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Flutkatastrophe: Eine Woche zwischen Erschöpfung und Hilfsbereitschaft

Dorothee Lindenbaum lebt seit fünf Jahren mit ihrem Verlobten Basti in Euskirchen, einer Stadt, die von der Flutkatastrophe heftig betroffen ist. Zur Zeit der Katastrophe hat sie Besuch ihrer Freundin Danny aus Hamburg; die beiden machen sich am Mittwoch einen schönen Tag in Bonn, bevor Danny zurück nach Hamburg und Doro sich wieder an die Vorbereitung für ihr theologisches Examen setzen muss. Doch der entspannte Nachmittag wurde – wie so vieles – mit dem Wasser fortgespült. Zurück blieben Entsetzen. Erschöpfung. Ohnmacht. Und Motivation. Wille. Kraft. Zum Anpacken. Auf Facebook hat Doro über eine Woche im Ausnahmezustand berichtet.

Samstag, 17. Juli

Wir haben seit gestern Abend wieder Strom und WLAN! Fließend Wasser haben wir ja seit vorgestern wieder. Blaulicht und Tatütata sind immer noch die Kulisse für alles. Überall Feuerwehr und THW. Und ab und an ein Krankenwagen.

Unsere Brücke im Ort ist die einzige in der Umgebung, die noch steht, bzw., die für den Verkehr freigegeben ist, aber selbst die ist kritisch und droht zu bröckeln. Bedenkt: da drunter fließt eigentlich ein kleiner Bach!

Der Rewe hat gestern den Inhalt seiner Kühltheken abgegeben, Danny und ich haben auf dem Campingkocher unseres Vermieters Ćevapčići gebrutzelt und verteilt. Tropfen auf den heißen Stein. Die meisten haben auch noch Essen, aber viele einfach keinen Hunger.

Mittags haben wir drei uns aufs Rad geschwungen und wollten anpacken. Ein paar Leute schickten uns weiter: „Die da unten, denen geht es noch schlechter.“ Oder: „Wir hatten ja noch Glück, wir leben.“ Ein paar waren wohl auch skeptisch, weil es einigen Katastrophentourismus gibt.

Die Leute, denen wir dann geholfen haben, hatten das Hochwasser hüfthoch im Erdgeschoss stehen. Küche, Wohnzimmer, Esszimmer, Flur. Die alte Dame, die dort lebt, war völlig fertig, ihr Dackel wusste gar nicht, was um ihn herum passierte.

Das Wasser war größtenteils weg als wir gestern kamen, aber in allen Schränken stand noch Wasser, der Boden war knöcheltief voller Schlamm. Chaos.

Alle Möbel kaputt, alles aus den Schränken in Müllsäcke packen.

Bisschen Heiles aufbewahren. Nasse Fotoalben.

Boden schlamm- und wasserfreier machen.

Straßen unten im Dorf sind Schlamm- und Müllwüsten. Man weiß kaum, wohin mit dem „Abfall“, also dem Leben der Menschen. Dafür war die Stimmung super freundlich, man arbeitet stundenlang Hand in Hand mit Menschen, deren Namen man bis zum Ende des Tages nicht kennt. Durch die Straße zog ein Trupp von ein paar Männern, die wir „Die Brüder fürs Grobe“ nennen wollen. Alles, was zu groß ist und raus muss, treten sie kurzerhand klein oder hieven Schränke und Sofas durch Fenster. Die fegen als Kraftorkan durch den Ort und sind echte Helden.

Eine kurze Pause zum Durchschnaufen.
Dorothee Lindenbaum vor dem Haus, in dem sie helfen.

Sonntag, 18. Juli

Waren gestern wieder bei Irmchen und Tom. Vorgestern waren wir bei Oma, Toms Mutter.

Tom hat gestern zu Verwandten gesagt: „Guck mal, die, die hier helfen, sind Fremde.“ Da haben wir natürlich lautstark protestiert! Fremde, das waren wir am Freitag! Aber Samstag doch wohl nicht mehr …

Und das stimmt natürlich nicht und zugleich irgendwie auch doch. Wir kennen Irmchen, Tom und Oma kaum und hätten sie auch sonst vermutlich nicht kennengelernt. Aber trotzdem ist da mittlerweile eine Verbindung und Verbundenheit und ein gegenseitiges Vertrauen, das ich gar nicht richtig beschreiben kann. Sicherlich hätten wir das im Haus gegenüber oder drei Häuser weiter die Straße runter auch so erlebt, aber wir sind eben zufällig dort „hingespült“ worden und das ist gut so.

Gestern also Keller ausräumen, Schränke rausreißen, Müllsack um Müllsack Schrott und Schmonz und eimerweise Schlamm raustragen. Danny hat im Erdgeschoss geschrubbt und geputzt und gewischt – da war zum Glück nicht so hoch Wasser, aber so eine fiese dünne Schlammschicht, die sich nur schwer wegputzen ließ.

Es waren viele freiwillige Helfer da, alle sahen aus wie braune Schlammlebewesen. Braun ist die Farbe dieser Tage.

Man weiß mittlerweile nicht mehr, wohin mit dem ganzen Müll vor dem Haus. Die Feuerwehr muss ja noch durch die Straße kommen. Da gestern zum Glück schön die Sonne schien, trocknen jetzt nach und nach die Schlammstraßen und werden Staubgassen. Surreal trifft es wohl am besten.

Trotzdem ist die Stimmung für dieses Szenario erstaunlich positiv. Vor allem tatkräftig! Wenn du dich Säcke schleppend koordinierst, wird gelächelt, wenn du den nächsten Raum mit Schiebern und Schippen von Wasser und Schlamm zu befreien versuchst, wird gescherzt. Wenn du das nächste Kellerregal mit wieder den gleichen Vorratsartikeln leerräumst wie die letzten fünf, dann wird durchaus gelacht. (Leute, es gibt keinen vernünftigen Grund, mehr als 10 Pakete Papierservietten auf Vorrat zu haben, wirklich nicht. Wir haben bestimmt 100 Kilo Servietten geschleppt in den letzten beiden Tagen. Mit Wasser vollgesogen bringen die einiges auf die Waage!) Immer wieder ertappt man sich dabei, dass man sich das alles anguckt und den Kopf schüttelt und es gar nicht rafft; was Wasser kann!

Und ja, natürlich sind die Betroffenen absolut am Ende und immer wieder mutlos. Aber dann fragt Tom, ob Irmchen das Geschenkpapier aufbewahren und bügeln möchte, und weiter geht’s. Nur beim Verabschieden gestern Abend mussten wir alle ein paar Tränen verdrücken, weil Irmchen „Bis morgen?“ gesagt hat.

Montag, 19. Juli

Man vergisst ein bisschen die Zeit. Der Rewe um die Ecke hatte gestern, am Sonntag, bis 15 Uhr auf, die Mitarbeiter sind mehr oder weniger ehrenamtlich vor Ort, um jede Lieferung, die durchkommt, einzusortieren. Die Hilfsbereitschaft ist riesig. Jeder macht, was er kann. Der Burger-Grill verteilt Pommes, irgendwer kocht Kartoffelsuppe, Leute verteilen Grillwürstchen. Das ist insofern wichtig, weil viele keinen Strom haben und wir zum Beispiel erst gestern Toms Grill gefunden haben. Dazu kommt: Man hat eigentlich keine Zeit, sich um Essen zu kümmern.

Und wisst ihr eigentlich, wie froh (!!!) wir sind, dass wir vollständig gegen Corona geimpft sind? Es nimmt zumindest diesen Stress ein wenig raus.

Wir haben übrigens auch einen Seelsorger vor Ort. Er heißt Finn, ist vier Jahre alt und ein Rauhaardackel. Finni ist klasse. Wenn man mal Pause macht und denkt, dass man sich eigentlich kein bisschen mehr bewegen kann, weil Rücken und Arme sich echt bemerkbar machen nach drei Tagen, „fragt“ Finni, ob man den Ball werfen kann. Kann man. Okay, nicht weit, aber das ist Finn egal.

Mittlerweile kennen wir übrigens auch ein paar Namen der anderen Helfer, mit denen wir hier Hand in Hand Wasser, Schlamm und kaputtes Zeug wegschaffen. Sobald man Namen kennt, erfährt man auch etwas über die Menschen. Lena zum Beispiel war früher Funkemariechen und jetzt wundert mich auch nix mehr. Wer aus zwei Metern Höhe runterfällt, lächelt und weitertanzt, der ist natürlich auch beim Aufräumen nicht aufzuhalten.

Als wir gestern nicht wussten, wohin wir den Müll noch stapeln sollen, kam ein riesiger Trecker mit massiger Greifschaufel und ein weiterer mit einem riesengroßen Hänger und haben alles von den Straßenrändern eingeladen. Sie waren ein Segen! Und dann stellte sich raus, dass sie gar nicht von der Stadt waren, sondern dass ein Forstbetrieb aus der Nähe seine Jungs mit den Landmaschinen rausgeschickt hatte, mit denen sie sonst in den Wald fahren.

Dienstag, 20. Juli

Ich war gestern Morgen total überrascht, dass der Bäcker geöffnet hatte und Brötchen verkaufte! Frische Brötchen! Hab gleich 10 Stück gekauft. Musste mit warmen Brötchen in der Tüte auf den paar Metern nach Hause echt heulen. Weil Brötchen so ein Luxus sind, wenn du weißt, dass andere Menschen ihr ganzes Hab und Gut verloren haben und nur noch besitzen, was sie am Leib haben. Okay, oder manche eben das, was im oberen Stockwerk lag. Aber Häuser werden unbewohnbar und ich kaufe Brötchen.

Danny und ich waren gestern Mittag wieder bei Irmchen und Oma; der Schuppen musste noch ausgeräumt werden. Tom war morgens zur Ärztin gefahren, weil er sich am Mittwoch im Hochwasser den Fuß verletzt hatte. Die hat ihn direkt ins Krankenhaus weitergeschickt, wo sie eine Entzündung festgestellt haben. Zum Glück hat sich aber der Verdacht auf einen gebrochenen Fuß nicht bestätigt. Wir haben unterdessen die Küche und den Raum unter der Kellertreppe ausgeräumt. Auf der einen Seite ist es gut, dass auch Oma mittlerweile von „Das ist doch noch gut, das kann man saubermachen und trocknen“-Fraktion zur „Tu weg“-Mentalität gewechselt ist. Auf der anderen Seite tut es einem in der Seele weh, dass sie immer nur noch mit dem Kopf geschüttelt hat, wenn ich ihr die Sachen hingehalten habe, bevor ich sie in große blaue Müllsäcke stopfte. Natürlich versuchen wir, Gutes aufzubewahren. Aber man kann nicht alle Weinflaschen saubermachen, nicht alles Leergut wegbringen, nicht alle Reinigungsmittel aufbrauchen, alle Klamotten waschen, Tischdecken bügeln, Briefe trocknen. Dagegen sind ein paar Sitzkissen für die Gartenmöbel ein fröhliches Wegwerfen und fast eine Wohltat, weil es so unemotional ist.

Körperlich ist es mittlerweile echt anstrengend. Wir haben so viel getragen und schleppt und geräumt und gebückt und gefegt und geschippt. Gestern hätte ich gesagt, dass mein Rücken am meisten wehtut, heute sind es eher die Finger, die schmerzen.

Gestern Abend ist Danny von zwei ganz lieben Verwandten von Irmchen mit Richtung Köln genommen und bei meiner Mama rausgelassen worden, die sie heute zum Zug nach Köln bringt. Ich werde heute zur Grundschule in den Nachbarort fahren, die bis gestern noch nicht betreten werden durfte, und dort anpacken. Also dort ist vermutlich alles im Zustand wie hier am Donnerstag. Plus 4 Tage.

Mittwoch, 21. Juli

Danny ist gut von Köln nach Hamburg gekommen. Der Kölner Hauptbahnhof war menschenleer. Spooky.

Ich bin also gestern alleine los, zur Grundschule in den Nachbarort. 30 Meter neben der Schule fließt ein Bach. Ach Quatsch, ein Rinnsal eher! Gestern konnte man schon wieder drüberhüpfen, letzte Woche noch hat das den ganzen Ort geflutet. Das komplette Untergeschoss der Schule stand unter Wasser, der Kunst- und Musikraum, die Räume der Nachmittagsbetreuung. Als ich gestern gegen elf ankam, waren viele freiwillige Helfer dabei, Tische, Stühle, Regale, Bücher, Bilder, Spiele und umherschwimmendes Undefinierbares rauszutragen. In den Räumen stand immer noch knöchelhoch das Wasser. Es sind Fensterscheiben auf der einen Seite des Gebäudes durch das Wasser reingedrückt und auf der anderen Seite Fenster rausgedrückt worden. Das Wasser hat etwas über zwei Meter hochgestanden. Mittags gabs Versorgung durch die Bundeswehr. Anschließend hab ich bei uns zu Hause Wäsche zusammengesammelt, die liebe Menschen für uns waschen, da unsere Waschmaschine hinüber ist. Nachmittags gings zurück, weiter Wasser in Eimern aus den Räumen schöpfen. Es ist wirklich irre, was man an einem Tag mit vielen Freiwilligen schaffen kann! Ich hätte vormittags nicht gedacht, dass abends zur Prime Time die Räume so aussehen: Leer, so gut wie trocken, fast schlammfrei. Es waren über den Tag verteilt bestimmt 50 Leute da, die geholfen haben, die Räume leerzuräumen und trockenzulegen. Und wenn sich da eine Eimerkette in Rage arbeitet, schafft man echt was weg.

Aber dann sieht man die Bilder von Bad Münstereifel, hört, dass es immer noch Vermisste gibt, dass irgendwo tote Pferde liegen, weil einfach gerade keiner Zeit hat, die wegzubringen, dass die Leute sich in den Flüssen waschen, weil zu wenig Wasser da ist, dass man sich aber auf keinen Fall in den Flüssen waschen soll, weil die nicht sauber sind. Und man realisiert, dass es wirklich gerade Katastrophengebiet hier ist, und dass es gut ist, dass immer noch Feuerwehr und Tatütata rumfährt, dass das THW hilft, dass die Bundeswehr da ist. Das hat seinen Sinn. Auch wenn es zum Glück nicht alle Menschen getroffen hat, auch wenn bei vielen Waschmaschine und Kühltruhe funktionieren, auch wenn eben viele nichts hatten oder nur ein bisschen Wasser im Keller. Oder dass Katastrophe und frische Brötchen sich nicht ausschließen. Wenn ich an das Haus von Oma denke, Toms Mutter, dann sieht das obere Stockwerk aus, wie es soll: Gesteppte Tagesdecke auf dem Bett, Häkelkissen mit Handkantenschlag oben drauf, Pantoffeln neben dem Stuhl. Aber dass ein Stockwerk tiefer eben die Tapeten von den Wänden kommen, alles, alles aus dem Wohnzimmer raus musste, in der Küche nur noch die Oberschränke hängen, das ahnt man nicht, das ist eine ganz andere Welt. An den Wänden hängen noch Bilder und Kalender, an der Decke noch die Lampe mit dem Stoffbärchen dran. Steht halt nur kein Küchentisch mehr drunter.

Donnerstag, 22. Juli

Gestern war es emotional ein anstrengender Tag. Wir haben nämlich nichts gemacht, weil wir körperlich einfach platt waren. Und es macht einen fertig, auf dem Sofa zu sitzen und Kaffee zu trinken, wenn man weiß, dass andere weiterarbeiten, obwohl sie genauso fertig sind wie wir. Die aber einfach gerade keine Alternative haben, kein Sofa, keinen Strom, keine Zeit für Kaffee. Das zehrt an den Nerven. Trotzdem sind wir gestern nicht nochmal los.

Freitag, 23. Juli

Seit einer Woche ist Ausnahmezustand, streng genommen seit Mittwochabend. Und dafür sieht es schon wieder erstaunlich normal aus in manchen Straßen, die vor einer Woche noch den Eindruck machten, als hätte eine Bombe eingeschlagen ist. Oder wir haben uns einfach nur an den Dreck, das Braungrau, den Schlamm und den Staub gewöhnt.

Irre, was in einer Woche geschafft wurde, weil viele Hände mit anpackten! Alle Keller hier sind befreit von Wasser und Matsch, alle Räume freigeräumt (inklusive Serviettenvorräten), in vielen Räumen sind schon die Fliesen von den Wänden gekloppt und die Tapeten runter. Von der akuten Hochwasserhilfe (alles, was lose ist, muss raus aus den Räumen) sind wir in diesem Haushalt bei Schritt 2 angekommen: Alles, was (noch) fest ist, muss raus. Denn hier kommt man um eine Grundsanierung nicht drumherum. Und nun auf Handwerker zu warten, die das machen, kann dauern. Bis dahin schimmelt die Tapete. Oder zieht die Feuchtigkeit noch mehr in die Wände. Und Tom kann es nicht machen. Der liegt im Krankenhaus und muss nun doch am Fuß operiert werden. Weil offene Wunden und Schlamm sich nicht vertragen. Und Irmchen allein schafft das auch nicht, sie hat genug anderes zu tun: Klamotten ins Krankenhaus fahren, Oma und Finn versorgen, dazwischen noch ein bisschen Grundnahrungsmittel ranschaffen.

Die Haushalte „da unten“ haben immer noch keinen Strom und das fließend Wasser aus dem Hahn ist kein Trinkwasser. Von fließend warmem Wasser mal ganz zu schweigen.

Der Vorteil für Basti und mich: Wir haben immerhin Strom. Und Internet. Toll. Und einen Drucker. Hab Irmchen die Soforthilfeanträge ausgedruckt, obwohl sie sagt: „Eigentlich machen wir sowas ja nicht. Wir haben uns immer alles erarbeitet, was wir uns kaufen wollten. Die Oma auch. Wir wollten nicht auf fremdes Geld angewiesen sein.“ Wir anderen habe dann mal lautstark protestiert. Zumal: 1500 Euro sind bei Oma doch gerade mal die neue Küche. Ohne Fliesen. Und dann kommen noch Wohnzimmer, Flur, Esszimmer, Schuhe, Möbel, Tapeten, Fliesen, Elektrogeräte, Fernseher und, und, und. Und erst die ganzen Servietten!

Die Stimmung ist nach wie vor erstaunlich gut. Es herrscht eine Anpack-Mentalität. Wenn die einen Nachbarn grillen oder Kuchen von Verwandten bekommen, wird erstmal verteilt. Immer wieder fährt jemand mit einer Schubkarre mit Hilfsgütern (Dosensuppen, Brot, Wasser) durch die Straße. Gestern Abend sind ganz liebe Verwandte von Irmchen gekommen (die, die auch Danny zu meiner Mama gefahren haben) und haben Pizza mitgebracht! Da saßen wir nun also im Garten, in dem immer noch Müllfetzen überall auf dem Rasen liegen und an dessen Haus- und Schuppenwänden man immer noch sieht, wie hoch das Wasser gestanden hat, und mampften leckere Pizza. Die Familie und wir zwei. Und auf einmal erzählt Oma von der Nacht, als das Wasser kam, zeigt ihre blauen Flecke. Berichtet von der jungen Frau, die um Hilfe geschrien hat, weil sie sich in den Wassermassen nicht mehr halten konnte, von ihrer Hilflosigkeit, weil sie ihr aus dem ersten Stock nicht helfen konnte, davon, dass die junge Frau sich dann an ein Verkehrsschild geklammert hat und davon, dass die Nachbarn sie irgendwann mit einem Seil in ihr Haus gezogen haben. Das müssen schockierende Bilder sein, die sich eingebrannt haben. Und ich glaube, es ist gut, dass Oma davon erzählt. Dass sie nun, wo ihre Räume leer sind, es gut findet, wie sehr angepackt wird. Den Fortschritt sehen kann in all der Zerstörung. Ein kleines bisschen neuen Mut schöpft und nicht mehr sagt, dass sie nicht mehr leben will. Dass sie über einen Serviettenwitz lachen kann, zumindest ein bisschen. Dass sie wieder redet und nicht mehr nur den Kopf schüttelt.

Gestern wurde ich gefragt, was ich denn eigentlich beruflich mache. Hab erzählt, dass ich Pfarrerin werden will. Da blühte Oma echt auf und hat gesagt, dass es bei ihr ja noch ein Skandal war, dass sie als Katholikin einen evangelischen Mann geheiratet hat. Und da hab ich gemerkt, wie gut es tut, über anderes zu reden! Dinge zu erzählen, die nichts mit Wasser zu tun haben! Und dass warme Pizza dazu echt hilft.

Ich glaube, Gott steckt in allen Gummihandschuhen, in jedem angelieferten Pizzakarton und trägt die Schutteimer mit. Ich sehe so viel Nächstenliebe in all der Hilfsbereitschaft und ich glaube, dass man nicht glauben muss, damit wahr ist: Du bist ein Segen. Danke dafür.

„Geht hin, stärkt die müden Hände und macht fest die wankenden Knie. Sagt denen, die verzagten Herzens sind: Fürchtet euch nicht.“ (Jes 35,3f.)

Alles raus. Wo einst Menschen fröhlich beim Essen zusammensaßen und lachten, steht und hängt nun nichts mehr. Das Wasser hat alles zerstört.

Samstag, 24. Juli

Gestern war Freitag. Gestern vor einer Woche waren wir das erste Mal bei Irmchen, Tom und Oma. Da stand in allen Kellern noch das Wasser und bei Oma im Erdgeschoss schwamm noch alles in knöchelhohem Wasser und Schlamm. Da lagen noch Teppiche drin, standen Schränke, Tische, Stühle und das Sofa, schwamm noch alles in den Schränken, Schüsseln, Papiere, Töpfe, Geschirr, Lebensmittel, Schuhe. Servietten. (Hatte ich von dem Hintergrund der Servietten eigentlich geschrieben? Hier im Ort gibt es seit Jahrzehnten eine Papierfabrik. Und fast alle älteren Menschen hier haben früher dort gearbeitet. Tja, und da gabs natürlich Mitarbeiterrabatt. Oder Restposten. Oder einfach ne Verbundenheit zu Papierservietten.)

Und jetzt? Es ist alles raus. Der klitschnasse Teppich, das tropfende Stoffsofa, die geliebten Holzmöbel, die der verstorbene Mann noch selbst geschreinert hat, die aber nach ein paar Tagen im Wasser nicht mehr zu gebrauchen waren. Die Küche ist komplett abgebaut. Die Fliesen sind von der Küchenwand geschlagen und vom Kachelofen. Die Tapeten sind fast überall ab, nur an den Decken klammern sie sich noch. Die Türzargen müssen heute noch raus. Die Wohnung ist so gut wie entkernt. Nach und nach. Mit vielen Händen. Oma will jetzt auch das gute Rosenthal verschenken. „Ich will nicht mehr so viel Zeug haben.“ Mit über 80 zur Minimalistin. „Und eine Küche brauch ich auch nicht mehr. Essen kommt jetzt auf Rädern.“ Naja, wir wollen mal sehen, denk ich mir. Es wird sich wohl ein Mittelweg zwischen dem, wie es war, und 2 Tellern, 2 Tassen, 1 Bett und 1 Stuhl finden lassen.

Trauer und Schock kommen in Phasen und Phasen brauchen Zeit. Und Phasen dürfen wie Hasen im Zickzack laufen und können heute vielleicht schon wieder ganz woanders sein. Überstürzen kann man zurzeit eh nichts, die Uhren laufen anders hier.

Dies hier ist nur ein ganz kleines Schlaglicht auf einen bzw. zwei Haushalte. Ja, es hat unser Dorf in manchen Straßen richtig hart getroffen. Und dann geht man um die Ecke und die Pizzeria hat auf, genau wie die Eisdiele! Vor manchen Häusern stehen nur ein paar Möbel, ein Schränkchen und das, was vermutlich eh seit ein paar Jahren im Keller auf den nächsten Sperrmülltermin gewartet hat. Aber eine Straße weiter sind komplette Haushalte vollgelaufen. Nicht nur Vorrats-, Party- und Heizungskeller, sondern das Leben mancher Familien ist buchstäblich im Wasser untergegangen.

Auch wenn es viele andere Orte und Straßen gibt, in denen noch immer „Land unter“ ist und alles viel schrecklicher ist, gibt es auch hier viele Probleme:

Die Abfallentsorgung wird echt zum Problem. Es stehen immer wieder neue Schutt- und Sperrmüllberge vor den Häusern. Aber die Unternehmen der Stadt müssen jetzt erstmal in anderen Stadtteilen ran. Private Leute dürfen nicht mehr mit Anhängern Müll wegfahren. Weil es kontrolliert ablaufen soll. Weil der Müll getrennt werden soll. Weil Farben und Lacke nicht zu Holz und Plastik dürfen. Ja, ich bin Fan von Mülltrennung. Ich halte sie für wichtig. Ich sehe auch große Probleme für die Felder, auf denen jetzt gerade alles hingekippt wird. „Da wächst in den nächsten Jahren nix mehr“, meinte letztens der Ortsvorsteher aus dem Nachbarort. Da mag er recht haben. Zumindest will ich nichts essen, was da gewachsen ist und auch nicht essen, was gefressen hat, was da gewachsen ist. Ihr versteht das Problem. Da kommt noch was hinterher. Und trotzdem: Dass es bald bei Oma vorm Küchenfenster schimmelt, kann auch nicht der Sinn sein. Aber es ist vermutlich Teil von Katastrophen, dass die Probleme nicht einfach zu lösen sind.

Und es gibt Menschen, die die Notlage für ihren eigenen Vorteil nutzen. Die sich als Sachverständige ausgeben, um in Wohnungen zu kommen und lange Finger zu machen. Die anordnen, dass man die Türen nicht abschließen soll. Damit sie später wiederkommen können und das wenige Gerettete plündern. Gibt‘s. Es wird auch die geben, die die unbürokratisch ausgegebenen Soforthilfen ausnutzen werden. Ja.

Aber: Die Hilfsbereitschaft ist größer. Sie ist leiser, aber sie ist flächendeckender. Sie ist spürbar, sie ist köstlich (gestern gab‘s Nudeln von der Nachbarin) und sie ist großherzig. Der Zusammenhalt ist da, er klebt in Tapetenfetzen und war auch schon braun und matschig und schlammig. So ist diese Zeit für manche Überraschung gut.

Und irgendwie geht’s weiter. Ich werde mich bald wieder den theologischen Büchern zuwenden müssen, damit das mündliche Examen gut über die Bühne geht. Trotzdem gilt: Die Flutschäden sind nicht weg, nur weil die Nachrichten nicht mehr täglich berichten.


Dieser Artikel ist eine stark gekürzte und bearbeitete Version des Lageberichts von Dorothee Lindenbaum, den sie auf Facebook veröffentlicht hat.

Wer den Opfern der Flutkatastrophe helfen will, kann sich an die verschiedenen Hilfsorganisationen (Aktion Deutschland hilft, THW, Diakonie, den eigenen Kirchenkreis oder Vereine, Organisationen oder Werke) vor Ort wenden und spenden.

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1 Kommentar

  1. Dorothe Lindenbaum hat die Flutkatastrohe nah gemacht

    Der zugegeben lange Text – auch in hier gekürzter Form – vermittelt bereits nach kurzem Wanderbeginn durch Dorothe’s Zeilen eine Katastrophe, die ich mir mit ihren vielen Facetten so nicht bildhaft vorstellen konnte. Dass jede und jeder aus einer gestern noch heilen Welt heraus fallen kann, sich plötzlich alles ändert, zeigte bereits die Coronakrise. Dieser Bericht schildert ein Ereignis, welches wir (leider) der Klimaerwärmung zurechnen müssen. Oder dass es die „heile Welt“, die es nie gegeben hat, auch bei uns nicht existiert. Heute kann ich in meinem schönen Wohnzimmer sitzen und Party feiern (nichts gegen Party oder Brötchenholen beim Bäcker), aber einen Tag später habe ich keines mehr, auch kein Haus, keinen Fernseher, keinen CP. kein Bett, keinen Schrank. Und es fehlen fließendes Wasser, Lebensmittel, Ärzte, das Auto, Brücken, Menschen sind wohl für immer vermisst und viele liebe oder nicht liebe Mitmenschen sind ertrunken und kommen nie wieder. Undenkbar war für mich, dass, dies in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen geschieht – und nicht in Indien, Laos oder irgendwo in unbekanntem Gelände. Es zu erleben, weckt bei mir starke Unwirklichkeitsgefühle.

    Aber andererseits: Eine sehr große Hilfsbereitschaft. Ich habe Zweifel, ob wir bzw. die meisten unter uns wirklich so schlecht sind wie in Normalzeiten unser aller Ruf: Nicht egoistisch, gleichgültig, oberflächlich, individualistisch, faul oder einfach nur distanzierte Zeitgenossen. Es gibt 50 Leute, die in einem Haus täglich Hand angelebt haben, ungerufen, kostenlos fleißig, im Schlamm wühlend und doch mit einer Art gesunden Galgenhumor. Der Text von Dorothe Lindenbaum war eine Predigt, obwohl darin Gott und die Theologie fast nicht vorkamen. Stimmt das ? Nein, sie kommen beide in jedem Satz vor. Denn da wo Menschen für Menschen da sind, da geschieht Liebe und ist Gott. Wo uns die nahen oder fernen Nächsten egal sind, auch unter harmloseren Verhältnissen, da wird Gott kein Mensch. Denn er hat (nur) unsere Hände und Füße, sonst hätten wir es auch zu einfach. Denn der Himmel lässt zu, dass wir in keiner heilen Welt leben und dass die Unglücke geschehen wie sie geschehen. Denn sie sind uns Hilfe für ein anderes Leben und eine andere Welt. Dass wir die Schwerter zu Pflugscharen machen, den Krieg abschaffen und uns und unsere Energie in die weltweite Wohlfahrt investieren. Gott hat zwar keine Psychologie studiert, aber er hat sie erfunden. Nämlich dass wir aus den Erfahrungen der Katastrophen und des Elends, das wir teilweise selbst als Menschheit verursachen, endlich wirklich lernen. Nur gut, dass niemand in Gottes Erziehungsuniversität in dieser Welt durchfallen kann. Eben weil Gott mit dem was er mit uns vorhat, keinesfalls scheitern wird.

    Zitat von der angehenden Pfarrerin: „Ich glaube, Gott steckt in allen Gummihandschuhen, in jedem angelieferten Pizzakarton und trägt die Schutteimer mit“! Was ich nicht glaube, dass Gott uns Flutkatastrophen, Klimaerwärmung, Waldsterben sogar alle andere Formen von grausamen Naturkatastrophen schickt. Oder dass die Engel im Himmel damit beschäftigt sind, Plagen über die Erde zu verteilen. Damit wir uns mit einem Atomkrieg auslöschen oder mit der Corona-Pandemie wegen der Impfmüdigkeit. Weil Liebe ist, Jesus Christus als Feuerwehrmann zum Löschen der Katastrophen auf unsere Erde kam und die vielen Menschen im Flutgebiet als Engeln fungierten, obwohl sie keine Flügel haben. Wir sind nicht gut, auch nicht vollkommen, vor allem Sünder*innen, aber durch uns kann Gott handeln weil wir seine Hände und Füße sind. Dann sind wir nach seiner Vorstellung gemacht. Sagte Jesus nicht: „Was ihr einem meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan“! Dass dies auch den Schwestern gilt, ist ein anderes Thema

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