Rund 2.000 christenfeindliche Vorfälle soll es 2022 in Indien gegeben haben. Der Soziologe Yohan Murry warnt: Es könnte noch schlimmer werden.
Herr Murry, wie ist die aktuelle Lage der Christinnen und Christen in Indien?
Yohan Murry: Seit drei, vier Jahren steigt die Verfolgung extrem an. 2022 hatten wir 2.000 christenfeindliche Vorfälle zu verzeichnen. Ein Höchststand. Schuld daran sind Hindu-Nationalisten. Sie hängen der Idee des Pan-Hinduismus an. Ihnen geht es darum, die nationale Identität von „Unreinheiten“ zu befreien. Diese Einflüsse von außen [wie zum Beispiel das Christentum; Anm. d. Red.] zerstören ihrer Meinung nach das indische Kulturerbe.
Um was für christenfeindliche Ereignisse handelt es sich?
Murry: In 50 Prozent der Fälle ächtet die Dorfgemeinschaft die Christen und verbannt sie aus der Stadt. Es geht um sozialen Boykott. Körperliche Übergriffe, Festnahmen und Haftstrafen kommen ebenfalls vor. Teilweise werden die Christen auch gewaltsam umgesiedelt oder zur Aufgabe ihres Glaubens gezwungen.
Elf Bundesstaaten haben sogenannte „Anti-Bekehrungs-Gesetze“ eingeführt. Indische Christen befürchten nun ein nationales Gesetz der gleichen Art. Welche Auswirkungen hätte das?
Murry: Dieses Gesetz würde die Hindu-Nationalisten in ihrem Tun bestärken. Es würde verstärkt zu Angriffen auf Besitz von Christen und sozialen wie wirtschaftlichen Boykotts kommen. Auch der Polizeischutz für Christen wäre in Gefahr. Sie müssten viel Geld für Gerichtsverfahren aufbringen. Es entstünde eine Atmosphäre der Feindseligkeit und Gewalt. Die Gesellschaft wäre zweigeteilt.
Welche Chancen sehen Sie für eine Veränderung der Situation zum Positiven hin?
Murry: Unter der jetzigen Regierung: keine. Es braucht eine neue Regierung, die die Religionsfreiheit unterstützt. Allerdings ist die Opposition zersplittert und schafft es nicht, sich zusammenzuschließen. Deshalb hoffen wir auf die Bundesstaaten. Die Mehrheit ist zwar unter der Kontrolle der Regierungspartei, aber noch nicht alle.
Danke für das Gespräch.
Die Fragen stelle Pascal Alius (Jesus.de).
Yohan Murry ist Soziologe und Partner vor Ort in Indien des christlichen Hilfswerks Open Doors. Open Doors folgt einem weiten Verständnis des Begriffs „Verfolgung“, das verschiedene Formen von Diskriminierung einschließt. Das Hilfswerk orientiert sich dabei am Handbuch des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR von 2011. Das UNHCR verweist darauf, dass „eine Bedrohung des Lebens oder der Freiheit aufgrund von Ethnie, Religion, Nationalität […] gemäß Artikel 33 der Flüchtlingskonvention in jedem Fall als Verfolgung zu werten ist“.
Das Leben ist für alle Gläubige (eigentlich) heilig
Rund 2.000 christenfeindliche Vorfälle soll es 2022 in Indien gegeben haben. Der Soziologe Yohan Murry warnt: Es könnte noch schlimmer werden.
Das ganze Problem entsteht, weil es faktisch keine Religionsfreiheit gibt. Daher braucht es Gesetze – also hierzu sich bereitfindende Parteien – die nicht zu sehr auf Hindu-Nationalisten hört, sondern rechtliche Sicherheit schafft. An dieser Stelle bin ich eher pessimistisch. Populismus ist auch in unterschiedlichen Ländern, mit unterschiedlicher Kultur und unterschiedlichen Religionen, immer wie bei uns:. Parteien möchten ja vor allem gewählt werden und glauben auf Volkes Stimme und Stimmungen hören zu müssen. Ergo: Es geht um Macht und dies hindert (wie überall) den Fortschritt. Dazu kommt in Indien eine 5000 Jahre alte Kultur. Für uns Christinnen und Christen, und damit auch alle Kirchen, bleibt hier nur die Möglichkeit, politisch über diplomatische Kanäle, und religiös auch über den Einfluss der Kirchenleitungen, die Finger in die Wunde zu legen. Was langfristig immer hilfreich ist, wäre eine höhere soziale bzw. wirtschaftliche Weiterentwicklung, mit dem Ergebnis von deutlich weniger Hunger und sozialem Elend. Das Kastenwesen und -denken scheint in Indien`s Großstädten zumindest abgemildert zu sein. Trotzdem klafft auch in Indien die Schere zwischen arm und reich immer weiter auseinander. Auch der Klimawandel dürfte ein Brandbeschleuniger sein. Bleibt nur zu hoffen, dass der indische Staat sich nicht vollends in die Arme Chinas wirft. Die Christenheit kann da nur beten und die Politik hier unterstützen. Wunder brauchen wir für unsere ganze Welt und für manche Orte und Gegenden noch viel größere. Leider lässt sich dazu nicht viel sagen. Allerdings eines: Auch in Indien gibt es wie überall vernünftige Menschen. Keine in Indien ansässige Religion brütet inhumane Gedanken aus. Mit Glaube und Religion zu argumentieren, wenn es mit Gewalt gegen Toleranz geht, findet keine wirkliche Berechtigung in den heiligen Schriften und Büchern. Die Vertreter der großen Weltreligionen predigen schon seit geraumer Zeit Frieden und Mitmenschlichkeit, was allerdings auf keinen besonders fruchtbaren Boden zu fallen scheint. Auch wenn unser Glaube eine andere Lehre und ein anderes Gottesbild hat als die Religionen in Indien, so gilt doch weiterhin: Wer glaubt dass das Leben einen Sinn hat, und damit eine Aufgabe produziert, darf keine Unmenschlichkeit praktizieren. Jede hochstehende Religion hält das Leben immer für heilig. Es gibt kein höheres Wissen, keine heilige Macht, und keine Gottheit, die Töten vorschreibt.