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Sind große Gemeinden potenziell gefährlich?

Haben Megachurches wie Hillsong oder Willow Creek ein prinzipielles Leitungsproblem? Ulrich Eggers und Thomas Härry diskutieren kontrovers über Schwächen und Stärken großer Gemeinden.

Uli: In diesen Tagen ist ja Brian Houston, der Gründer der Hillsong-Bewegung in Australien, zurückgetreten. Grund sind zwei Anschuldigungen wegen anzüglicher Mails und 40 Minuten mit einer fremden Frau im Hotelzimmer – dazu kommt ein als Information nicht klar kommunizierter sexueller Missbrauch durch seinen Vater vor einigen Jahrzehnten, für dessen verhinderte Kommunikation er als Leiter der Bewegung Verantwortung hat. Ich habe das auf meinem Facebook-Account kommentiert und bedauert –  zuerst gehören bei solchen Nachrichten natürlich immer die Opfer in den Blick – es kann nicht um eine voreilige Entschuldigung für die „big names“ unserer frommen Landschaft gehen. Da stimme ich sofort zu – aber mir ging es um eine andere Tendenz, die ich bei solchen Nachrichten immer wieder beobachte. So habe ich es bei Facebook formuliert:

„Ich trauere mit, denke an all jene, die von Brian Houston inspiriert wurden – und an so viel gute Frucht, die gewachsen ist durch Hillsong! Und sehe schon wieder manch schlaue Kommentare der Frommen, die das alles wussten: Vorbehalte gegen Star-Prediger, große Gemeinden, populäre Ideen, Franchise-Kirchen, Hillsong sowieso, Größe als falsches Paradigma usw. Erfolg fasziniert – und scheint in uns zugleich Misstrauen und Abwehr zu wecken, das Bedürfnis zur Korrektur, weil wir uns wohl davon irgendwie angegriffen oder hinterfragt fühlten. Wie schade, dass wir als Christen so selten segnend und additiv handeln und denken: Jeder und alle haben Chancen – egal in welcher Form, egal ob als Mega-Church oder Landeskirche oder kleine Kirche. Überall „lauert“ Frucht, wenn Menschen mit ihrem Modell und ihren Gaben in Christus bleiben. Und das ist für jeden die MEGA-Herausforderung, an der wir alle genug zu kämpfen haben – egal, ob wir eine große Gemeinde leiten, ein FreshX-Startup, eine traditionelle Dorf- oder Stadtkirche: Überall so viel Chancen, wenn Menschen inspiriert und treu am Ball bleiben – also in Christus Frucht bringen! … Also Brian Housten: Danke! Bewahrung jetzt für die Bewegung. Und Heilung auf dem Weg zurück. Und Achtung und Vorsicht, dass wir nicht selbst an Stellen reinfallen, wo auch alle anderen fallen: Geld, Sex und Macht sind die bekannten Stolpersteine. Und Ansehen und Ego und Stolz und Eifersucht und Vergleichen und was noch alles in uns lauert … „

Thomas, Du hast viele positive Impulse von Willow Creek aufgenommen – aber ich weiß, dass Du auch Gefahren bei den Mega-Churches siehst. Wir haben nie intensiver darüber geredet – wenn ich die heiße Diskussion auf meinem Facebook-Account sehe, spüre ich, dass da ein größeres Thema ist. Zugleich muss ich als Vorsitzender von Willow Creek Deutschland ja immer aufpassen, nicht offen oder unbemerkt befangen zu sein. Lass uns das doch mal in unseren Dialog nehmen. Wo siehst Du spezifische Gefahren – und was ist Deine Haltung da?

Thomas: Ich gehe nicht so weit, dass ich Megakirchen grundsätzlich abspreche, genuine Formen von Kirche zu sein. Ich will die tragischen Fälle des Scheiterns einer ganzen Reihe von Leitern solcher Kirchen auch nicht vorschnell vor mein kritisches Argument spannen. Jede dieser Geschichten ist wieder anders und die Gründe komplex. Ich kann aus der Ferne auch nicht beurteilen, was da tatsächlich schiefgelaufen ist. Es können Dinge sein, die zunächst mal nichts mit der Größe der Kirche zu tun haben.

Und ich muss vorausschicken, dass ich von einigen solcher großen Kirchen und ihren Leitenden viel Gutes gelernt habe. Das gilt und das bleibt, trotz allem, was ich am Modell selbst als kritisch betrachte. Aber ja, ich halte das Megachurch-Modell nicht für das Beste. Ich versuche es mit ein paar Thesen zu begründen.

Mein erster Grund ist ein pastoraler: Ein Leiter kann, so meine ich, nicht viel mehr als zirka hundert Menschen auf befriedigende Weise pastoral führen und versorgen. Sobald eine Kirche 500 oder 1000 Mitglieder hat, mutiert der Pastor zum CEO und das ist eine ganz andere Funktion. Dennoch bezeichnet man ihn weiterhin als Hauptpastor. Hier sehe ich ein Strukturproblem von Megakirchen: Ihr Gründer und oberster Leiter wird Pastor, Hirte genannt, obwohl er das kaum mehr sein kann.

Uli: Ja, verstehe ich – dieses Argument habe ich etwa bei Gordon MacDonald kennen gelernt, der  ja eine der ersten Mega-Churches in Boston geleitet hat. Er sagte mir mal: Als wir über etwa 2.000 Leute hinausgewachsen sind, musste ich im Grunde eine Art CEO werden, ein leitender Pastor, der deutlich mehr Funktionen in der Gesamtleitung und Teamleitung übernimmt, als er noch Hirte oder Prediger ist. Gordon ist damals gegangen, andere Leute mit anderem Profil sind nachgerückt – aber die Gemeinde konnte weiter wachsen. Mir scheint das auch eine Anfrage an die Begrifflichkeit und Struktur und an die Rollenzuschreibung für einen leitenden Pastor …

Thomas: Ja, das alleine spricht nicht gegen Megakirchen. Aber es bedingt, dass solche Organisationen bei wachsender Größe gut funktionierende pastorale Strukturen einbauen müssen. Und so zum Beispiel dafür sorgen müssen, dass pastoraler Einfluss auf viele Schultern verteilt wird und sich nicht auf einzelne Personen beschränkt. Gerade das aber geschieht oft nicht wirklich.

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Uli: Ja, da bin ich bei Dir – zu erwarten, dass „der Pastor“ einer großen Gemeinde genau die Dienste erfüllt, die er in einer kleinen Gemeinde wahrnimmt, das wäre naiv. Größe verlangt andere Berufsbilder und Rollenaufteilungen …

Thomas: Mein zweiter Grund: Große Kirchen wirken attraktiv. Sie ziehen viele Menschen an, die sich aber oft schwertun, langfristig verbindliche Mitglieder dieser Kirche zu werden. Die Versuchung ist groß, Teil des Besucherpublikums zu sein und sich einer überschaubaren und verbindlichen Gemeinschaft zu entziehen. Das kann auch in kleineren Gemeinden passieren, ist aber nach meiner Erfahrung weniger oft der Fall.

Uli: Auch da bin ich real sofort bei dir – so wird es oft passieren. Und dazu lädt die Anonymität der großen Form einer Veranstaltungsgemeinde natürlich ein. Tatsächlich ist das aber doch die Gefahr jeder Gemeinde – und auch eine reale Frage an unser Gemeindeverständnis. Auch in einer 150-Menschen-Gemeinde kann ich mitlaufen und selektiv dabei sein: Gottesdienst und Finanzen etwa. Oder Finanzen und Hauskreis. Oder Hauskreis und gelegentliche Dienste. Ist das Bild des allumfassend tätigen Gemeindemitglieds, das alle seine Aktion auf den Ort und die Form Gemeinde bezieht, denn wirklich das biblische und einzig richtige? Aber klar: Die Gefahr kann ich sehen – und ich sehe auch, dass es umso leichter ist, umso anonymer Du dabei bist. Zugleich: Das war der Grund, warum ich etwa Bill Hybels immer wieder bis an die Grenze der Schroffheit habe formulieren sehen: „Wer hier nur die Reihen füllt, um zu konsumieren, soll zu Hause bleiben!“ Willow etwa hat – wie viele große Gemeinden – ein starkes Leben über Kleingruppen und Dienste gehabt, das dem entgegenwirken sollte. Das hat auch mehr oder weniger gut geklappt. Aber klar: Größe hat eine Rückseite – so wie eine kleine Gemeinde eben auch …

Thomas: Ein dritter Grund für meine Skepsis: Megakirchen führen dazu, dass viele Pastoren insgeheim sich danach sehnen, früher oder später an der Spitze einer solchen Kirche zu stehen. Man will Teil von etwas Großem, Bekannten sein; ein Ort, wo andere voller Bewunderung hin pilgern. Dieses Bedürfnis nährt gerade bei jungen Leitungspersonen falsche Ambitionen. Den Wunsch nach Bühne, nach Aufmerksamkeit. Gemeinden aber brauchen Pastoren, die vor Ort sind, für die Menschen da sind. Denen es um das Reich Gottes geht, um Treue, um Durchhalten auch dort, wo die Gemeinde nicht über die 200-er Schwelle hinauswächst – auf dem Land zum Beispiel. Diese Stellen wirken dann wenig attraktiv und bleiben unterbesetzt, weil der Wunsch nach Größe, nach der tollen Musikband und einem Heer von Freiwilligen am Ende der Ausschlag gibt, wohin sich jemand „berufen“ fühlt.

Uli: Diese negative Wirkung sehe ich, halte sie auch für real vorhanden – aber empfinde es als problematisch, sie zu einem automatischen Grund für das Gegensteuern zu machen. Dann dürftest Du auch kein Buch schreiben als Pastor („das macht eitel!“), keine Außentermine wahrnehmen („da hat man einfachen Erfolg und lenkt sich ab!“) oder Dir hohe Ziele setzen oder Vorbilder haben („Vergleichen ist tödlich und geistlich unreif!“). Ich verstehe Dein Argument, aber ich empfinde, dass man hier das Kind mit dem Bade ausschütten würde, wenn man ein System nur nach seinen möglichen Kollateral-Schäden bewertet. Ich bin total bei Dir, dass wir durch Mega-Churches (aber auch durch YouTube, Instagram, Worship o.ä.) Parallel-Tugenden ansteuern, die potentiell gefährlich sind: Die Bühne wollen, Erfolg haben wollen, sich vergleichen, auftreten, Anhänger, Scheinwerfer, etwas gut können, sich ausprobieren, gemocht zu werden – all das ist charakterlich gefährlich.

Wollte man diese Gefahren umgehen – sollte man besser keine Pastoren haben, denn das kannst Du ja alles auch mit 80 Leuten am Sonntag so bedienen! Ich kann mit, wenn Du sagst: Große Systeme bieten größere Gefahren. Ja, Zustimmung – aber sie haben auch größere Chancen. Den Gefahren muss man begegnen, die Chancen muss man sehen – am Ende muss man kluge Strukturen bauen für das jeweilige Modell oder Setting, das man vor Ort erreichen kann. Als Freikirchler kenne ich auch viele kleine „Vereins“-Gemeinden mit vielen menschelnden Strukturen und Familien-Systemen und Leichen im Keller, wo man – nach diesem Muster – dann sagen könnte: Bloß keine Freikirchen aufbauen! Da bist du derartig unter Finanz-Druck und abhängig von Ältesten und der Stimmung der Mehrheit oder eckigen Alpha-Tieren, das ist purer Stress! Und – das stimmt ja leider auch, all das sind ja Dynamiken kleiner freikirchlicher Gemeinden. Die man kennen muss – um auch mit ihnen umzugehen. Spricht aber nicht gegen kleine Freikirchen – weil auch alle anderen kirchlichen Formen je eigenen Gefahren haben, oder? Ich bin bei Dir, wenn Du sagst: Mega-Churches darf man nicht unkritisch zum einzig starken Zukunftsmodell machen, das wäre verheerend und verkehrt. Ja und amen!

Persönlich denke ich, dass Megakirchen ein vorübergehendes Phänomen bleiben.

Thomas Härry

Thomas: Persönlich denke ich, dass Megakirchen ein vorübergehendes Phänomen bleiben. Es passt in die Zeit des Wirtschaftswachstums und in den Kontext der USA. Und damit bin ich bei einem vierten Grund, weshalb ich Megakirchen insgesamt kritisch sehen: In wirtschaftlich schwierigen Zeiten, in Krisen, Rezessionen etc. ist es schwierig, eine grosse Kirche finanziell zu halten. Sie hat hohe Personalkosten, hohe Kosten für den Gebäudeunterhalt. Auch kleine Gemeinden haben finanzielle Herausforderungen, aber sie kann wirtschaftliche Engpässe besser auffangen als eine Megakirche, die jede Woche einen sechsstelligen Dollarbetrag braucht, um sich halten zu können.

Mein Hauptgrund, weshalb ich Megakirchen kritisch sehe, ist aber der folgende: Megakirchen sind bekannt für durchgestylte Gottesdienste. Offen gesagt: Ich liebe es, ab und zu einen solchen Gottesdienst zu erleben: Die Musik ist immer super, das ganze Setting professionell, die Person, die verkündigt, spricht frei und eloquent. Es ist wie ein gutes TV-Programm oder ein Kongress-Setting: Von langer Hand geplant, intensiv vorbereitet, stimmig inszeniert. Ich möchte aber nicht Woche für Woche, Jahr für Jahr solche Gottesdienste erleben. Mir fehlt die Einfachheit. Die Spontanität. Die gewöhnlichen, unperfekten, weniger gestylten Menschen, die zur Gemeinde sprechen. Die lokalen Bezüge. Das Spüren, dass der Pastor seine Schafe mit Namen kennt und deshalb ganz anders zu ihnen spricht als einer, der eine Masse unterhalten muss. Mir fehlt Familiäre und das Verortete. Mir fehlt breite Beteiligung, wie sie Paulus im 1. Korintherbrief im Blick auf Gottesdienste lehrt. Mir fehlt echte, nicht inszenierte Spontanität. Das freie Wirken des Geistes. Mir fehlen normale Menschen, die spontan etwas weitergeben dürfen. Gerade kürzlich war ich in einem solchen Gottesdienst. Die Musik war dürftig. Aber die Lieder tief. Keine Eitelkeiten. Einfach nur Anbetung Gottes. Dann eine Frau, die etwas auf dem Herzen hatte und es nach kurzer Rücksprache mit einem Verantwortlichen mit der ganzen Gemeinde teilte. Das war spontan, authentisch. Echt. Gebrochen, aber tief. Das war Familie Gottes. Nahbar. Da fühle ich mich als unperfekter Mensch willkommen, zugehörig. Da merke ich, dass ich gemeint bin. Dass die Menschen einander sehen, wahrnehmen, kennen. Das ist für mich Gottesdienst, wie er die Merkmale des Evangeliums verkörpert: Ein Schatz in irdenen Gefäßen. Geerdet. Nahe beim Alltag, beim normalen Leben. Demgegenüber entsteht in Megakirchen oft ein künstliches Bild von Gemeinde und Gottesdienst – eine ganz andere Welt als diejenige der Menschen, die hier sitzen. Und egal, ob du in der Stadt X oder der Stadt Y bist: Die Gottesdienste von Megakirchen sind in den meisten Fällen austauschbar. Es ist wie bei MacDonalds: Wenig Lokales, dafür ein einheitliches Design. Das mag für manche Firma ein gutes Modell sein. Für die Kirche von Jesus Christus halte ich es nicht für geeignet.

Uli: Ich verstehe gut, was Du meinst – und widerspreche dennoch fröhlich. Du wirbst mit Deinen Worten natürlich für ein bestimmtes Modell von Nähe und geistlicher Intensität, die Dir vertraut ist und Geborgenheit weckt. Und das ist ja völlig legitim – wer sollte etwas dagegen haben! Nur eben: Ich könnte mit denselben Worten einen kleinen, persönlich geprägten Gottesdienst auch als „peinlich, provinziell, schwer verständlich und insider-orientiert“ kennzeichnen: Möglicherweise wäre es sogar derselbe Gottesdienst mit fremden Augen gesehen. Will sagen: Wer aus einer anderen geistlichen Tradition kommt, Dinge nicht einordnen kann, eher auf der Suche nach Einstieg als auf „Wiederfinden im Vertrauten“ ist – der tut sich schwerer. Aber bei Deinem Argument merke ich auch gut, was mich an großen Gemeinden samt ihrem Programm anzieht: Der leichte Einstieg für Fremde, in Kirche, Gemeinde, Glauben noch nicht beheimatete Menschen. Ich fand dies etwa bei meiner Jahrzehnte-Erfahrung mit Willow Creek immer faszinierend: Ein gut durchdachter Einstieg in die Welt des Glaubens – kein Abprallen an schwer verständlichen frommen Traditionen und Insider-Orientierung. Ich liebe große Gemeinden, weil sie missionarisch effektiv sein können – nicht automatisch sind, klar! Große Gemeinden haben eigene Gefahren – Anonymität ist eine. Dafür gibt es dann ein System von Hauskreisen – aber missionarisch gesehen ist Anonymität eben auch ein Einstiegs-Vorteil! Eigentlich müssten große und kleine Gemeinden da eher zusammenspielen und strategisch Hand in Hand arbeiten …

Thomas: Ja genau, das ist aber eben genauso wenig eine Frage der Größe: Sich verständlich ausdrücken, für Leute ohne Insiderwissen Begriffe und Hintergründe erklären, das alles sollte eine Selbstverständlichkeit für jede Kirche sein, die in einem säkularisierten Umfeld wirkt. Eine kleinere Gemeinde ist nicht automatisch eine altbackene Gemeinde – wenn es auch viele solche gibt. Und natürlich mag es so sein, dass mancher, der nach Jahren oder zum ersten Mal eine Kirche betritt, froh ist, wenn er zunächst mal als Besucher nicht groß wahrgenommen wird und sich in aller Ruhe ein Bild machen kann. Bei einer anderen Person ist es umgekehrt: Sie ist davon berührt, dass es hier erlebbare Nähe und persönliches Kennen gibt. Auch hier ist es nicht die Größe, die das per se einfacher oder schwieriger macht, dass Suchende hier Gott finden. Abgesehen davon, dass sich Gott auch gerne im Kleinen, wenig Pompösen seine Kraft zeigt – aber er ist natürlich nicht auf das Schwache begrenzt. Es hat nur biblisch gesehen eine besondere Verheißung.

Uli: Aber eben: Unser Dialog zeigt, dass man jedem Setting Negatives und Positives hinterlegen kann – mir scheint, es geht nicht um Größe, sondern um Auftragsorientierung und Blickrichtung: Setting für Insider – oder Orientierung nach außen. Schwarzbrot für Langjährige – oder Einstieg für Interessierte? Das verlangt unterschiedliche Formen. Wir beide haben ja gerade ein Statement von Timothy Keller über Mega-Churches gelesen – er hat eine Mega-Church mit 5.000 Leuten in New York gegründet. Keller sagt, dass sie sich oft schwer von ihrem Gründer freischwimmen können. Ja, große Gemeinden haben gute Angebote – aber sie lösen sich schwer aus dem Schatten ihrer starken Gründer-Persönlichkeiten: Das ist ein Punkt, den ich gut nachvollziehen kann! Ein echtes Problem – das allerdings auch für eine normale, große Gemeinde gilt. Keller sagt, er habe seine 5.000-Besucher-Gemeinde bei seinem Ruhestand in drei 1.700er-Gemeinden aufgeteilt – und das habe funktioniert und zu sogar noch unterschiedlichen Ausrichtungen geführt, die wiederum missionarisch wirksam sind. Super! Und wichtig! Nur: 1.700 Leute … ist Mega-Church. Also schlecht? Wo ist eigentlich die Norm-Größe für „schlecht“ – und worum geht es denn?

Ich glaube, dass das Thema Hybels, Ortberg, Houston – vielleicht sogar bis hin zu Eurem Schweizer Ex-Kirchenpräsidenten Gottfried Locher eher ist: Wie lösen sich Gemeinschaften aus dem starken – oft ja sehr positiven – Einfluss ihrer Gründer oder starken charismatisch-smarten Präge-Personen? Und – haben nicht alle solche starken Personen eben auch Rückseiten, ein gewisses Bindungs-Potential an sich selbst, statt an Jesus? Und andererseits: Ist das nicht auch wieder legitim – darf ich nicht jemanden besonders mögen? Und wenn er abtritt – den Verlust fühlen und auf der Suche sein? Das ist ja einfach menschlich, erfordert einen Prozess der Reifung und Emanzipation von Vorbildern, die stark prägen. Aber eben: Das kann bei mir in Cuxhaven auch in einer 200er-Freikirche mit einem guten Pastor so sein – weit weg von einer Mega-Church. Und ist es nicht gerade das, was Du mit Deiner Arbeit an Charakter und Integrität für Leitende gerade betonst: Verantwortlich umgehen mit meinem Einfluss? Ist das nicht das Thema?

Thomas: Ja, das ist mein Thema. Und ich behaupte, dass diese Arbeit an sich selbst umso schwerer wird, je größer meine Kirche ist. Und dass vielleicht auch deshalb viele Pastoren gut beginnen und dann mit dem großen Erfolg auch eben an diesen persönlichen Charakterfragen scheitern. Denn selten kann ein prozesshaft zu erneuernder Charakter mit dem Tempo eines raschen Organisationswachstums mithalten. Ausnahmen bestätigen die Regel.

Das alles kann noch mit etwas anderem zu tun haben: Allem Schöpfungsgemäßem, allem Organischen, von Gott in dieser Welt hervorgebrachten ist eine Begrenzung eigen. Eine Maus wird nie die Größe eines Hundes erreichen. Ein Elefant nie viel größer werden, als es in seiner DNA angelegt ist. Der Mensch versucht ja immer diese Begrenzungen zu durchbrechen: Hunde, die in Handtaschen passen. Kühe, die noch mehr Milch geben. Rinder, die noch mehr Fleisch ansetzen. Auch sich selbst versucht der Mensch zu optimieren und die Begrenzungen des Alters oder der körperlichen Kraft mit Medikamenten und mentalen Strategien zu überwinden. Diese menschlichen Versuche, gegebene Größenordnungen zu sprengen, führen fast immer dazu, das Abnormalitäten entstehen. Besondere Krankheiten. Schwächungen des natürlichen Systems. Ich frage mich, ob nicht auch der Kirche eine Größe gegeben ist, die ihr guttut. Und eine, in der das System sich selbst zu schwächen beginnt.  Und ob der Versuch, diese Begrenzung zu durchbrechen nicht doch auch zu Schwächungen führt, die ihr Wesen ein Stück entfremdet. Oder zumindest die Hybris derer bedient, welche die üblichen Größenmuster zu sprengen vermochten. Ich will nicht gleich mit dem Turmbau zu Babel kommen, aber ich sehe einfach die Gefährdung, dass der Mensch gerne groß sein will. Auch der fromme Mensch. Auch der Gemeindebauer. Noch einmal: Das unterstelle ich nicht jedem Pastor einer großen Gemeinde. Aber ich sehe, wie viele daran zerbrechen und das macht mich hellhörig, so dass ich heute sage: „Wenn deine Gemeinde 400, 500 Leute hat, dann gründe eine neue. Blase das Ding nicht ewig auf. Multipliziere! Sorge für einfach, bewegliche Strukturen. Bleibe agil. Du erreichst damit vermutlich mehr als mit immer noch größeren Zahlen und Gebäuden.“


Ulrich Eggers hat seine eigene Biografie im Dialog mit Thomas Härry geschrieben. „Der Ideen-Entzünder – Von der Treue im Großen, mutigen Entscheidungen und dem Glauben am Montag – Eine Biografie im Dialog“ ist Anfang 2022 bei SCM R.Brockhaus, Holzgerlingen erschienen.

Der Dialog zwischen Thomas Härry und Ulrich Eggers geht weiter:
www.EggersundHaerry.net

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6 Kommentare

  1. Mehr Geschwisterlichkeit verträgt auch demokratische Leitung

    Bravo Axel Langer, Ihrem kurzen Kommentar kann ich voll zustimmen. Es ist zudem nicht unchristlich, Autoritäten zu hinterfragen. Etwa ob sie wirklich eine Sachautorität sind und nicht nur vorgeben. Oder positive Vorbildfunktion haben. Oder noch ganz anders: Dass Christinnen und Christen in ihren Gemeinden und Gemeinschaften (vorhandene !?) demokratische Leitungsstrukturen vor allem nutzen, kommunikativ (und auf christlich-theologischer Ebene) geschwisterlich miteinander umzugehen. Dies hätten die damaligen Mitglieder der Urgemeinde so nicht formuliert, aber faktisch haben sie dies oft schon vor 2000 Jahren ein wenig vorweggenommen praktiziert – in dem sie eben das Leben und sogar ihre Güter teilten. Man sollte nicht ganz außer Betracht lassen, dass die Israeliten vor der Einsetzung ihres ersten Königs faktisch eine klassenlose Gesellschaft waren. Es haben dort zwar die Patriarchen geherrscht und man darf sich das daher nicht perfektionistisch vorstellen. Christian Nürnberger hat dies als katholische Diplomtheologe in seinem Buch „das Christentum“ gut und allgemeinverständlich beschrieben. Ich meine daher ganz ernst, Kirchen sollten es auch als sehr wichtig nehmen, dass man mit einer flachen und sogar dienenden Hierarchie das was Jesus (auch) wollte, etwa nach der Bergpredigt zu leben, wieder mehr in die Wirklichkeit zu rücken. Solche Glaubensgemeinschaften wären nicht nur sehr fromm, und trotzdem tolerant, offen für alle Menschen und auch durchaus grundsätzlich politisch. Dies fehlt mir bei den Evangelikalen – obwohl ich gegen sie nichts habe – fast völlig. Landeskirchlich und katholisch sind solche christlichen Lebensäußerungen eher Predigtrealitäten, aber bis auf löbliche Ausnahmen eber auch nicht im wirklichen Gemeindeleben greifbar. Kann auch sein, dass ich dies falsch einschätze. Sollte es nicht so grau aussehen, würde ich mich gerne irren. Eine der Ausnahmen ist z.B. die Taizebewegung und sicherlich manche der neuen Orden, die ökumenisch oder evangelisch überall einen neuen Geist praktizieren. Dienst geht vor Macht, Liebe vor Dogma und Glaube nicht als überhöhende Selbstdarstellung.

  2. Ich finde das der Ansatz der Herren Eggers und Härri am Problem vorbeigeht.
    Es geht um den Umgang mit Autorität. Wenn Pastoten und andere Leitende nicht hinterfragt werden dürfen, kommt es zu solchen Problemen, wie bei Hillsong oder in der katholischen Kirche. Ich habe den Verdacht, daß zu oft Strukturen oder Traditionen gestützt werden und kritisches Hinterfragen als ungeistlich abgetan wird.
    Kirche ist potentiell immer gefährlich, egal wie groß sie ist, wenn Macht nicht kontrolliert wird.

  3. Ich denke, Megachurches haben oft das gleiche Problem wie kleine exklusive abgeschottete Gemeinden/Gemeinschaften:

    Sie konzentrieren sich oft auf eine Leitungsperson oder auf eine kleine Leitungsgruppe. Diese wird dann noch teilweise verklärt als leuchtendes Vorbild. Demokratische Kontrolle durch die normalen Mitglieder ist oft nicht gegeben oder rein formal.

    Stürzen dann diese Leitungen, stürzt die ganze Organisation.

    Schlimmer ist eigentlich nur, wenn sie nicht stürzen sondern Verfehlungen unter dem Teppich kehren, eben aus Angst, dass sonst alles zusammen fällt.

    In diesem Sinne ist übrigens auch die RKK eine Megachurch, wie man in den letzten Jahren deutlich merkt.

  4. Fehler zugeben erfüllt das Gesetz Christi

    Ich wäre da etwas vorsichtiger wie der liebe „Stammtischbruder“. Ich bin davon überzeugt, dass nicht in erster Linie die Größe einer Kirche, also ob zwanzig, hundert oder gar tausende Menschen miteinander feiern, den casus knaksus liefert. Es sind wir als die Einzelnen, die sich ungeistlich verhalten. Beispielsweise muss ich (eigentlich) immer den Balken zunächst aus meinem Augen ziehen, bevor ich den Splitter beim Gegenüber kritisiere. Die Sprache in der ganzen Affäre auch der Hillsong-Bewegung ist doch verräterisch, wenn es darum geht, dass ihr Leiter alleine mit einer Frau 40 Minuten in einem Zimmer verbracht habe. Über diesen Vorwurf in diesem einen Satz könnte man ein mitteldickes Buch schreiben und ausführlich die unterschiedlichsten Andeutungen/Möglichkeiten ausdrücken. Das ginge dann wie am Ende der Stillen Post, das entweder am Ende der Informationskette nur noch eine Nullinformation vorhanden ist ( es ist nichts passiert). Oder es ist alles passiert, was sich schlechte oder noch schlechtere Phantasie vorstellen kann. Wohlgemerkt: Es geht nicht um Tatsachen, niemand nennt Ross und Reiter. Allerdings sagt auch niemand intern, es handele sich um eine vertrauliche Angelegenheit, die es erst einmal zu klären gilt. Ich kann mir aber vorstellen, dass in Megakirchen, auch in Glaubensgemeinschaften mit einem perfektionistischen Anspruch, nicht nur Tratsch und Klatsch geschieht, sondern auch das Gebot in den Sand getreten wird: „Du sollst kein falsch Zeugnis ablegen gegenüber deinem Nächsten“! Gleiches gilt genauso wie die kleine Dorfkirche in Hintertupfingen: Wir sollten als Christinnen und Christen besser umgehen miteinander wie oft in der Politik. Sonst werden wir mit den negativen Seiten unserer Gesellschaft in einen Topf geworfen. Da ist mir doch auch erinnerlich, dass unser zumeist geschätzter Bundesgesundheitsminister just einen Fehler zugab, und als Dank für seinen Mut hat man ihn um so mehr kritisiert. Warum geben die großen Lichtgestalten in evangelistischen Großkirchen, oder auch solche aus den Landeskirchen oder katholischen Domen, nicht endlich mal zu dass sie Fehler gemacht haben. Und wenn wir ihnen dann vergeben haben wir das Gesetz Christi mehr erfüllt als mit einem Rauswurf. Die großen Bibelleser und Auswenigkenner haben leider manchmal vergessen, wir sollten 77×7 vergeben. Oder dass die Liebe langmütig und freundlich ist, so wie wir eigentlich sein müssten.

  5. Ist das nicht ein Grundproblem aller Kirchen, egal ob „mega“ oder „normal“, ob „traditionell“ oder „frei“? Schon die ersten Christen waren eine „Megakirche“ mit charismatischen Leitern und vielen verschiedenen Aufgaben, getragen von der Gemeinschaft und dem, was sie verbunden hat. Auch die Katholische Kirche ist eine „Megakirche“ mit einem einsamen Leiter. Und wie „gern“ regen sich doch alle „Frommen“ und genau so die „Heiden“ über den Papst auf ;o). Luther war kein Papst, im Gegenteil. Und doch entwickelte sich in seiner Nachfolge eine neue „Megakirche“, die „evangelisch-lutherische“.
    „Megakirchen“ sind also nicht etwa eine Erfindung der Neuzeit. Echter Glaube bewegt immer Großes, auch im Kleinen. Und das „Problem“ aller Kirchen sind die Menschen, die zu ihnen gehören. Zugleich sind es aber auch diese Menschen, die ihnen von Gott gegeben und anvertraut sind, durch die das Leben, das Gott schenkt, auf der Erde sichtbar wird.
    Ich bin selbst Pastor der evangelisch-lutherischen Landeskirche, habe viele Freunde in anderen Kirchen und Gemeinschaften. Mittlerweile bin ich im so genannten „Ruhestand“. Der Rückblick auf meine berufliche Zeit in kleinen und zu größeren verbundenen Gemeinden, in Seelsorge im Altenheim und auch auf großen Messen und viele Aktivitäten im Internet (auch und gerade jetzt wieder neu) zeigt mir zahlreiche Fehler und Schwächen in meinem Tun, menschliches und manchmal sicher auch „geistliches“ Versagen, aber ebenso Momente des Glücks, wenn ein Mensch zum Glauben fand, getröstet wurde und sich angenommen fühlte. Ich bin dankbar, dass ich Kirche mitgestalten durfte und darf, dass ich meine „Fans“ habe und auch dankbar für die Menschen, die mit mir und meiner Art des Glaubens nichts anfangen können und mir das auch sagen. Und wenn ich vor 20 und ein anderer vor 5.000 predigt und eine richtig gute „Show“ abliefert – warum soll ich dann dagegen sein? Gott spricht auf so vielerlei Weise zu Menschen, warum also nicht auch so? Wenn es inhaltlich um den geht, nach dem wir uns „Christen“ nennen – was soll dann falsch daran sein?
    „Seid barnherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist!“
    So lautete die Jahreslosung im vergangenen Jahr 2021. Und ich denke an die Menschen, von denen die Bibel erzählt (z.B. Abraham, Mose, David, Petrus oder Paulus und viele mehr) und denke an die Menschen, die im Laufe der Geschichte den christlichen Glauben verkündet und geprägt haben (u.a. Luther, Zinzendorf, Parzany, Graham, Hybels und wie sie alle heißen). Keiner von ihnen war „perfekt“ oder „fehlerfrei“. Ganz im Gegenteil!
    Vielleicht sollten wir diese Losung nicht einfach abhaken als die Losung des letzten Jahres, sondern auf Dauer in unserem Herzen bewahren und be-herzigen …

  6. Wenn man den Gottesdienst zur Showtime verkommen lässt, Prediger und Worship-Leader zu Ikonen stilisiert, darf man sich nicht wundern wenn das Kartenhaus zusammenfällt. Sicher, bei Hillsong haben sich Menschen bekehrt und manche sind vielleicht auch geistlich gewachsen, also ich würde es nicht wagen alles pauschal zu verdammen, aber diese Art Church trägt den „Krankheitskeim“ in sich !

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