchem, was passiert, überhaupt keinen Sinn entdecken können.

Als Christen glauben wir, dass Gott als Schöpfer und Herrscher des Universums alles in der Hand hat und dass er in seinem Wesen ganz und gar gut und voller Liebe ist. Also wollen wir davon ausgehen, dass auch schreckliche Situationen etwas Gutes beinhalten müssen oder zu etwas Gutem führen müssen, denn sonst müssten wir entweder an Gottes Wesen oder an seiner Vollmacht zweifeln.

Letztlich sind wir hier ganz nah an der Frage, warum es überhaupt Leid in der Welt gibt. Dass es auf diese Frage keine befriedigende Antwort gibt, macht uns manchmal fast verrückt, und die Suche nach dem „Guten“ in allem Schweren ist auch eine Strategie, damit umzugehen. Und diese Strategie kann vor Verzweiflung oder Verbitterung schützen. Wir sollten nur nicht versuchen, unangenehme Gefühle damit „vom Tisch zu wischen“, sondern sie als berechtigt akzeptieren.

Was wäre eine gesunde Reaktion auf solch schwere Situationen?

Heinen: Gesund wäre eben ein „Sowohl-als-auch“ von meinen Gefühlen und meinem Glauben an einen guten Gott. Wahrnehmen und akzeptieren, wie ich mich in dieser schweren Situation fühle, und gleichzeitig auch daran festhalten, dass Gott tatsächlich gute Gedanken über uns hat.

Aber auch die Spannung aushalten, dass, obwohl es einen guten Gott gibt, eben auch Dinge passieren, die einfach nur sinnlos und grausam sind und an denen ich nichts Gutes finden kann. Ich denke, unser Glaube und unser Vertrauen in Gott dürfen darin Ausdruck finden, dass wir ungelöste Fragen stehen lassen und Spannungen aushalten können, weil wir jemanden bei uns haben, der in all dem mit uns ist.

Woher kommt die Überzeugung, dass Gottvertrauen und Angst sich ausschließen müssen?

Heinen: Na ja, es ist ja nicht von der Hand zu weisen, dass wir in der Bibel immer wieder lesen: „Fürchte dich nicht“ und so weiter. Wir werden immer wieder daran erinnert, dass Gott treu ist und für uns sorgt. Und wir haben sicher auch alle schon erlebt, dass wir im Gebet auf einmal ruhig wurden über ein Thema, das uns vorher Angst gemacht hat.

Dann gibt es noch biblische Geschichten wie die von der Sturmstillung, wo Jesus zu seinen Jüngern sagt: „Warum seid ihr so furchtsam? Habt ihr denn noch keinen Glauben?“ (Matthäus 8,23-26). Solch ein Text verleitet natürlich dazu zu denken: „Wer Angst hat, hat keinen Glauben.“ Ich bin aber überzeugt, dass Gottvertrauen und Angst sich nicht wie ein Kippschalter verhalten – Gottvertrauen an, Angst aus – sondern dass sie eher wie an einem Mischpult zusammengeschaltet sind und unabhängig voneinander hoch oder niedrig geregelt sein können.

Wir können große Angst vor einer schwierigen Situation haben und gleichzeitig ganz fest vertrauen, dass Gott uns hindurchhilft. Dieses Vertrauen nimmt uns aber nicht die Angst vor Schmerzen, vor einem Verlust oder Ähnlichem.

„Wenn wir das verinnerlicht haben, gibt es keine ‚falschen‘ Gefühle mehr – allenfalls hilfreiche und weniger hilfreiche Gefühle.“

Wie geht man gut mit dabei entstehenden Schuldgefühlen um, dass man„falsch“ fühlt?

Heinen: Eine Haltung, die wir einüben können, ist, uns selbst, unsere Gedanken und Gefühle weniger zu bewerten und eher zu beobachten bzw. wertschätzend und aufmerksam wahrzunehmen. In meinem Buch stelle ich einen therapeutischen Ansatz vor (die Akzeptanz- und Commitment-Therapie nach Steve Hayes), die sehr wertvolle, praktische Werkzeuge bietet, um uns diese Haltung anzueignen und in guter Weise Verantwortung für unsere Gefühle und Gedanken zu übernehmen.

Wenn wir das verinnerlicht haben, gibt es keine „falschen“ Gefühle mehr – allenfalls hilfreiche und weniger hilfreiche Gefühle. Und selbstverständlich dürfen wir mit all dem Wust an „falschen“, unangenehmen Gefühlen, Zweifeln und Schuldgefühlen zu Gott kommen und sie ihm „hinwerfen“. Auch die Gefühle, für die wir uns zutiefst schämen, hält Gott ganz gelassen aus und freut sich, wenn wir sie ihm anvertrauen.

Gibt es auch positive Aspekte an diesen unangenehmen Gefühlen, die wir lieber vermeiden würden?

Heinen: Auf jeden Fall! Sehr viele sogar und die sollten wir unbedingt kennen! Gefühle sind ganz wichtige Botschafter unserer Bedürfnisse und zeigen uns sehr deutlich an, wenn wichtige Grundbedürfnisse nicht gestillt sind. Gleichzeitig haben die Gefühle auch eine ganz wichtige soziale Funktion, denn sie regulieren auch, wie wir uns gegenüber unserer Umwelt verhalten und wie unsere Umwelt wiederum auf uns reagiert.

Es entsteht dabei ein faszinierender Kreislauf, in dem unsere Psyche quasi für sich selbst sorgt, wenn wir sie nicht daran hindern. Nicht zuletzt ist Ärger (das wahrscheinlich unbeliebteste Gefühl bei uns Christen) zudem noch ein enorm starker Motor für Veränderung und gibt uns Energie, Entschlossenheit und Mut.

„Welche drei Gefühle sind mir heute begegnet?“

Wie finde ich heraus, welches Gefühl meinen Alltag am stärksten bestimmt?

Heinen: Eine schöne und einfache Übung dazu ist, sich am Ende des Tages Zeit zu nehmen und eine kurze Rückschau zu halten: „Welche drei Gefühle sind mir heute begegnet?“ Ich empfehle, das in einer Art Mini-Tagebuch aufzuschreiben – wenn man möchte, auch noch mit ein paar Stichworten dazu, in welcher Situation das Gefühl aufgetreten ist. Wer sich eine solche Routine angewöhnt, geht langfristig auch achtsamer durch den Tag, steht in einem guten Kontakt mit seinen Gefühlen und Bedürfnissen und kann lernen, so mit ihnen umzugehen, dass sie ihn eben nicht beeinträchtigen.

Wie finde ich einen authentischen und gesunden Umgang damit?

Heinen: Es gibt wertvolle psychologische Strategien und Werkzeuge dazu und daneben die Ebene unseres Glaubens und unserer Gottesbeziehung. Beides ergänzt sich ganz fantastisch, sodass wir da einen großen Schatz an Möglichkeiten haben, den ich in meinem Buch ausführlich vorstelle.

„Gott selbst empfindet auch Traurigkeit und Ärger und in der Person von Jesus hat er sogar große Angst durchlitten. Wir müssen ihm also nicht erklären, wie es uns geht und warum, weil er es besser weiß als wir selbst. „

Angelika Heinen

Inwiefern kann uns die Beziehung zu Gott dabei helfen, statt zusätzliche Schuldgefühle auszulösen?

Heinen: In Gott haben wir ein Gegenüber, das all unsere Gefühle kennt und versteht. Er selbst hat sie uns „in die Wiege gelegt“ bzw. geschenkt. Das bedeutet, wenn jemand weiß, wie man damit umgehen kann, dann er. Gott selbst empfindet auch Traurigkeit und Ärger und in der Person von Jesus hat er sogar große Angst durchlitten. Wir müssen ihm also nicht erklären, wie es uns geht und warum, weil er es besser weiß als wir selbst.

Und weil er uns vorbehaltlos und bedingungslos liebt, können wir auch alles mit ihm teilen und sogar die Gedanken bei ihm aussprechen, für die wir uns schämen. Ich selbst habe das schon sehr radikal getan. Es hat mich befreit, hat mich Gottes Liebe intensiv spüren lassen und war für mich ein echtes Schlüsselerlebnis im Umgang mit meinen Gefühlen.

Vielen Dank für das Gespräch!

Die Fragen stellte Melanie Carstens.

Angelika Heinen lebt im Rheinland und arbeitet dort als Psychotherapeutin in einer Gemeinschaftspraxis. In ihrem Buch „Gefühle brauchen frische Luft – Ehrlich und gesund mit Ärger, Angst und Traurigkeit umgehen“ zeigt sie die Bedeutung und den positiven Wert unserer Gefühle wie Ärger, Angst und Traurigkeit auf und ermutigt dazu, sie ernst zu nehmen und auszudrücken, da Gott uns mit all unseren Gefühlen willkommen heißt.


Ausgabe 1/23

Dieses Interview ist in der Frauenzeitschrift JOYCE erschienen. JOYCE ist Teil des SCM Bundes-Verlags, zu dem auch Jesus.de gehört.

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3 Kommentare

  1. Christen sind nicht immer die besten Menschen

    Angelika Heinen hat gute und für mich sehr christliche Antworten gegeben. Ich kann hier – eigentlich ist dies immer so – dann auch nur für mich sprechen bzw. schreiben. Ich äußere durchaus hier auch unter jesus.de GEFÜHLE. Denn der Glaube ist Liebe zu Gott und den Mitmenschen, also auch neben dem Tun und einer dazu passenden Haltung, dann eben auch Emotion. Es ist ganz selbstverständlich und es wird jedem einleuchten, dass kaum jemand sich in einer heilen Welt empfindet. Gerade deshalb ist doch Gott Mensch geworden, um in dem zumeist von uns verursachten Schlamassel ganz unten in der Problemzone Gewalt und Tod, ein für alle Mal heilsam und zeichenhaft tätig zu werden: Niemand muss sich die Welt schönreden, immer lächeln, niemand braucht immer lieb zu sein, keiner darf alles hinnehmen wie es ist, und ebenso ist es zumeist falsch den ersten Stein zu werfen. Im anderen Menschen auch unsere eigenen Fehler zu sehen, gedanklich in seinen Schuhen zu laufen, wäre da schon ein sehr hoher Anspruch. Dass Christinnen und Christen sexuell verklemmt sind, oder sich da die Welt auch schön reden oder einfach machen, mag ja stimmen. Aber es sind nicht alle so. Es ist nicht jeder in der Bodentruppe der Frommen auch ein Verbrecher. Sexuelle Gewalt gibt es leider in allen nahen Beziehungen. Das alleine immer wieder zu bemerken, könnte schon ein Stein des Anstoßes sein. Wer wirklich dem Mann aus Nazareth auf Erden nachfolgen will, muss zuerst immer den Balken aus seinem Auge ziehen, bevor er in Splitter im Auge des anderen unschön findet. Wir alle sollten zwar den Glauben nicht psychologisieren, denn eigentlich ist er zentral ein großes Vertrauen in Gott. Andererseits hat Jesus auf Erden viel praktische Psychologie angewendet. Die Scheinheiligen gingen schweigend auseinander, denn wer hat keine Leiche im Keller liegen? Das war auch vor 2000 Jahren schon jedem selbst klar. Als Christen sind wir nicht immer, oder manchmal gar nicht, die besten Menschen die es auf der Welt gibt. Und wenn wir schon in den Spuren Jesu gehen, dann sind es ja immerhin nicht unsere Spuren und aus unserem Gusto. Wenn der Geist Gottes weht, auch uns und in uns, dann ist das sehr schön, aber noch lange keine Hymne wir seien die einzig Klügsten. Demut ist christlich, aber nicht Herabwürdigung der eigenen Person, sondern den Anderen neben uns nicht in den Schatten zu stellen, oder ihm das Licht zu stehlen.

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