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Der Bällesammler und Sinnstifter

Die einen sammeln Souvenirs, andere Kunstwerke oder Punkte. Die Sammlung von Hans-Martin Haist ist wohl weltweit einmalig: selbstgebastelte Fußbälle von Straßenkindern aus der ganzen Welt.

Hans-Martin Haist steht vor einem großen Regal voller Kartons: sein Ball-Archiv. Jeder Ball hat einen eigenen beschrifteten Karton und ist sorgfältig verstaut. Beim Blick auf das Archiv strahlen seine Augen. „Ich weiß gar nicht richtig, welcher Ball für mich aus der Sammlung herausragt”, überlegt der 64-Jährige, „denn jeder Ball erzählt eine ganz eigene Geschichte.” Aber dann zeigt er doch auf ein Exemplar aus dem afrikanischen Burundi und holt ihn vorsichtig aus dem Karton. Ein handgroßer, etwas länglicher Ball, zusammengestopft aus alten Socken, gefüllt mit Sand. Mit Bewunderung hält er ihn in der Hand: „Ja, hiermit hat alles angefangen – 2005!”

Hans-Martin Haist lebt in Freudenstadt, einer schönen Kleinstadt, mitten im Schwarzwald. Die Stadt ist umgeben von wundervoller Natur. Kein Wunder, dass viele Menschen den Ort zum Erholungsurlaub oder zur Kur aufsuchen. Haist kennt hier die schönsten Ecken, weiß aber auch von vielen dunklen, schwarzen Orten – und die haben nichts mit dem Wald zu tun: „Hier lebt es sich richtig toll. Das stimmt. Doch Kinder in Not gibt es nicht nur in den armen Ländern, wie bei den Straßenkindern. Auch hier in Deutschland gibt‘s jede Menge Kinder, die schon in jungen Jahren fragen, was aus ihrem Leben noch werden soll. Das sind letztendlich ganz ähnliche Fragen, die sich auch Straßenkinder weltweit stellen.”

Als er diese Not erkannte, übernahm er 1994 die Leitung des heilpädagogischen Kinderheims „Villa Sonnenheim”. Über die Jahre ist noch die Gründung eines Waldkindergartens und Sozialarbeit an den Schulen hinzugekommen. Ebenso wie sein Herzensprojekt, die Kinder- und Jugendwerkstatt, die hauptsächlich über die selbst gegründete Stiftung “EiGEN-SiNN” läuft. Rund 130 Kinder und Jugendliche aus dem ganzen Landkreis werden dort nachmittags betreut und gefördert.

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Kunstwerke aus Bananenblättern oder Seetang

Beim Blick auf den Ball aus Burundi schüttelt der systemische Familientherapeut den Kopf und lacht: „Eigentlich hatte ich damals gar keine Zeit, mich um Fußbälle zu kümmern. Ich hatte hier mehr als genug zu tun mit den ganzen Leitungsaufgaben. Aber ich bin halt positiv verrückt.” Dann erinnert er sich zurück.

2005: „Ich stand mit einigen Jungs auf dem Fußballfeld. Alle hatten ein echt großes Gewalt- und Sozialproblem. Fußball ist ein super Instrument, um soziale Kompetenzen zu vermitteln.” Doch beim Kicken merkte Haist, dass es den Jungs kaum noch um das eigentliche Spiel mit dem Ball ging. Sie trugen teils teure Trikots, sprachen über Reichtum, Macht und Millionenverträge. Da kam ihm eine Idee. Die jungen Spieler sollten erleben, wie es sich anfühlt, mit einem selbstgebastelten Ball zu spielen. Gemacht von Kindern aus völliger Armut, denen es nur um den Spaß am Kicken des halbwegs runden Spielgeräts geht. Er schrieb ein paar Mails an Entwicklungshelfer, an Missionare in anderen Ländern. Kurze Zeit später hielt er jenen Ball aus Burundi in der Hand. Die Jungs staunten nicht schlecht. Doch auf dem Rasen wurde schnell klar: Damit können wir gar nicht spielen! Der ist viel zu empfindlich.

Man könnte denken, Hans-Martin Haist gäbe enttäuscht auf – gute Idee, aber gescheitert. Doch stattdessen schaut er sich immer wieder diesen Ball aus Burundi an. Er kann den Blick nicht davon abwenden. Er ist fasziniert von diesem halbrunden Etwas, das aus einfachen Materialien, die vor Ort herumlagen, liebevoll und kreativ gebastelt wurde. Schnell wird ihm klar: Davon möchte ich mehr haben. Selbst, wenn man nicht damit spielen kann. Das ist ein einfaches, aber geniales, kunstvolles Handwerk aus Kinderhänden. Ein Unikat. Zwischen zwei Meetings, in der Mittagspause oder nach Feierabend schreibt Haist nun Mails in die ganze Welt hinaus. Am Ende wurden es um die 3.000 Mails rund um den Globus.

Was dann passiert, hätte Haist nicht zu träumen gewagt. Über 300 Bälle aus 48 Ländern trudeln nach und nach bei ihm ein. Dabei gleicht kein Ball dem anderen, denn die Straßenkinder basteln ihren Ball aus den Materialien, die ihnen vor Ort zur Verfügung stehen. Die Bandbreite ist riesig: Von Bananenblättern, Blechbüchsen und Schweineblasen über Seetang und Papier bis hin zu Plastikmüll, Stoffresten und Kronkorken. Mal zusammengeknotet, mal geklebt, mal genäht. Er zeigt den Kindern seiner Einrichtung und Freunden die Bälle. Alle sind fasziniert.

Jedem Kind seinen eigenen Sinn

Als 2006 die Fußball-WM ganz Deutschland ins Sommermärchen versetzt, darf Hans-Martin Haist zum großen Fest in der Kreissparkasse vor Ort seine Bälle ausstellen. „In der unteren Etage der Bank durfte ein anderer Sammler seine Trikotsammlung von den größten Weltstars im Fußball zeigen. Dann ging man hoch in die nächste Etage. Dort hingen meine gesammelten Bälle von den Straßenkindern, den Ärmsten der Armen.” Überall wird er auf die Ausstellung angesprochen, die Medien berichten darüber. „Die Leute fanden es stark, diesen Kontrast zwischen Millionären und Straßenkindern zu sehen. Es hat sie tief berührt.”

Für die gelungene Ausstellung bekommt Haist einen Geldbetrag von der Bank, den er direkt in seine Stiftung „EiGEN-SiNN” investiert. „Ich habe jedes Mal gesagt: Die Bälle gehören der Stiftung, nicht mir. Deswegen hab ich das Geld für die Bälle immer direkt in ‚unsere Kinder‘ investiert.“ Haist, selbst Vater dreier Töchter, merkt man sofort an, dass er für seine Arbeit brennt: „Kinder mit Nöten zu stärken – das gibt mir heute Sinn. Es ist nicht nur ein Job, ein Beruf. Das ist Berufung.”

Auf dem Weg zur Kinder- und Jugendwerkstatt „EiGEN-SiNN” zeigt Hans-Martin Haist sein Armband, blaue Schrift auf gelbem Hintergrund. Darauf steht: „Mein Leben macht SINN!” Haist erzählt, dass jedes Kind und alle Mitarbeitenden in den Einrichtungen sowie alle Kinder an den Schulen im Umkreis dieses Armband geschenkt bekommen. Rund 10.000 Stück wurden schon verteilt. Das Motto ist Mittelpunkt der Arbeit. „Meine Mitarbeitenden und ich haben uns zum Ziel gesetzt: Wir wollen gemeinsam mit jedem einzelnen Kind suchen, was ihm einen eigenen Sinn im Leben gibt – trotz aller schlimmen Erfahrungen in jungen Jahren.” Denn natürlich hätten die Kinder Gewalt- und Schulprobleme und würden oftmals keinen Sinn mehr im Leben sehen, wenn sie zu Hause Sucht, Gewalt und Vernachlässigung erlebten. Der Name „EiGEN-SiNN” wurde deswegen auch bewusst gewählt, wie er erklärt: „Der Bindestrich ist wichtig. Die Kinder sollen nicht zu eigensinnigen Menschen werden, aber sie dürfen bei uns ihren eigenen Sinn finden.”

Erfolg in seiner Arbeit sei daher auch schwer messbar, gibt Haist zu. „Das Schönste ist aber, wenn wie vor ein paar Wochen zwei Mädels zu mir kommen, die einst hier in der Einrichtung waren. Beide sind jetzt Polizistinnen geworden. Oder ein Junge, der als Drittklässler zu uns gebracht wurde. Da sind damals die Stühle durch den Raum geflogen, es war eine intensive Zeit. Doch am Ende hat der Junge Abitur gemacht, Trompete studiert und ist heute Profi-Trompeter, hat sogar schon in der Elbphilharmonie Konzerte mitgespielt.” Er ergänzt, dass sicher nicht jedes Kind am Ende eine große Karriere hinlege. Aber er hofft doch, jedem Kind auf dem Weg der Sinnsuche wichtige Impulse fürs Leben mitgeben zu können. Und welche Wege die Kinder gehen würden, das sei immer wieder beeindruckend.

30 Bälle an die FIFA

Zurück zu den Fußbällen. Welche Wege diese gehen würden, daran hätte Hans-Martin Haist ebenfalls nicht im Traum gedacht. Bald folgten aufgrund vieler Nachfragen nach der ersten Ausstellung viele weitere, darunter in Stuttgart, Hamburg, Brüssel und Bern. Haist konnte dabei auch Vorträge halten, viele prominente Politiker und Sportler hörten ihm zu. Anhand der Bälle machte er auf die weltweite Problematik von über 100 Millionen Straßenkindern in der Welt aufmerksam, wies zugleich aber auch auf die Nöte von Kindern lokal vor Ort hin.

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Eine Ausstellung wird der Freudenstädter nie vergessen. Es gab eine Vortragsreihe, zu der auch die Schweizer Schiedsrichter-Legende Urs Meier als Sprecher eingeladen war. In diesem Rahmen durfte Haist erneut seine Fußbälle ausstellen. Nachdem Meier seinen Vortrag gehalten hatte, konnte Haist mit ihm sprechen. Der ehemalige Schiedsrichter zeigte sich sofort begeistert von der Sammlung und erklärte, dass die Bälle unbedingt ins FIFA-Museum nach Zürich gehörten. Hans-Martin Haist war sich sicher: Der Meier wollte nur nett sein. Doch drei Wochen später rief tatsächlich ein FIFA-Mitarbeiter an. Haist verkaufte 30 Bälle an den Weltfußballverband. Das Geld steckte er direkt in die Kinder- und Jugendwerkstatt. Schelmisch lächelnd verrät er: „Aber die besten Stücke – die sind weiterhin hier in der Sammlung. Hier bei uns und unseren Kindern.”

Bei der Werkstatt angelangt, kommt ein Mädchen angerannt und ruft lachend: “Hey, hallo Chef! Was geht?” Das Mädchen ist als Geflüchtete nach Deutschland gekommen. Haist spricht kurz mit ihr, erzählt dann: „Hier schließt sich der Kreis. Wir haben hier Kinder aus über zwanzig verschiedenen Nationen. Klar, wir sind lokal in Freudenstadt verankert. Aber die Kinder kommen aus der ganzen Welt – so wie die Fußbälle eben auch!”


Diesen Artikel schrieb Stefan Kleinknecht zunächst für das Magazin lebenslust. lebenslust erscheint regelmäßig im SCM Bundes-Verlag, zu dem auch Jesus.de gehört.

lebenslust Cover

Mehr Infos zur Fußball-Sammlung von Hans-Martin Haist unter stiftung-eigensinn.de.

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