„Dir, dir, o Höchster, will ich singen“ schildert die Beziehung zwischen Gott und Mensch. Die theologischen Ansichten des Dichters gefielen aber nicht jedem.
1 Dir, dir, o Höchster, will ich singen,
denn wo ist doch ein solcher Gott wie du?
Dir will ich meine Lieder bringen;
ach gib mir deines Geistes Kraft dazu,
dass ich es tu im Namen Jesu Christ,
so wie es dir durch ihn gefällig ist.
2 Zieh mich, o Vater, zu dem Sohne,
damit dein Sohn mich wieder zieh zu dir;
dein Geist in meinem Herzen wohne
und meine Sinne und Verstand regier,
dass ich den Frieden Gottes schmeck und fühl
und dir darob im Herzen sing und spiel.
3 Verleih mir, Höchster, solche Güte,
so wird gewiss mein Singen recht getan;
so klingt es schön in meinem Liede,
und ich bet dich im Geist und Wahrheit an;
so hebt dein Geist mein Herz zu dir empor,
dass ich dir Psalmen sing im höhern Chor.
4 Dein Geist kann mich bei dir vertreten
mit Seufzern, die ganz unaussprechlich sind.
Er lehret mich recht gläubig beten,
gibt Zeugnis meinem Geist, dass ich dein Kind
und ein Miterbe Jesu Christi sei,
daher ich „Abba, lieber Vater!“ schrei.
5 Was mich dein Geist selbst bitten lehret,
das ist nach deinem Willen eingericht’
und wird gewiss von dir erhöret,
weil es im Namen deines Sohns geschieht,
durch welchen ich dein Kind und Erbe bin
und nehme von dir Gnad um Gnade hin.
6 Wohl mir, dass ich dies Zeugnis habe!
Drum bin ich voller Trost und Freudigkeit
und weiß, dass alle gute Gabe,
die ich von dir verlanget jederzeit,
die gibst du und tust überschwänglich mehr,
als ich verstehe, bitte und begehr.
7 Wohl mir, ich bitt in Jesu Namen,
der mich zu deiner Rechten selbst vertritt,
in ihm ist alles Ja und Amen,
was ich von dir im Geist und Glauben bitt.
Wohl mir, Lob dir jetzt und in Ewigkeit,
dass du mir schenkest solche Seligkeit.
Text: Bartholomäus Crasselius
Melodie 1: Hamburg 1690 / Halle 1704
Melodie 2: Johann Sebastian Bach
Wenn man zum Ende des 17. Jahrhunderts an der Universität zu Halle studierte, konnte es geschehen, dass man in den Kreis um August Hermann Francke geriet und von der Strömung des Pietismus erfasst wurde. So geschah es Bartholomäus Crasselius, dem Dichter des Liedes „Dir, dir, o Höchster, will ich singen“. Er wurde zu einem eifrigen Verfechter dieser neuen Frömmigkeitsrichtung. Die setzte auf eine individuelle und verinnerlichte Gottesbeziehung und geriet damit in Gegensatz zu der orthodoxen, streng rechtgläubigen lutherischen Theologie.
Nach seinem Examen wirkte der junge Mann als Hauslehrer, bevor er in den Pfarrdienst eintrat. Aber sowohl als Lehrer als auch als Pfarrer fiel Crasselius durch seine pietistischen Neigungen auf – was seinen Dienstvorgesetzten durchaus missfiel. Nach harten theologischen Auseinandersetzungen wurde er darum seiner Ämter enthoben und des Landes verwiesen. Von 1701 an wirkte er als Pfarrer in Nidda in der Wetterau, fünf Jahre später übernahm er ein Pfarramt in Düsseldorf. Dort starb er 1724 im Alter von 57 Jahren.
Singen und beten
Von den vielen von ihm gedichteten Kirchenliedern hat es nur ein Lied – „Dir, dir, o Höchster, will ich singen“ – bis heute in die Liederbücher geschafft. Da klingt ein Detail der Titelzeile allerdings etwas anders als im Original von 1695, nämlich bei der Nennung des Gottesnamens. Ursprünglich hieß der Titel des Liedes „Dir, dir, Jehova, will ich singen“. Im Zuge einer Überarbeitung wurde er geändert.
Sieben ausgesprochen gehaltvolle Strophen hat der Text – eine kleine Sing- und Gebetslehre. „Gott, ich will dir ein neues Lied singen.“ Diesen Vers aus Psalm 144,9 hat der Dichter als Ausgangspunkt genommen. In diesem Sinne fallen das Singen und das Beten in eins; beides sind ja Ausdrucksweisen, sich Gott zu nähern, ihn anzubeten, ihn zu loben.
Aber geht das denn so ohne Weiteres? Crasselius, ein in der Bibel Bewanderter, weiß, dass die Beziehung Gott – Mensch ein höchst dynamischer Prozess ist. In ihm wirken der Vater, der Sohn und der Geist miteinander. Darum lautet die Bitte des Sängers und des Beters zunächst, hineingezogen zu werden in diese göttliche Dynamik.
Zwei Melodien: Halle und Bach
In dem Zusammenhang klingen etliche Bibelstellen zum Thema Beten an, zum Beispiel aus Römer 8. Interessant sind die letzten beiden Strophen des Liedes: quasi an die eigene Person gerichtete Seligpreisungen. Damit fasst der Liederdichter zusammen, was er zuvor an biblischer Wahrheit über die Beziehung Gott – Mensch dargestellt hat. Denn Crasselius erkennt: In diese Beziehung einzutreten, bedeutet Heil, Trost, Freude und Seligkeit bis in die Ewigkeit hinein.
Die eindrucksvolle Melodie unseres Liedes beginnt mit einer Fanfare, die Aufmerksamkeit erregt. Und dann nimmt sie ihren Lauf – fast anderthalb Oktaven misst ihr Umfang. Und dennoch ist sie gut zu singen, denn sie bewegt sich in kleinen Schritten auf- und abwärts durch den Tonraum. Dass zur Herkunft der Melodie „Halle 1704“ angegeben wird, kommt daher, dass Johann Anastasius Freylinghausen (ebenfalls ein Pietist) sie in seinem „Geistreichen Gesangbuch“ veröffentlicht hat.
Aber noch von einem anderen Gesangbuch soll hier die Rede sein: von Georg Christian Schemellis Liederbuch von 1736. Das enthielt „954 geistreiche, sowohl alte als neue Lieder und Arien (unter anderem auch „Dir, dir, o Höchster, will ich singen“), mit wohlgesetzten Melodien“. Als musikalischen Mitarbeiter konnte Schemelli Johann Sebastian Bach gewinnen. Im Blick auf dieses Lied war der aber nicht „nur“ Bearbeiter, sondern – das ist gesichert! – Komponist der ariosen Melodie. Die freilich nichts ist für die singende Gemeinde, sondern eine schöne musikalische Aufgabe für eine Solostimme.
Dr. Ute Zintarra ist Musikwissenschaftlerin, Kirchenmusikerin und hat als Musikredakteurin bei ERF Medien gearbeitet.
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