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Ex-Prostituierte: „Ich habe gemerkt, wie knapp ich überlebt hatte“

Sophie Hoppenstedt prostituierte sich schon als Teenager. Hier erzählt sie von ihrer Kindheit in einer christlichen Pflegefamilie, Vergewaltigungen, Drogenkonsum – und wie sie dank eines alten Mannes den Ausstieg schaffte.

Sophie, wie sah deine Kindheit aus?

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Sophie Hoppenstedt: Meine Mutter hatte ein Verhältnis mit einem amerikanischen GI, der in Deutschland stationiert war. Sie hat sich aber schon vor meiner Geburt von ihm getrennt – und erkrankte später an einer paranoiden Schizophrenie. Das heißt, sie war sehr aggressiv, unberechenbar und hat mich extrem vernachlässigt. Ich wurde wohl auch sexuell missbraucht, aber da war ich sehr jung und kann mich deshalb nicht richtig daran erinnern. Mit vier Jahren bin ich dann zu christlichen Pflegeeltern gekommen. Mit 15 habe ich mich auf einem Jugendfestival für Jesus entschieden.

Rebellion gegen christliche Pflegeeltern

Wie lebte es sich in der Pflegefamilie?

Hoppenstedt: Meine Pflegeeltern waren sehr gläubig, sehr konservativ, sehr streng. Die haben in meiner Jugend versucht, Kontakte zu Männern zu unterbinden. Das hat aber dazu geführt, dass ich noch mehr auf diese Schiene gegangen bin. Ich wollte rebellieren.

Wie ging es weiter?

Hoppenstedt: Ich habe angefangen, mich mit Männern aus dem Internet zu treffen. Da kam es auch zu Gewalt. Meine Pflegeeltern haben gesagt: “Wenn du dich so anziehst, dann passiert dir halt sowas.” Ich habe ihnen überhaupt nicht mehr vertraut und sie mir auch nicht. Es gab ständig Ärger. Sie drohten mir, dass sie mich ins Heim schicken, wenn ich mich weiter so verhalte. Mit 16 Jahren war mir das alles zu viel. Ich bin abgehauen – und dann selbst im Heim gelandet.

Als Escort-Girl das große Geld gemacht

Wann bist du in die Prostitution gerutscht?

Hoppenstedt: Ich habe mich, seit ich 14 war, gelegentlich mit Männern getroffen. Aber das war nicht ökonomisch notwendig. Meistens war das für Drogen oder einfach nur so. Nach einem Drogenentzug fing es dann richtig an.

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Mit 18 habe ich mich bei einer Escort-Agentur angemeldet [eine Escort-Agentur vermittelt Frauen oder Männer, die gegen ein Honorar für eine vereinbarte Zeit ihre Gesellschaft anbieten; in der Regel handelt es sich um eine Form der Prostitution; Anm. d. Red.] und damit ziemlich viel Geld verdient. Ich verdiente zwischen 10.000 und 20.000 Euro im Monat und konnte mir alles kaufen, was ich wollte. Das war toll als 18-jähriges Mädchen. Ich hatte das Gefühl, dass mein Leben plötzlich einen Sinn hatte. All das Schlechte hatte ich erlebt, damit ich jetzt reich werden kann. Durch Prostitution.

Natürlich bin ich nicht reich geworden: Ich habe viele Drogen genommen und bin viel Shoppen gegangen, habe große Partys gefeiert. Alle möglichen Leute haben bei mir gewohnt und sich durchgeschnorrt. Furchtbar.

Wie lange hast du als Escort gearbeitet?

Hoppenstedt: Nach einem halben Jahr habe ich bei der Agentur schon wieder aufgehört. Die sind mir zu fordernd geworden. Ich hatte eine Eierstock- und eine Nierenbeckenentzündung, war zweimal im Krankenhaus deswegen und musste viele Drogen nehmen, um die Schmerzen überhaupt ertragen zu können. Trotzdem hat die Agenbtur Druck gemacht und wollte, dass ich Termine wahrnehme.

Sie haben mir dann gedroht, wenn ich immer absage, bekomme ich keine Termine mehr. Trotz Krankheit habe ich also weitergearbeitet. Heute weiß ich, dass man von einer Eierstockentzündung unfruchtbar werden kann, wenn man nicht zum Arzt geht. Damals jedoch habe ich mich wochenlang nicht behandeln lassen, bis es richtig übel wurde.

„Vor der Kamera hatte ich das Gefühl permanent erniedrigt zu werden“

Was kam nach deiner Zeit bei der Escort-Agentur?

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Hoppenstedt: Ich habe dann als Cam-Girl in der Amateurbranche angefangen. Und zwar richtig erfolgreich, auch wenn ich nicht mehr so viel wie vorher verdient habe. Ich fand es aber noch aus anderen Gründen weniger gut als die Prostitution. Vor der Kamera hatte ich das Gefühl, permanent erniedrigt zu werden und das auch noch mitzubekommen.

Bei der Prostitution gab es so einen Schalter in meinem Kopf, der meine Gefühle abgeschaltet hat. Ich habe einfach funktioniert, wie ein Roboter. Ich habe mich für nichts geschämt. Klar, hatte ich Schmerzen, aber die waren auszuhalten. Ich habe alles wie durch Watte wahrgenommen. Meine körpereigenen Mechanismen haben mich betäubt, teilweise natürlich auch die Drogen.

Und das hat vor der Webcam nicht mehr funktioniert?

Hoppenstedt: Nein, ich war mir jederzeit meiner Taten bewusst. Ich wusste nicht, wer am anderen Ende sitzt. Ob die Leute mich kennen, ob das zufällig ein Nachbar ist. Die ganze Anonymität war weg. Ich fand das furchtbar. Ständig musste ich noch einen Kundenfetisch befriedigen und dabei über die eigenen Grenzen gehen. Sobald das Geld gestimmt hat, habe ich Dinge gemacht, wo ich sonst gesagt habe: Das würde ich niemals tun. Ich habe jeden Tag mehr an Selbstachtung verloren.

Suizidversuch auf wundersame Weise überlebt

Wie ist dir der Ausstieg aus der Prostitution gelungen?

Hoppenstedt: Eine Freundin wurde 2015 von einem Freier vergewaltigt, den ich ihr geschickt hatte. Das ging mir sehr nahe. Ich habe mich schuldig gefühlt. Gleichzeitig war ich ohnehin schon depressiv und hatte das Gefühl, dass mein Leben keinen Sinn mehr hat. Und so habe ich versucht, mich umzubringen.

Ich habe mich in die Badewanne gelegt und mir die Pulsadern aufgeschnitten. Ich hatte eine Geschichte über Franz von Assisi im Kopf, die aber gar nicht stimmt. Ich dachte, er wäre heiliggesprochen worden, weil er sich für Jesus umgebracht hatte. Deshalb habe ich gesagt: “Ach Gott, ich will gar nicht heilig werden, ich will einfach nur zu dir.” Ich habe ziemlich viel Blut verloren und bin ohnmächtig geworden.

Wie hast du das überlebt?

Hoppenstedt: Keine Ahnung. Nach ein paar Stunden bin ich wieder aufgewacht und habe eine Stimme gehört, die gesagt hat: “Es ist für dich noch nicht an der Zeit zu sterben. Ich habe noch einen Plan für dich.” Ich habe das gar nicht hinterfragt, sondern bin einfach aufgestanden und schlafen gegangen.

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Und dann?

Hoppenstedt: Etwas später bin ich zu einem Typen gefahren, um irgendwelche Handyverträge abzuschließen. Seine Kumpels haben mich dort vergewaltigt. Am nächsten Tag bin ich einer Gruppe Christen begegnet. Ich war so verzweifelt, dass ich einfach zu ihnen hin bin und gesagt habe: “Bitte betet für mich!” Die haben sich riesig gefreut. Wer lässt schon freiwillig für sich beten? (lacht) Am nächsten Tag haben sie mich in ihre Gemeinde mitgenommen. Die hatten mich sofort richtig lieb. Und dann war da noch so ein alter Mann, der immer auf der Straße evangelisiert hat.

Was war mit dem?

Hoppenstedt: Monatelang haben wir uns getroffen, in einer Bäckerei Kaffee getrunken und Backgammon gespielt. Er hat mir gesagt, dass mein Leben einen Sinn hat, dass Gott einen Plan für mich hat und dass ich für alles, was mir passiert ist, eine doppelte Rückerstattung bekomme. Und er hat mich daran erinnert, dass Gott viel Gutes in mich hineingelegt hat und dass ich mit ihm alles erreichen kann. Der Mann hat mich in alle möglichen Gemeinden mitgeschleppt und war in dieser Zeit mein geistlicher Guide.

Prostituiert habe ich mich damals immer noch. Aber ich habe eine Substanz nach der anderen entzogen. Mit jedem Entzug wurde ich cleaner.

Wie kam es zum endgültigen Ausstieg aus der Prostitution?

Hoppenstedt: 2016 hat mich der Mann in eine iranische Gemeinde mitgenommen, die sehr pfingstlich war. Er hatte ihnen vorher nichts von mir erzählt. Irgendwie hat dann einer begonnen, für mich zu beten. Er hat gesagt, er sieht den Geist des Missbrauchs und der will nicht weggehen. Und dann hat er mich gefragt, ob ich falsche Sexualität lebe. Solange ich das tun würde, würde ich nicht heil werden. Ich habe während des Gebets angefangen zu weinen und beschlossen, bei der Escort-Agentur zu kündigen.

Meine Chefin war nicht begeistert. Ich habe eine Zigarette nach der anderen geraucht. Der alte Mann saß neben mir und sagte: “Du schaffst das!” Ich wurde dann auch bedroht, aber konnte alles bei Gott abgeben und bin gut rausgekommen aus der Prostitution.

2017 kam ich dann in eine amerikanische Freikirche. Die Pastorenfrau hatte auch eine Heroinsucht gehabt und erzählte, wie sie plötzlich frei geworden war. Seit diesem Tag habe ich mein Substitut [ein Medikament als Drogen-Ersatz; Anm. d. Red.] nicht mehr genommen und hatte keinerlei Entzugserscheinungen.

„Das ist ein bisschen wie im Krieg“

Haben dich die Erlebnisse aus deiner Zeit als Prostituierte psychisch beeinträchtigt?

Hoppenstedt: Das ist ein bisschen wie im Krieg. Währenddessen funktioniert man einfach wie eine Maschine. Aber sobald der Krieg vorbei ist, merkt man: “Ach du Scheiße, meine Mutter ist gestorben!” So in etwa habe ich mich gefühlt. Als ich aus der Prostitution raus war, habe ich gemerkt, wie übel die letzten zwei Jahre gewesen und wie traumatisiert ich war. Ich hatte nur knapp überlebt.

Wie haben deine Erfahrungen als Prostituierte dein Verhältnis zu Männern geprägt?

Hoppenstedt: Anfangs war ich aggressiv feministisch und männerhassend unterwegs. Irgendwann habe ich meinen Frieden mit Männern gefunden, wenn auch nicht immer zu 100 Prozent. Mich hat das dann genervt, dass die Frau als hundertprozentiges Opfer dargestellt wird. Da müsste man mal ansetzen und schauen, was die Einstiegsgründe außerhalb von Zwang, Traum und ökonomischer Not sind.

Die Debatte um Prostitution ist mir grundsätzlich zu einseitig. Die einen sagen: Ich finde das geil, ich mach das gerne und es gibt gar keinen Zwang und keine ökonomische Not. Die anderen sagen: Es gibt nur Zwang und keine gesunde Frau macht das, weil sie das will. Ich bin überzeugt davon, dass die Wahrheit in der Mitte liegt.

„Wenn Kinder vernachlässigt werden, holen sie sich die fehlende Liebe oder körperlichen Kontakt im Nachhinein. Das kenne ich zum Beispiel aus dem christlichen Kontext. Da wird in vielen Familien das Körperliche nicht miteinbezogen.“

Sophie Hoppenstedt

Du bist der Ansicht, dass die Einstiegsgründe in die Prostitution genauer untersucht werden müssten, um besser präventiv arbeiten zu können. Warum?

Hoppenstedt: Zwei Drittel der Frauen in der Prostitution haben im Vorfeld sexuelle Missbrauchserfahrungen gemacht. Das ist das, was öffentlich benannt wird. Ganz oft geht es aber auch um eine missverstandene Art von Fürsorge.

Wenn Kinder vernachlässigt werden, holen sie sich die fehlende Liebe oder körperlichen Kontakt im Nachhinein. Das kenne ich zum Beispiel aus dem christlichen Kontext. Da wird in vielen Familien das Körperliche nicht miteinbezogen. Väter umarmen ihre Töchter nicht, sagen ihnen nicht, dass sie schön sind. Christliche Freundinnen von mir sind in ihrer Jugend total sexuell freizügig geworden, obwohl sie so christlich erzogen worden sind.

Ich musste mir irgendwann auch eingestehen: Ich habe das nicht nur gemacht, weil ich missbraucht worden bin. Ich habe das nicht nur gemacht, weil ich ein armes Opfer bin, das von irgendwelchen älteren Männern angesprochen worden ist.

Sondern?

Hoppenstedt: Ich habe daraus auch einen Gewinn gezogen. Ich hatte eine Identität. Ich hatte plötzlich das Gefühl, mein Leben ergibt Sinn. Alles, was ich erlebt habe, hat mich dazu geformt, dass ich jetzt so viel Geld verdienen kann. Ich dachte auch, ich wäre in einer Machtposition, weil ich Geld nehme, wofür ich früher kein Geld genommen habe.

Und ich dachte, ich wäre anderen überlegen, die irgendwie ein langweiliges Leben führen. Ich habe viele Lügen geglaubt. Ich bin nicht nur Prostituierte gewesen, weil ich Geld gebraucht habe, sondern auch weil ich mir etwas dadurch erhofft habe. Prostitution war mein Versuch, väterliche Fürsorge zu bekommen, die ich in meiner Kindheit nie hatte.

Vielen Dank für das Gespräch!

Die Fragen stellte Pascal Alius.

Sophie Hoppenstedt erzählt ihre Geschichte ausführlich in ihrem Buch “Sehnsucht nach Liebe”.

Weiterlesen:

Falls ihr selbst in einer verzweifelten Situation seid, sprecht mit Freunden und Familie darüber. Hilfe bietet die Telefonseelsorge. Sie ist rund um die Uhr anonym und kostenlos erreichbar: 0800/111 0 111 und 0800/111 0 222. Auch die Beratung über E-Mail ist möglich. Eine Liste mit bundesweiten Hilfsstellen findet sich auf der Seite der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention. 

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3 Kommentare

  1. Ein wunderbares Zeugnis

    Sophie Hoppenstedt kann ich nur Achtung zollen und ihren Mut, ihr früheres Leben hier zu schildern und dass sie darüber auch ein Buch schrieb. Auch hier wird wieder deutlich, dass Jesus nicht für die Gesunden – die (eigentlich) keine Probleme haben – sondern für die Kranken gekommen ist. Obwohl wir allzumal Sünder sind und es uns allen an Ruhm vor Gott mangelt. Niemand ist wirklich ok. Sophie zeigt auch auf, dass Menschen nicht nur aus Not und Verzweiflung in der Prostitution landen, sondern weil sie (eigentlich wie wir alle) uns auch einen falschen Weg bewusst aneignen und damit nicht selten unser Leben durch Entscheidungen selbst an die Wand fahren (können). Allerdings geschieht das Leben wie bei Sophie dann auf einer schnell abwärtsfahrenden Rolltreppe. Aber da gibt es ja die wunderbare Jesusgeschichte vom Verlorenen Sohn und dem Vater, der den Verlorenen um seiner selbst willen liebt, auch wenn er dies nicht verdient hatte. Wir alle sind eigentlich als Christinnen und Christen wie Verlorene, die (von Gott) gefunden wurden. Oder wie das Verlorene Schaf, dass Jesus selbst solange sucht, dann findet, auf seine Schultern legt und sodann heimträgt. Eben weil mir gerade diese Geschichten so zu Herzen gehe, versuche ich nicht in einer überheblichen Weise fromm zu sein. Denn niemand kann Gottes Liebe sich verdienen, sie wird uns wie jede Errettung immer nur unverdient geschenkt. Jedenfalls ein wunderbares Zeugnis von Sophie.

  2. Habe auch den Artikel „Moderner Sklavenhandel unter uns“ gelesen. Unglaublich, was in Deutschland alles möglich ist. Das war mir so nicht bekannt. Und alles durch ein Gesetz vereinfacht?? Gut, dass Frau Hoppenstedt den Ausstieg geschafft hat. Alles Gute.

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