Sie erlebten Haft, Stasi-Überwachung und Verrat: Uwe und Andrea Fehre. Sie standen als Christen auf gegen die Repression in der DDR. Eine bewegende Story über Mut, Glauben und erlittene Verwundungen auf der Suche nach einem Leben in Freiheit.
Von Rüdiger Jope
Die wilden 80er. Was in der BRD die Donald-Duck-Magazine, sind in der DDR die Mosaik-Hefte. Tick, Trick und Track heißen die Kinderhelden vor der Mauer – Dig, Dag und Digedag sind es dahinter. Ich bin zehn und habe einen kleinen Stoß Mosaik-Hefte. Der 19-jährige Uwe hat sie fast alle. Zu dem Langhaarigen schaue ich auf. Er ist der Große, mein Held.
Sommer 2024. Ein heißer Augusttag. „Hast du die Mosaik-Bände noch?“, frage ich Uwe Fehre. Er lacht. „Ja, das wäre mal wieder ein Anlass, auf den Boden zu gehen und in den alten Umzugskisten und Erinnerungen zu kramen.“ Wir kramen. Mit seiner Frau Andrea. Nur anders. Im Schatten des Hauses und seiner Geschichte.
Strafe: Stiefel und Latrine putzen
Ende der 70er-Jahre. Der Ost-West-Konflikt türmt sich auf. Das Thema Stationierung von Raketen ploppt auf. Auch in der sächsischen Industriestadt Riesa. „Mein Vater kam versehrt aus dem Krieg zurück, ertränkte das Trauma im Alkohol. Nie wieder wollte er eine Waffe in die Hand nehmen“, erzählt Uwe. Dieser darf daraufhin nicht mal auf dem Jahrmarkt an die Schießbude gehen. Die Mutter legt Wert darauf, dass er zur Christenlehre geht. Sie stirbt noch vor der Konfirmation ihres Sohnes. In der sozialistischen Oberschule werden Uwe und andere Kinder von Handwerkern als dumm hingestellt, weil „wir nicht alles mitmachten, zur Kirche gingen“. Die Ausgegrenzten wandeln sich zu Oppositionellen. Als 16-Jähriger fängt Uwe eine Lehre zum Heizungsbauer an. Zur Ausbildung gehören 14 Tage vormilitärische Ausbildung bei den Grenztruppen. „Da musste ich mich bekennen: Ich nehme keine Waffe in die Hand!“ Als Einziger von 30 sagt er „Nein!“. Er bekommt Druck. Er wird angebrüllt, bedroht, gedemütigt. Er muss in der Kaserne Stiefel und Latrine putzen.
Halt erfährt Uwe in einer kirchlichen Jugendgruppe. Ein Kirchvorsteher und ein Pfarrer schulen die Jugendlichen. Über den Glauben, die Geschichte der Kirche. Die Grüfte mit Mumien werden begehbar gemacht. Er übernimmt Küsterdienste. Jeden Tag muss die Turmuhr aufgezogen werden. Um sechs Uhr radelt er sonntags in die Kirche. Er läutet die Glocke, lässt um sieben Uhr die Menschen zum Frühgottesdienst ein. „Das war gar nicht so einfach als Jugendlicher.“ Auch die damals 16-jährige Andrea stößt zu dieser Gruppe. Sie ist fasziniert. „So einen Gruppenzusammenhalt kannte ich nicht.“ Sie legt sich fest: „Hier machst du gerne mit!“ Und sie lernt Uwe kennen. „Ich wusste: Den heirate ich! Uwe hat sich gewehrt, hat aber nichts geholfen.“ Die beiden lachen.
Die vermutete Konterrevolution
1980 entwickelt der sächsische Jugendpfarrer Harald Bretschneider das Symbol der Bewegung „Schwerter zu Pflugscharen“. Schon bald tragen vor allem junge Menschen in der DDR diesen Aufnäher mit der symbolhaften Darstellung eines Mannes, der ein Schwert zu einer Pflugschar umschmiedet, auf ihren Parkas. Die Klosterkirche wird zum Hotspot, eine Evangelisation mit Theo Lehmann zum Stadtgespräch. Der Staat schäumt, vermutet hinter den Kirchenmauern „die Konterrevolution“. Leitz-Ordner mit Stasiunterlagen erzählen 42 Jahre später davon, wie Leute gezielt eingeschleust, Angst gestreut und drakonische Urteile verkündet werden. Der Initiator wird zum Staatsfeind erklärt. Er muss Repressalien über sich ergehen lassen, wird nach seiner Haft wegen der Verweigerung des Reservistendienstes zur Ausreise in den Westen gedrängt.
Uwe und Andrea heiraten. Sie sind überzeugt: Die Arbeit muss weitergehen! Beim Wehrkreiskommando bekennt der 20-Jährige mutig: Ich werde Bausoldat! Wütende, stereotype Politunterricht-Antworten prasseln auf ihn ein. „Was bilden Sie sich ein?“ „Der Friede muss bewaffnet sein!“ Uwe bleibt standhaft, zwei Kinder werden geboren. Der Staat setzt die Kirche unter Druck. Sie solle die Gruppe zügeln. Den Jugendlichen wird der Zutritt zur Klosterkirche verweigert. Als dann die vormilitärische Ausbildung an den Schulen für Kinder zur Pflicht wird, entscheiden sich Fehres, einen Ausreiseantrag zu stellen.
Am 3. November 1983 trifft sich ein Teil der Jugendgruppe mit dem abgeschobenen Bürgerrechtler in der CSSR. Fehres sind sich sicher: Wir werden überwacht, „doch wir nahmen es nicht so ernst. Wir waren naiv darin, zu was der DDR-Staat fähig war.“ Plötzlich ist es still am Gartentisch.
Auf der Rückreise schnappt die Falle zu. Das Ehepaar wird in Bad Brambach aus dem Zug geholt. Andrea ist im siebten Monat mit dem dritten Kind schwanger. Ein Grenzbeamter sieht ihren Zustand, lässt sie eigenmächtig wieder einsteigen. „Der bekommt dafür aber später richtig eine drüber, weil Andrea zu Hause eher in der Wohnung war, als die Staatssicherheit zur Hausdurchsuchung anrückte“, so Uwe. Für Andrea wird die Rückfahrt zur „schlimmsten Fahrt“ ihres Lebens. Plötzlich sitzt sie allein im Abteil. Wie soll es weitergehen? Wo wird Uwe hingebracht? 40 Jahre später ist der Schmerz, der Schreck wieder da. Tränen fließen. Zeit für ein Taschentuch.
„Frau Fehre, es wird bei Ihnen gleich eine Hausdurchsuchung geben.“
Die Stasi stürmt die Wohnung
Angekommen in Riesa, verbrennt sie einige Unterlagen. Im Morgengrauen klingelt das Telefon. „Frau Fehre, es wird bei Ihnen gleich eine Hausdurchsuchung geben. Es kommen sehr viele Leute“, warnt sie eine unbekannte Stimme. Andrea ist noch im Nachthemd, als acht Leute die Wohnung stürmen. Säckeweise packen diese Zeug ein. Die 22-Jährige sitzt wie gelähmt im Sessel. „Ich musste das irgendwie wegatmen, damit dem ungeborenen Kind nichts passiert.“ Barsch wird sie gefragt: „Was liegt unter den Kohlen im Keller?“ „Keine Ahnung, dann müssen Sie halt schippen …“
Uwe wird in eine Zelle gebracht. Es folgt eine erste Vernehmung. Um vier Uhr morgens fährt ein Auto vor. Er kommt in die Stasi-Untersuchungshaft nach Dresden. Einzelzelle. Stundenlange Verhöre. Er wird auseinandergenommen. Gleißendes Licht. Er verliert das Zeitgefühl. Endlich, nach zwei Wochen, betritt Anwalt Kluge die Zelle. Statt seinem Mandanten endlich beizustehen, knallt der verdeckte Stasi-Informant Uwe entgegen: „Du hast ja eine ganz schlimme Nummer abgezogen. Unter zwölf Jahre läuft da gar nichts!“ Uwe weiß gar nicht, was er verbrochen hat. Es folgen schlaflose Nächte. Der Prozess ist ein Schauspiel. Die Strafe und die ganze Prozedur stehen schon vorher fest. Rechtsanwalt Kluge klopft ihm nach dem Schuldspruch „für zwei Ansichtskarten aus Bonn und Frankfurt“ auf die Schultern: „Na, das haben wir jetzt aber super hinbekommen. Nur drei Jahre und neun Monate Zuchthaus!“
Uwe landet im „Gelben Elend“ in Bautzen. Er teilt sich mit 24 Männern eine Zelle von 16 Quadratmetern. Dreistöckige Betten. Verkriechen geht nicht. Uwe weiß nicht: Wer ist zuverlässig, wem kann ich trauen, wer ist politisch, wer kriminell? Tun sich zwei, drei zusammen, wird dies bereits als Revolte gewertet. Es herrscht ein System der Angst, der Spitzel und Zuträger. Hoffnungskraft gibt ihm eine Bibel, versteckt im Spülkasten.
Im Drei-Schicht-System sind die Gefangenen zu Zwangsarbeit – oft auch für den Westen – verdonnert. (Anmerkung des Redakteurs: IKEA bekennt sich, während dieser Beitrag entsteht, zu seiner Schuld, will eine Entschädigung an die Opfer zahlen; Aldi-Nord und -Süd verweigern sich noch.) Abmarsch im Gleichschritt. Uwe nietet Messer für die Mähdrescher von „Fortschritt“. Samstags werden Sonderschichten angeboten. Uwe tut das, was er muss, die Sonderschichten lehnt er ab. Beim Marsch zur Arbeit wird er im Gefängnis verhaftet. Er landet für vier Tage in einem feuchten Keller. Völlige Dunkelheit. Er wird zu drei Wochen Sonderarrest verurteilt. Nach acht Tagen bekommt er Besuch. Dieser setzt sich zu ihm auf die Holzpritsche. „Mensch, Fehre, haben Sie das wirklich nötig? Denken Sie mal an Ihre Frau da draußen, Ihre zwei Kinder. Wollen Sie nicht doch Ihren Ausreiseantrag zurückziehen?“ Uwe bleibt trotz misslicher Lage bei seinem Nein.

„Da wäre ich dem Vernehmer fast an den Hals gesprungen.“
Außen stark, innen verzweifelt
Im Februar 1984 wird Rebekka geboren. Andrea schickt ein Telegramm, doch dies wird zurückgehalten. Sechs Wochen später. Uwe wurde gerade wieder vier Stunden in die Zange genommen. Beim Abführen in die Zelle ruft ihm der Vernehmer nach: „Ach, Ihre Frau hat entbunden.“ Uwes kräftige Hand lässt plötzlich die Kaffeetassen auf dem Tisch im Garten vibrieren. „Da wäre ich dem Vernehmer fast an den Hals gesprungen.“ Nach außen hin zeigt Uwe Stärke. Er ist sich sicher: „Denen zeigst du deine Verzweiflung nicht!“ Doch zurück in der Zelle bricht er zusammen. Ihm laufen die Tränen übers Gesicht.
Andrea hört und sieht von Uwe vier Monate nichts. Verzweifelt fragt sie sich: Lebt mein Mann noch? Ein Gefängnispfarrer schmuggelt ein Lebenszeichen raus. „Ich habe Ihren Mann gesehen. Er lebt. Er ist gesund.“ Dann darf sie ihn in Bautzen besuchen. „Sprechertermin“ für 30 Minuten. Ein winziger Tisch. Die Eheleute sitzen sich gegenüber, dürfen sich aber nicht anfassen. Dazwischen ein Aufseher, der jedes Wort mithört. Die Wärter sind ehemalige Kriminelle oder „Menschen, die nicht viel in der Birne haben“. Menschlichkeit? Fehlanzeige. Erniedrigen gehört zum Tagesgeschäft. Leutnant Lehmann hält Uwe ein an ihn adressiertes Paket vor die Nase. Er öffnet es, stellt die Pfefferkuchen, die Kosmetikartikel, die Schokolade vor sich auf. Dann sagt er: „Fehre, wenn ich Sie so ansehe: Ihnen geht es doch bei uns hier gut! Das brauchen Sie doch alles gar nicht.“ Lehmann packt die Sachen wieder in die Kiste und lässt den Gefangenen abtreten. Noch 40 Jahre später zittert und bebt die Stimme des Heizungsbauers.
Andrea schreibt 150 Briefe, zehn erreichen ihren Mann. Freunde wenden sich von ihr ab, wechseln die Straßenseite. In der Seele bleibt manche Verletzung kleben. Die junge Mutter macht „in der Nacht eine Engelerfahrung!“. Sie hört eine Stimme: Du bist aufgefangen! Sie läuft an der Kreuzkirche in Dresden vorbei. Sie hört Taizé-Gesänge von innen. Das verleiht ihr Kraft. Die Tränen laufen.
Die Geschichte von Uwe wird im Westen öffentlich. Flugblätter der IGFM kursieren. „Hohe Strafe für Mitglieder der Klosterkirchengruppe in Riesa.“ Unbekannte Menschen aus der BRD senden verpackte Solidarität. Andrea wird zum Dauergast auf der Post. Sie braucht einen Handwagen für den Heimtransport der vielen Päckchen. „Wo bekommen Sie denn die ganzen Pakete her?“, fragt eine Angestellte. Andrea macht ein Paket auf, verschenkt Westkaffee. „Hier haben Sie auch etwas davon.“ Das stiftet Unruhe. „Eigentlich waren wir Staatsfeinde, aber wie können dann so viele Hilfspakete eintreffen?“
„Fahren die mich jetzt in einen Wald und erschießen mich?“
Transportiert als „Frischer Fisch“
Im November 1984 wird Uwes Zellentür aufgerissen. „Antreten zur Arbeit. Fehre hierbleiben“, heißt es plötzlich. „Was passiert jetzt?“, fragt er sich. Ihm werden Handschellen angelegt. Auf dem Hof steht eine Barkas B 1000 mit der Aufschrift „Frischer Fisch“. Ein getarnter Gefängnistransporter. Die Wände der fünf Zellen auf Rädern sind schmucklos grau, messen nicht mal einen Kubikmeter. Bei geschlossener Tür ist es stockdunkel, die Kammer hat kein Fenster, nur Lüftungsschlitze an der Decke. Die Gefangenen werden im Unklaren gelassen. Sie wissen nicht, wo sie sind, wo sie hingebracht werden. „Fahren die mich jetzt in einen Wald und erschießen mich dort?“, ängstigt sich der Häftling stundenlang.
Er landet wieder in einer Zelle. Plötzlich gibt es ordentliches Essen. „Was ist hier los?“ Er muss nicht mehr strammstehen, wenn sich die Zellentür öffnet, kann auf dem Bett liegen bleiben. Vier Tage geht das so. Dann heißt es wieder: „Fehre mitkommen!“ Uwe bekommt ein Blatt Papier und einen Bleistift. „Fehre, schreiben Sie mal Ihren Ausreiseantrag!“ Da wird dem 24-Jährigen klar: Ich bin in Karl-Marx-Stadt (heute Chemnitz) im Gefängnis Kaßberg. Er wird jetzt „hübsch gemacht“ für den Freikauf. Vier Tage später heißt es „raus auf den Hof“. Dort steht ein Reisebus. Davor Rechtsanwalt Vogel (Anm. d. Red.: Dieser wurde später als offizieller Mitarbeiter der Stasi enttarnt). Er begrüßt die Frauen und Männer, singt eine Lobeshymne auf sich. „Er habe um jeden Einzelnen gekämpft. Sie dürfen jetzt wegen guter Führung in die Bundesrepublik ausreisen.“ Uwe und die anderen Mitgefangenen werden zur Geheimhaltung verdonnert. „Wer meint, dies im Westen verbreiten zu müssen, schädigt nur diejenigen, die im Zuchthaus auch auf den Genuss der Freiheit kommen wollen.“
Auf der gesperrten, leeren Autobahn geht es Richtung Westen. Vorn im Mercedes: Rechtsanwalt Vogel. Dann der Bus. Hintendran ein Wagen der Staatssicherheit. 500 Meter vor dem Grenzübergang Herleshausen steigt das Wachpersonal aus. Offene Schranken. Auf Knopfdruck wechselt das Kennzeichen des Busses von Ost auf West. Im Bus liegen die Nerven blank. Keiner redet ein Wort. Zum Zerreißen gespannte Stille. Bleibt die Freiheit nicht doch ein Traum oder wird sie jetzt Wirklichkeit? Dann fährt der Bus rechts ran. Ein Staatssekretär steigt ein. „Wir begrüßen Sie herzlich in der Bundesrepublik Deutschland!“
40 Jahre später. Uwes Stimme bricht ab. „Wir heulten wie die Schlosshunde.“ Viele brechen zusammen. Menschen fallen vor dem Bus schluchzend auf die Knie. „Da waren Leute drunter, die waren zu 10, 15 Jahren Haft verurteilt worden. Und plötzlich sind sie frei!“ Vier Menschen weinen am Gartentisch. Der Lärm der nahen A7 bricht in die ergriffene Stille.
Auftritt im ZDF
Uwe kommt ins Notaufnahmelager Gießen. Von dort ruft er in der Bäckerei seiner Schwiegereltern an. Sein freudiges „Ich bin im Westen“ geht in einem glucksenden Meer an Tränen unter. Andrea marschiert am nächsten Tag zur SED-Kreisleitung. Trotzig fordert sie die Zusammenführung mit ihrem Mann. Sie wird abgewimmelt. „Ihr Mann sei doch noch im Knast!“ Dann tritt Uwe im „ZDF-Magazin“ von Gerhard Löwenthal auf. Die DDR-Behörden reagieren panisch. Sie laden Andrea vor. Eilig bekommt sie die Ausreise genehmigt. Doch beim Rausgehen droht man ihr: „Frau Fehre, Ihr Mann treibt schon wieder Unwesen gegen unseren Staat. Denken Sie nicht, dass Sie in Freiheit sind, wir finden Sie überall!“
12. Dezember 1984. DDR-Grenze Gerstungen. Im D-Zug: Andrea, drei Kinder (4 und 2 Jahre und 8 Monate), sechs Koffer. Ein Grenzbeamter reißt die Abteiltür auf. „Frau Fehre, kommen Sie bitte raus!“ Andrea spricht ein Gebt. „Gott, lass es gutgehen!“ Sie versucht Ruhe zu bewahren. Ihr Junge spielt auf dem Bahnsteig an dem Kofferwagen. Ein Grenzer will ihn packen. Andrea brüllt: „Fassen Sie den Jungen nicht an, wir sind nicht mehr Bürger dieses Landes.“ In einem letzten Willkürakt wird eine Leibesvisitation angeordnet. Der damit beauftragte Beamte weigert sich. Er wird abgeführt. Plötzlich heißt es „Kommando zurück“. Sie darf alles wieder einpacken, doch der Zug ist weg. Der Transitzug aus West-Berlin nach Frankfurt/Main wird zum Nothalt gezwungen. Andrea wird in ein leeres Abteil verfrachtet. Tränen laufen ihr über die Wangen. Der Schaffner ist völlig perplex und überfordert. Eigentlich darf hier gar niemand einsteigen. Er telefoniert mit der Leitstelle. Auf dem Bahnsteig in Fulda wartet Uwe. Doch aus diesem steigt Andrea nicht aus. Leute reißen das Fenster auf: An der Grenze in der DDR wurde eine Frau verhaftet …
Andrea strandet in Frankfurt/Main. Dort lässt man für sie den Anschlusszug warten. Weit nach Mitternacht kommt sie in Gießen an. Die dortige Bahnmitarbeiterin sagt ihr: „Ich habe keine Zeit, mich um Sie zu kümmern, aber ich habe hier ‚Trinker Karl‘, der bringt Sie ins Notaufnahmelager.“ Um kurz nach drei Uhr klingelt bei Uwe das Telefon. „Uwe, hier ist Andrea!“ Der setzt sich ins Auto. Zwei Stunden später schließen sich die beiden heulend in die Arme. „Das war wie Weihnachten, Ostern und alle Feiertage zusammen!“ Die Vierjährige braucht etwas, um in der Wirklichkeit anzukommen. Die Tage darauf läuft sie mit dem Papa an der Hand durchs Lager. Sie erzählt: Mein Papa ist im Gefängnis. Dafür bekommt sie manchen Groschen.
Wir lachen und weinen zugleich. Dann folgt eine lange, dankbare Stille. Vögel zwitschern. „Diese Melodie habe ich ein Jahr vermisst“, sinniert Uwe in die Pause. Hat er sich deshalb eine so schöne Outdoorküche gewerkelt? Ich frage ihn: „Was hat dich nicht verbittern lassen? Warum wirkt ihr so versöhnt?“ Spontan entfährt ihm: „Unser Halt im Glauben.“ Andrea nickt.
Verraten von Freunden
Sofort nach der Wende schlägt Uwe bei der Stasiunterlagenbehörde in Dresden auf. Dort herrscht noch Wildwest. Sie drücken ihm einfach alle seine Akten ungeschwärzt in die Hand. Er entdeckt Verpflichtungserklärungen von Freunden, Hintergründe der Verhaftung. Es ging dem Staat nie um die Postkarten, sondern um die Zerschlagung der kirchlichen Gruppe. Er wird rehabilitiert. Dann erhält er eine Vorladung. Plötzlich sitzt er wieder im selben Gerichtssaal. Nur in vertauschter Rolle. Auf der Anklagebank diesmal: Sein ehemaliger Richter Klaus Braune. Die Kommunistenfreunde auf den Zuschauerbänken stimmen die Internationale an, sprechen von Siegerjustiz … Die Beschäftigung mit Demenzkranken und ihren Kriegserfahrungen triggert Andrea. Plötzlich hat sie keinen Boden mehr unter den Füßen. In der Reha wird eine posttraumatische Störung diagnostiziert. Das Unbewusste ploppt auf. Da ist er wieder, der Moment, allein mit den Kindern, die Stasi stellt die Wohnung auf den Kopf … Ihr Therapeut sagt ihr: „Wenn Sie nicht Ihre Grundlage des Glaubens hätten, müssten Sie Medikamente nehmen.“
Die Sonne steht tief im Westen. Uwe klatscht in die Hände: „Lust auf ein Steak? Die gab es unterm Ladentisch im Konsum.“ Wir lachen und feiern die Freiheit wie die Digedags mit Ritter Runkel nach dem Sieg über den bösen Kuckucksberger in seiner gestohlenen Rüstung.
Rüdiger Jope ist Chef-Redakteur des Männermagazins MOVO. Auch er trug als 11-Jähriger einen Schwerter-zu-Pflugscharen-Aufnäher. Dieser wurde ihm im Beisein der Klassenlehrerin und Pionierleiterin vom Staatsbürgerkundelehrer von der Jacke gerissen.

Dieser Artikel ist in der Zeitschrift MOVO erschienen. MOVO ist Teil des SCM Bundes-Verlags, zu dem auch Jesus.de gehört.
Demokratie ist wertvoll
Eine berührende Geschichte. Mir standen Tränen in den Augen. Will sagen: Unsere Demokratie ist sehr wertvoll, Freiheit ist ein hohes Gut und dass sich Menschen lieben und menschliche Werte etwas gelten, von großer Bedeutung. Wenngleich ich die Friedliche Revolution 1989 für eine sehr große Leistung halte, so ist sie für mich immer ein Wunder gewesen, daß der unendlich mächtige Gott ein unendliches Universum nur mit Liebe regiert und doch bisweilen auf unserem winzigen Planeten auch einer der Geschichte ist. Wenn wir mitspielen und der Heilige Geist zur Wirkung kommt, dann er weht wo immer er will.