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Bomben auf Kiew: „In dieser Nacht sind die Kinder alle zehn Jahre älter geworden“

Über Nacht flieht der Arzt Roman Kornijko von Kiew nach Freiburg. Um 157 Waisenkinder zu retten, lässt er seine Familie im Krieg zurück.

Von Elisabeth Vollmer

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„Wir sind heute in einer anderen Welt aufgewacht“, formuliert Bundesaußenministerin Annalena Baerbock am 24. Februar in einer Ansprache. In eine andere Welt katapultiert hat diese Nacht auch Roman Kornijko. Aber geschlafen hat der 55-jährige Arzt nicht. Er hat sie im Luftschutzkeller verbracht – zusammen mit den Waisenkindern des Waisenhauses Otchy Dim (auf Deutsch „Vaterhaus“) in Kiew.

In dieser Nacht ist passiert, worauf er und sein Team sich die letzten Tage vorbereitet und womit sie im Letzten aber doch nicht wirklich gerechnet hatten: Bomben schlagen in unmittelbarer Nähe ein. Die vermeintliche Sicherheit durch die nahegelegene militärische Flugabwehr macht sie zum Fokus der russischen Bomben in der ersten Kriegsnacht.

Keiner der zugesagten Busse ist verfügbar

Eine mögliche Evakuierung war schon zuvor im Blick. Mit dem Kooperationspartner „S’Einlädele“, einer gemeinnützigen GmbH in Freiburg, die sie schon seit vielen Jahren über Patenschaften und andere Aktionen unterstützt, und der Stadt Freiburg selbst sind Vorgespräche gelaufen und Einladungspapiere für die Ausreise fertiggemacht worden. Mit ukrainischen Busunternehmen haben sie sich abgestimmt.

Doch als es ernst wird, ist keiner der zugesagten Busse verfügbar. Die Koffer sind gepackt. Panzer rollen über die Straßen. Die Angst setzt Kindern und Betreuern zu. Aus den Medien erfahren sie, dass die geplante Fluchtroute das Ziel der nächsten Bombardierung sein könnte. „Ich habe zu den Kindern gesagt, dass uns jetzt nur Gott helfen kann, und wir haben alle zusammen gebetet„, erzählt der Leiter im Interview: „Und dann war es, als würden Engel uns auf dem Weg begleiten.“

Schweren Herzens lässt Roman seine Familie in der Ukraine zurück

Ein ihm unbekannter Busunternehmer hat von der aussichtslosen Evakuierungssituation gehört. Der ist nicht nur bereit, die Fahrt bis zur polnischen Grenze umsonst zu übernehmen, sondern hat auch noch einen Freund bei der Polizei, der bereit ist, die Eskortierung der Busse zu organisieren.

Aber bevor es losgeht, steht Roman noch der schwerste Moment dieser Tage bevor: Er muss sich von seiner Familie verabschieden. Der Platz in den Bussen ist begrenzt. Priorität hat die Rettung der 157 Kinder und ihrer wichtigsten Bezugspersonen. Und so lässt er schweren Herzens seine Frau und seine vier Töchter zwischen 16 und 36 Jahren zurück. Diese Entscheidung tragen sie alle mit und sie fällt allen schwer. Keiner weiß, ob und wann sie sich wiedersehen.

In unmittelbarer Nähe gehen Bomben nieder

Als sie endlich loskommen, sind die Straßen verstopft. Viele Menschen sind auf der Flucht gen Westen. Doch die Polizisten haben eine unkonventionelle Lösung für dieses Problem: Sie leiten die Busse auf die – leere – Gegenfahrbahn. So können sie zügig am Stau vorbeifahren.

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Als sie sich rund 300 Kilometer hinter Kiew in relativer Sicherheit wiegen und am Rastplatz eine Pause einlegen, gehen in unmittelbarer Nähe Bomben nieder. Instinktiv werfen sich die Kinder auf den Boden. Dann haben sie es eilig, wieder in den Bus zu kommen. „In dieser Nacht sind die Kinder alle zehn Jahre älter geworden. Aber ich habe ihnen versprochen, dass sie ihre Kindheit wieder zurückbekommen werden“, erzählt der Arzt.

Vor und hinter dem Bus fahren die Polizeiwagen jetzt mit Notbeleuchtung. Der Bus selbst fährt ohne Licht, um kein Ziel für eine Bombardierung abzugeben. Auch die Strecke, die bereits hinter ihnen liegt, ist in dieser Nacht das Ziel von Bomben.

„Sie waren für uns wie Engel.“

Drei Stunden später wären sie nicht mehr durchgekommen. Aber so gelangen sie unbeschadet zur polnischen Grenze. „‚Fahrt los, unsere Freunde, und seid gesegnet‘, haben uns die Polizisten an der Grenze verabschiedet. Das war wirklich ganz besonders. Sie waren für uns wie Engel“, erzählt Roman berührt.

Und es sind nicht die letzten Engel, die ihren Weg begleiten. So übernehmen in Dresden ausgeruhte Busfahrer das Steuer und auch eine unterwegs notwendige Reparatur an einem der Busse ist möglich. Als sie am Sonntagvormittag in Freiburg ankommen, ist es ein bewegendes Fest für Ankommende und Erwartende.

In einer beispiellosen Aktion haben in Freiburg Stadtverwaltung, S’Einlädele-Team, evangelische Stadtmission, Malteser Hilfsdienst, Deutsches Rotes Kreuz, die deutsch-ukrainische Gesellschaft und andere zusammengearbeitet, um die Evakuierung zu ermöglichen und die Unterkunft vorzubereiten.

Zwischen Trauma und Fußballmatch

Drei Wochen sind seit jenem Sonntag vergangen, als ich zum ersten Mal mit Roman spreche. In der Zwischenzeit haben sich manche der Kinder schon gut eingelebt. Romans Augen leuchten, als er vom spontanen deutsch-ukrainischen Fußballmatch erzählt. Da hätten sich einige ihre Kindheit schon wieder zurückerobert.

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Andere tragen noch schwer an den traumatischen Erlebnissen und haben zu stottern begonnen oder nässen wieder ein. Umso wichtiger ist es Roman, eine verlässliche Tagesstruktur, entspannende Spielangebote und die vertrauten Bezugspersonen für seine Schützlinge zu haben.

„Sie haben im Vaterhaus noch so lange es ging Menschen aufgenommen und versorgt, die auf der Flucht waren. Darauf bin ich wirklich stolz.“

Ohne ein großes Netzwerk ehrenamtlicher Helfer, die hier unterstützen, wäre das ebenso wenig möglich wie die Organisation mehrerer Hilfstransporte. So wurden in den letzten Wochen in Freiburg viele Pakete gepackt und in die Ukraine gebracht. Auf dem Rückweg war dann Platz, um weitere Menschen aus den Kriegsgebieten zu evakuieren.

Im Bus an einem Sonntag war dann endlich auch Romans Familie dabei und sie konnten sich glücklich und gesund wieder in die Arme schließen. „Sie haben im Vaterhaus noch so lange es ging Menschen aufgenommen und versorgt, die auf der Flucht waren. Darauf bin ich wirklich stolz.“

„Hätten nie gedacht, dass wir selbst einmal flüchten müssen“

Die Welt ist eine andere geworden seit dem 24. Februar. Schreckensbilder und -nachrichten dieses Krieges dominieren die Schlagzeilen und Wahrnehmung. „Wir haben damals 159 Kinder und 90 Erwachsene aus Donezk aufgenommen“, erzählt Roman. „Wir hätten doch niemals gedacht, dass wir selbst einmal flüchten müssten.“

Gleichzeitig gibt es viel Gutes: eine beispiellose Solidarität, Spendenbereitschaft, unbürokratische Hilfen, das Zusammenwirken unterschiedlicher Organisationen. So dauerte es gerade mal sechs Stunden von der Anfrage bis zur Zusage der Stadt Freiburg, die Unterbringung der Geflüchteten zu übernehmen.

Die deutsch-ukrainische Gesellschaft stellt ihre Kompetenz als Dolmetscher zur Verfügung. Und das Schweizer Team von Amnesty International profitiert von den Erfahrungen der Vaterhaus-Evakuierung, als es darum geht, Kindern eines ukrainischen Pestalozzi-Waisenhauses den Fluchtweg zu ermöglichen.

„Übergangslösung“ dauert länger als geplant

Inzwischen ist es fast zehn Wochen her, dass Roman und sein Team mit den Kindern aus Kiew geflohen sind. Noch immer sind sie auf vier Flüchtlingsunterkünfte in Freiburg verteilt. Diese „Übergangslösung“ dauert nun schon deutlich länger als geplant.

Der Wunsch – wie im Vaterhaus in Kiew –, in einem großen Haus zusammenzuleben, wird sich trotz intensiver Bemühungen von vielen Seiten nicht realisieren lassen. Stattdessen werden jetzt mehrere Häuser gesucht, in denen jeweils acht bis zwölf Kinder mit ihren Betreuern untergebracht werden können.

Einige Pflegefamilien haben sich inzwischen schon verselbstständigt und leben mit den Kindern in regulären Wohnungen. Roman hat sie dazu ermutigt, auch wenn sie ihm dadurch bei der Betreuung der großen Gruppe von aktuell noch 96 Kindern fehlen.

Unerwartete Hilfe kommt von allen Seiten

Die Belastung der Mitarbeitenden ist sehr hoch, Rückzug kaum möglich. Andererseits erlebt Roman, dass sich zum Beispiel eine Schulleiterin aus Butscha bei ihm meldet, nach Freiburg kommt und den Online-Unterricht der Kinder organisiert, dass die Refugee-Docs sich um die medizinische Versorgung kümmern und rund 60 Ehrenamtliche an unterschiedlichsten Stellen mithelfen.

Roman ist in Freiburg ganz für seine Schützlinge da und bleibt doch auch mit der Situation in der Ukraine aufs Engste verbunden und in ständigem Kontakt. Aktuell ist er dabei, die Ausstattung von zwei Ambulanzen mitzuorganisieren. Vollgepackt mit Verbandsmaterial und Medikamenten, werden sie sich auf den Weg nach Borodjanka und Irpin machen.

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Die Bezirksverwaltungen der beiden umkämpften Städte haben ihn darum gebeten. Bei 50.000 Euro liegt der Wert der kostbaren Fahrzeuge und Fracht. 20.000 Euro davon fehlen noch. Aber Roman vertraut darauf, dass das Geld noch zusammenkommen wird, und er hofft und betet, dass Gottes Engel auch deren Weg begleiten werden.

Elisabeth Vollmer ist Religionspädagogin und lebt mit ihrem Mann im gastfreundlichen Freiburg. Sonntags begegnet sie Roman öfters vor der Pauluskirche. Hier feiern die ukrainischen Gäste ihren Gottesdienst im Paulussaal, während die evangelische Gemeinde „dreisam3“ in der Pauluskirche feiert. Allerdings ist das Verhältnis von Kindern zu Erwachsenen in den beiden Gottesdiensten genau umgekehrt.

Info: Das S‘Einlädele ist ein gemeinnütziger Laden in Freiburg. Mit dem Erlös werden die in der Ukraine aufgebauten humanitären Hilfsprojekte, wie Straßenkinderheime und sozial-diakonische Einrichtungen oder auch derzeit die „Ukraine-Nothilfe“, unterstützt. Weitere Infos hier. Eine Übersicht weiterer Hilfsprojekte für die Ukraine haben wir auf dieser Seite zusammengestellt.


Ausgabe 2/22

Dieser Artikel ist in der Zeitschrift MOVO erschienen. MOVO wird vom SCM Bundes-Verlag herausgegeben, zu dem auch Jesus.de gehört.

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1 Kommentar

  1. Es geht um das schlimmste vorstellbare Problem

    Ja, was soll man dazu schreiben? Sicherlich dass es ganz toll ist – und auch erstaunlich – wie sehr Menschen hier im Krieg oder bei schlimmen Katastrophen anderen helfen und zu wahren Samaritern werden. Ich billige jedem Menschen aber auch ein Recht auf Notwehr zu und Staaten gleichermaßen, einen völkerrechtswidrigen Angriff abzuwehren. Aber es gehört zu den größten Widersprüchen in dieser Welt, dass es zugleich dringend angebracht ist, den Krieg zu ächten und durch andere Möglichkeiten und Mittel zu ersetzen, Konflikte friedlich zu lösen. Dies würde aber nur funktionieren, wenn beide Seiten (und nicht nur eine) eine ethische und moralische Ebene mit einbringen würden. Es gibt keinen guten, sauberen und sanften Krieg. Jeder Krieg ist immer gegen den Willen Gottes und ebenso gegen den Willen jedes vernünftig empfindenden Kulturmenschen. Auch wenn die russische Propaganda den Rekord des auch – absurden – Lügens aufstellt: Wenn Herr Putin von einer „Operation“ spricht, dann ist alleine schon diese falsche Beschreibung von Krieg ein Beweis eines schlecht verdrängten Gewissens. Ich finde es phantastisch, wie hier Waisenkindern geholfen wird auf ihrer Flucht aus der Todesgefahr. Oder wie Privatmenschen nicht selten gefährliche lange Autofahrten unternehmen, um kleine und große Menschen völlig uneigennützig in Sicherheit bei uns und im westlichen Ausland zu bringen. Andere aber wiederum laden übergangsweise bislang fremde Menschen zum Mitwohnen in der eigenen Privatwohnung ein. Was mich allerdings stört: Dass es wegen des oftmaligen Nichterwähnens Soldaten zugeschrieben wird, dass sie aufgrund ihres Berufes nun dafür auserwählt sind Kanonenfutter zu werden und hier noch am wenigsten bedauert wird, dass sie grausam durch moderne und modernste Waffen manchmal regelrecht zerstückelt werden. Ich halte Herrn Putin nicht für lernfähig, schon gar nicht für umkehrwillig und die russischen Bürger scheinen leider zu einem großen Teil fehlinformiert zu sein. (angelogen wäre richtiger). Ich frage mich daher, wie man mit einem Menschen und auch mit einem „Staatssystem Putin“ Friedensverhandlungen vornehmen kann, wenn durch die immensen Kriegsverbrechen jegliches Vertrauen vor die Hunde gegangen ist. Die Frage ist nämlich zugespitzt, wie man den vielen Heimatlosen, die wieder in ihre Heimat zurück möchten, wirklich diesen großen Wunsch erfüllen könnte. Da fällt mir keine Antwort ein, weil nur die Ausverhandlung eines Waffenstillstandes mit Sicherheit dazu führt, dass beim Erstarken der militärischen Kräfte in Russland das grausame Blutbad an der Zivilbevölkerung und den armen ukrainischen Soldaten weitergeht. Vielleicht ist das zu erbetende Wunder, und es muss ein großes sein, dringend notwendig. Ich befürchte, wenn der Kriegs noch fünf bis zehn Jahre weitergeht, werden andere Themen wieder im Mittelpunkt stehen, sodann immer mehr Menschen auch ihre Augen, Ohren und Seelen verschließen und sich erfreulicheren Perspektiven zuwenden. Dann wir die Ukraine zu einem Weltnotfall, über den man nur noch selten klagt und Putins Operation wird dazu führen, dass er durch das Austrocknen unserer Gewissen doch auf eine sehr falsche Weise Sieger wird. Fehlt nur noch, dass wir auch noch Zugriff zur Atombombe bekommen möchten: Auch mit dem Effekt, dass weltweit ein Begehren wach wird, auch das unliebe Atom-Bömbchen zu haben. Die Welt wird dann wieder viel unsicherer, denn ein Untergang der Menschheit wäre durch einen dummen Irrtum viel wahrscheinlicher geworden. Also liebe Politiker/innen: Lasst euch was einfallen, damit unsere menschliche Welt nicht vor die Hunde geht. Wofür gibt es sonst in anderen Ländern Denkfabriken, die nichts anderes tun als querzudenken? Bei diesem Thema geht das nicht anders. Aber beten sollten wir alle, damit die Betroffenen nicht weiter unsäglich leiden müssen. Selbstverständlich beziehe ich die vielen unerwähnten Kriege hier voll mit ein.

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