Zu streng – zu lasch: Wo sollen sich Christen einordnen? Dieses Spannungsfeld sorgt in Gemeinden für Diskussionen und Trennungen. Ulrich Müller zeigt an einem Drehmomentschlüssel einen Weg zur Lösung.
„Wir müssen uns strikt daran halten, was die Bibel sagt!“ – „Man kann die Bibel gar nicht ernst genug nehmen!“ Mir begegnen immer wieder Christen, die ihren Glauben konsequent leben wollen. Die sich streng an der Bibel orientieren und ihr treu sein wollen – und dabei mitunter gewaltigen Flurschaden hinterlassen.
Wie kann das sein? Es ist leicht nachvollziehbar, dass es Menschen und Gemeinden nicht guttut, wenn sie den Anspruch aufgeben, dass die Bibel uns mit göttlicher Autorität Handlungsorientierung gibt. Aber kann man vielleicht auch „zu streng“ glauben? Ja, auch diese Gefahr besteht. Und nach meinem Eindruck sorgt genau diese Haltung der Rechtgläubigkeit aktuell in zahlreichen Gemeinden und Gemeindebünden für Diskussionen und Zerriss.
Bei der Herausforderung, die biblischen Texte heute richtig einzuordnen und auf uns anzuwenden, bewegen sich Gemeinden seit jeher auf einem Kontinuum zwischen zwei Extrempositionen: Auf der einen Seite steht eine große subjektive Beliebigkeit und Unverbindlichkeit, auf der anderen eine gesetzliche Buchstabengläubigkeit.
„Auf der einen Seite steht eine große subjektive Beliebigkeit und Unverbindlichkeit, auf der anderen eine gesetzliche Buchstabengläubigkeit.“
Wo sollen wir uns in diesem Spannungsfeld einordnen? Ein Gedanke aus dem Buch Josua hilft uns hier enorm weiter. Als Gott nach Moses‘ Tod Josua als neuen Leiter des Volkes Israel einsetzt, gibt er ihm einen wichtigen Hinweis mit auf den Weg: „Halte dich mutig und entschlossen an das ganze Gesetz, das mein Diener Mose dir gegeben hat. Weiche weder nach rechts noch nach links davon ab. Dann wirst du Erfolg haben bei allem, was du unternimmst.“ (Josua 1,7 NGÜ).
Weder nach rechts noch nach links
Mit der Warnung, glaubenstechnisch weder rechts noch links vom Pferd zu fallen, ermutigt Gott Josua, die Gottesbeziehung ausgewogen zu leben, so verstehe ich das zumindest. Weder kleinkariert-gesetzlich noch lasch und beliebig. Ausgewogen zu glauben ist eine Kunst. Ein Vergleich zur Veranschaulichung: Wenn man bei einem Auto die Reifen wechselt, kann man beim Anziehen der Radschrauben zwei Sachen falsch machen: Man kann die Muttern zu locker, aber tatsächlich auch zu fest anziehen.
Der erste Fehler ist sofort einsichtig: Drehe ich die Muttern beim Autoreifen nur locker per Hand zu, entsteht keine feste Verbindung. Die Schrauben wackeln, sie geben keine Stabilität. Das Rad wird sich früher oder später lösen – mit möglicherweise fatalen Folgen. Ähnlich ist das im Glauben. „Man muss das mit den biblischen Geboten nicht so eng sehen“ – dieses Extrem auf der linken Seite steht für Menschen, die sich nicht wirklich etwas sagen lassen wollen. Sie werden kaum Halt finden bei Gott. Gott will, dass wir uns fest mit ihm verbinden. Das geht nicht, wenn man alles ganz locker nimmt.
Der zweite Fehler beim Reifenwechsel ist für technisch nicht so Begabte wie mich schon schwerer nachzuvollziehen: Man kann eine Schraube doch nicht zu fest drehen? Gilt nicht: Je strammer, desto besser? Nein, man kann eine Schraube auch überdrehen. Aus eigener Erfahrung kann ich bestätigen: Nach fest kommt ab. Wenn ich es übertreibe, zerbricht die Verbindung. Dann geht die Schraube kaputt und ich habe am Ende nur noch Einzelteile in der Hand.
Übertragen auf den Glauben, steht dieser Ansatz für das Extrem auf der anderen, der rechten Seite. Er steht für Menschen, die vor allem Regeln im Kopf haben und genau festlegen, was man darf und was nicht. Die sich haarklein an biblische Gebote halten (dabei aber manchmal den Kontext außer Acht lassen) – und oft auch zahlreiche zusätzliche menschengemachte Handlungsanweisungen, eher kulturell geprägt, für verbindlich erklären. Für sie ist keine ethische Frage offen. Selbst in banalen Nebensätzen der Bibel entdecken sie ewig gültige Handlungsanweisungen. Das ist meist gut gemeint: Diese Christen meinen es ernst, sie wollen nichts falsch machen. Im Ergebnis ist das aber kontraproduktiv. Denn es führt leicht dazu, dass Regeln, die den Menschen dienen sollen, über das Wohl der Menschen gestellt werden. Dass Klarheit über Gnade und Liebe steht.
„Glaube orientiert sich am Herzschlag Jesu, weil so das eigentliche Ziel von Gottes Hinweisen am besten erreicht werden kann.“
Wir haben nicht alles richtig gemacht …
Selbstkritisch muss ich als Freikirchler sagen, dass wir zum Beispiel beim Thema „Sex vor der Ehe“ nicht alles richtig gemacht haben. Wir haben in der Vergangenheit Menschen rigoros ausgeschlossen, wenn sie vor der Hochzeit zusammenlebten. Unsere Intention damals war ja durchaus richtig: Das Ideal einer lebenslangen Ehe hochzuhalten gegenüber dem Modell wechselnder und unverbindlicher Lebensabschnittsgefährten. Aber ich bin mir nicht sicher, ob der Ansatz in der Radikalität diesem Ziel wirklich immer diente. Nicht wenige der Ausgeschlossenen haben danach komplett den Kontakt zur Gemeinde und zum Glauben verloren. Da ist einiges kaputtgegangen im Kampf um die unverfälschte Lehre.
Wir sind da heute zurückhaltender in der Gemeinde, die ich mit leite. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass mit Geduld und Gesprächen eher stabile Ehen entstehen als mit schnellen Sanktionen. Die Motivation zu einem Leben nach Gottes Vorstellungen muss von innen kommen, ist eine persönliche Entscheidung – und Druck hilft da nicht sonderlich.
Wenn wir die beiden Extreme, lockere Beliebigkeit und zu enge Gesetzlichkeit, vermeiden wollen – wie funktioniert dann ausgewogener Glauben? Beim Reifenwechsel geht es darum, das richtige Drehmoment zu finden. Profis nehmen daher für das Anziehen der Reifenmuttern einen Drehmomentschlüssel. Man stellt den für diese Schraubverbindung optimale Newtonmeter ein und erreicht so die richtige Dosierung an Festigkeit. Irgendwann gibt es ein Klickgeräusch – und die Schraube sitzt optimal, hält und gibt Stabilität.
Genauso findet reifer Glaube im Umgang mit biblischen Geboten und bei der Anwendung biblischer Hinweise das richtige Drehmoment. Nicht zu locker, dass wir biblische Hinweise auf die leichte Schulter nehmen und faktisch die Bibel beiseitelegen – wir haben doch keine andere Richtschnur für unseren Glauben! Aber eben auch nicht so eng und überdreht, dass wir uns nach dem Motto „je strenger, desto besser“ gegenseitig nur noch paragrafengläubig und gnadenlos Bibelverse um die Ohren hauen. (Achtet einmal darauf: Christen mit dieser Tendenz neigen üblicherweise dazu, nur die Einhaltung der Regeln strikt einzufordern und zu überprüfen, die ihnen selbst keine Probleme bereiten!).
Reifer Glaube steht für eine feste Verbindung mit Gott und eine Orientierung an seinem Wort, die Halt gibt. Reifer Glaube orientiert sich am Herzschlag Jesu, weil so das eigentliche Ziel von Gottes Hinweisen am besten erreicht werden kann.
Den Herzschlag von Jesus suchen
Wenn ich im Glauben nicht das richtige Drehmoment anwende, kann ich viel kaputt machen. Zu Jesu Zeiten sorgten die Pharisäer und Schriftgelehrten für eine strikte Einhaltung der biblischen Gebote. Insgesamt 613 Regeln identifizierten sie, die sie buchstäblich befolgten. Und sie schufen weitere Ausführungsbestimmungen – um sicherzugehen.
Jesus wurde einmal sogar in eine Diskussion verwickelt, ob er am Sabbat Menschen heilen darf. Absurd! Da merkt man: Die Frommen überzogen maßlos. Jesus wies sie sehr klar darauf hin: Nicht der Mensch ist für den Sabbat da, sondern der Sabbat für den Menschen (Markus 2,27). Damit deutete er an: Das Verbot, am Samstag zu arbeiten, ist kein Selbstzweck. Es soll dem Menschen eine Pause verschaffen. Und wenn es einem Menschen eine Last ist, den Sabbat zu halten, es ihm also zum Nachteil gereicht, dann läuft etwas gewaltig schief. Jesus machte damit klar: Ein Gebot Gottes, zu streng angewandt, richtet mehr Schaden als Nutzen an. Gottes Gebote sollen das Leben nicht schwer machen, sondern den Menschen guttun (Matthäus 11,28-30).
Es hilft mir, in solchen Texten nach Jesu Herzschlag zu fahnden – was ist ihm wichtig? Was bewegt ihn? Was will er letztlich erreichen? Und wie macht er das? Ich habe den Eindruck, dass er im Einzelfall immer wieder – wie schon Mose, vgl. Markus 10,2-12 – unterscheidet zwischen einer idealen Ethik und einer realen, in der er die Unperfektheit der Menschen und die jeweilige Situation berücksichtigt.
Besonders beeindruckend ist seine Begegnung mit der Frau, die beim Seitensprung erwischt wurde (Johannes 8). Für die Gesetzeslehrer und Pharisäer ein klarer Fall: Steinigen! Jesus weiß: Theoretisch haben sie recht. Das mosaische Gesetz ist hier eindeutig. Aber praktisch hilft das keinem in der Situation. Und Jesus findet einen guten Weg, sie zur Lebensänderung zu führen. Er hebt die biblische Ordnung nicht auf, wendet sie aber weise an. Jesus hat immer das richtige Drehmoment. Von ihm gilt es zu lernen.
Ulrich Müller ist Autor („Heimat finden“, „Herzerweiterung“) und Ältester der Christuskirche Gütersloh. Er ist auch der Ideengeber für das AUFATMEN-Sonderheft „Gemeinde leiten – aber wie? 50 Lessons Learned“. www.ulrich-mueller.com
Dieser Artikel erschien zuerst in der Zeitschrift AUFATMEN. AUFATMEN erscheint im SCM Bundes-Verlag, zu dem auch Jesus.de gehört.
Hier kann man an den Kommentaren wieder sehen, dass Fundamentalisten einen Bildsprache oft nicht gut verstehen können. Die Bildsprache mit dem Reifenwechsel Immer Drehmomentschlüssel macht es offensichtlich für diese Menschen nicht deutlich. Immer wieder wird die Bibelauslegung auf eine moralische Dimension verkürzt. Dann schleicht sich ein Leistungsdenken ein, das deren Bibelauslegung unbewusst aber mächtig beeinflusst wirkt. Die Liebe fehlt dann schon mal völlig. Aus dieser Denkart heraus kann dann z.B. auch das Gleichnis vom verlorenen Sohn in seiner ganzen Tiefe überhaupt nicht mehr verstanden werden.
„Fundamentalisten“, „die Liebe fehlt völlig“, „die verkürzen“ und „verstehen nix“ ! Bei einer solchen minimalistischen „Denkart“ und Verortung der Andersdenkenden ins Sektiererische unter Verwendung stigmatisierender Worthülsen wird das Leben einfach und ein beachtenswerter Teil der evangelikalen Bewegung schlichtweg abgekanzelt(Cancel-Cultur). Und das Schönste daran, man fühlt sich auf der Seite der Guten, der Toleranten, der Liebenden, der Weltoffenen.
Sorry lieber „Seltsam“, ihre guten Absichten vorausgesetzt, aber so werde ich den „schmalen Weg“ nicht verlassen !
Die Auslegung von „nicht nach rechts oder links“ abweichen zu „nicht zu lasch oder zu streng“ das Wort Gottes zu nehmen, scheint mir willkürlich. Und hat wenig damit zu tun, wie es Josua dann lebt. Bspw in Josua 7 legt Gott / Josua diesen Text selbst aus, als jemand sterben musste, weil er sich nicht an die Gebote hielt. War das zu streng?
Der grundlegende Ansatz, Gottes Wort nur so auszulegen, sodass es Menschen nicht vor den Kopf stößt, ist mit nichts im Wort Gottes zu untermauer. Und wir sollten es dann auch nicht rechtfertigen, weder mit unserer Erfahrungstheologie noch mit einem Autoreifenvergleich.
Wahrlich eine Gratwanderung, aber der allgemeine Trend in der evangelikalen Welt geht in Richtung Verwässerung und Ignoranz gegenüber den Geboten Gottes und der Wertschätzung der Schrift. Und ohne die endzeitliche Perspektive zu überstrapazieren, aber genau das ist die Botschaft des Neuen Testaments , die „letzte Generation“ will von Gott und seinen Geboten nichts mehr wissen, “ es wird sein wie in den Tagen Noahs und Sodoms“.
Die wirkliche Gefahr für die Masse der Christen, so nehme ich es zumindest wahr, ist die Verweltlichung und nicht „Gesetzlichkeit“ und überzogene Strenge. Und wen wunderts, wenn gerade bei der Sexualmoral die Dämme brechen, das war schon immer die Sollbruchstelle und auch ein Indikator für Frömmigkeit. Ich kann den geistlichen Leitern im Land nur raten, standhaft zu bleiben. Anders als bei der Konfektionsgröße gilt hier, lieber zu eng als zu weit !
Die Freikirche kann ihre Existenz natürlich nur rechtfertigen und erhalten, wenn sie die biblischen Aussagen nicht zu genau nimmt.
Nach der neutestamentlichen Beschreibung der Gemeinde ist ihr Gemeindemodell nämlich grundverkehrt.
Das solltest du mal näher erklären. Ich hatte das zufällig vor kurzem mal nachgelesen und weiß jetzt nicht, worauf du anspielst