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Historiker Dietz Bering: „Luther hätte sich mit Entsetzen vom NS-Judenmord abgewandt“

Martin Luther war nach den Worten des Historikers und Sprachwissenschaftlers Dietz Bering zwar Antisemit, hätte den Holocaust aber entschieden abgelehnt. "Wenn er das gesehen hätte, was die Nationalsozialisten ins Werk setzten, hätte er sich mit Entsetzen abgewandt", glaubt der emeritierte Professor

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Die Judenfeindschaft des Reformators führt er hauptsächlich auf theologische Gründe zurück. Luthers Haltung habe gleichwohl in der NS-Zeit als "Brandbeschleuniger" gewirkt. Bering legte vor kurzem das Buch "War Luther Antisemit? Das deutsch-jüdische Verhältnis als Tragödie der Nähe" vor.

Herr Bering, beim Blick auf Luthers Haltung zu den Juden wird gewöhnlich zwischen dem frühen «Judenfreund» und dem späteren «Judenfeind» unterschieden. Wie erklärt sich dieser Wandel?

Bering: Dafür sind immer wieder viele Argumente benannt worden. So war Luther entsetzt darüber, dass sich die Juden nicht bekehren ließen, obwohl sie doch durch ihn mit der richtigen Aufschlüsselung der Bibel konfrontiert worden waren. Er dachte apokalyptisch und sah den unmittelbaren Weltuntergang vor sich – da musste eben klare Linien zwischen Freund und Feind gezogen werden. Hinzu wird angeführt, dass er altersstarr und durch Krankheiten gequält zu solchen Radikalismen gekommen sei. Aber es gibt auch eine ganz neue Dimension: Luther war aufgrund der Tatsache, dass er das Alte Testament als eine wichtige Säule seines Glaubens aufnahm, so nahe an das Judentum herangetreten, dass es zu Spannungen kommen musste.

Sie beschreiben das Verhältnis des Reformators zu den Juden als eine "Tragödie der Nähe" und beziehen diese Formel auch generell auf die deutsch-jüdische Geschichte der folgenden Jahrhunderte.

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Ja, aber diese geistesgeschichtliche Linie läuft nicht nur zwischen den Deutschen und Juden. Es ist ein universelles Prinzip, das ich anhand von geistes- und naturwissenschaftlichen Beobachtungen aus vielen Fächern nachweise. Man könnte auch auf die Geschichte der Auseinandersetzungen zwischen Amerika und Mexiko blicken. Nur wird man vermuten, dass diese nicht ganz so scharf gewesen sind – eben weil es eine besondere Nähe zwischen Juden und Christen, Juden und Deutschen gibt. Sie sind sehr nahe verwandt.

Luther geriet als Mönch, Theologe, Kirchenmann in die politischen Auseinandersetzungen seiner Zeit. Wie verhalten sich bei seiner Einstellung zu den Juden religiöse und politische Motive zueinander?

Die politischen Motive sind bei Luther immer sekundär. Er geht stets von den theologischen Fragen aus. Einer der Merkmale seines Antisemitismus ist, dass er die Juden nicht einfach für schlechte Leute hält, sondern dass sie in der Gesellschaft, in der sie leben, grundsätzlich einen negativen Einfluss haben – in wirtschaftlicher und in vielerlei anderer Hinsicht. Luther entwickelt eine Phantasmagorie, wonach die Juden die Herren und die Nichtjuden die Knechte sind, obwohl er doch ganz genau wusste, dass es im damaligen Deutschland nicht mehr als 3.000 bis 4.000 Juden gab. Sie konnten also gar nicht so mächtig sein. Diese Phantasmagorien sind bei Luther aber sekundär im Vergleich zu den theologischen Auseinandersetzungen.

Der Begriff "Antisemitismus" stammt erst aus dem 19. Jahrhundert. Sie bezeichnen Luther dennoch als Antisemiten, weil er von der Unveränderbarkeit der Juden ausging.

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Luther hält die Juden für unveränderbar und unverbesserlich, sie sind der gesamten Natur nach schlecht und nicht nur in einzelnen Bezirken. Das lässt sich Punkt für Punkt beweisen und führt dann eben zu einer Parallele zum Antisemitismus des 19. Jahrhunderts. Allerdings hätte ein wirkungsmächtiger Antisemit wie etwa der berühmte Historiker Heinrich von Treitschke geschrien vor Entsetzen, wenn er Auschwitz gesehen hätte. Man darf das nicht vermengen – nicht jeder Antisemit war sofort für die totale Exstirpation. Hitlers Mörderbanden abgerechnet, dachten die meisten Deutschen wohl: So schlimm sind die Juden auch wieder nicht. So wie bei Luther, gab es bei den Deutschen des 19. und 20. Jahrhunderts verdrängte Gegengewichte.

Sie haben Auschwitz angesprochen – in wenigen Tagen jährt sich die Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslagers zum 70. Mal. Wie blicken Sie auf die gegenwärtige Diskussion über Luthers Antisemitismus im nationalsozialistischen Deutschland?

Man muss sagen, dass er objektiv als Brandbeschleuniger gewirkt hat. Aber er hätte nie von sich aus gesagt: Ich möchte jetzt aber sehen, dass ich möglichst schnell Auschwitz hinkriege. Wenn er das gesehen hätte, was die Nationalsozialisten ins Werk setzten, hätte er sich mit Entsetzen abgewandt. Es gibt keinen größeren Unterschied als den zwischen dem Atheisten Hitler und felsenfest gläubigen Luther. Als die Protestanten "Lutheraner" genannt wurden, hat der Reformator gesagt: "Wie käme denn ich armer, stinkender Madensack dazu, dass man die Kinder Christi mit meinem heillosen Namen nennen sollte." Eine größere Demut ist nicht denkbar. Hitler dagegen hat schon mit Sanktionen reagiert, wenn Briefe nicht mit "Heil Hitler" unterzeichnet waren.

Der Antijudaismus gehört zum Erbe der evangelischen Kirche. Wie soll sie damit umgehen, gerade im Blick auf das Reformationsjubiläum 2017?

Die Kirche soll so damit umgehen, wie sie es bereits tut – offen über diesen Punkt debattieren, bekennen, sich entschuldigen, wenn man das heute noch tun kann, und sich demütig zeigen. Aber angesichts der wunderbaren Befreiungstaten, die Luther vollbracht hat, ist das doch eher eine Nebensache. Luther und die deutsche Geschichte sind auf das allernächste verwandt, nicht nur in positiver Hinsicht, sondern auch in negativer. In dem, was er geschaffen hat, steckt genauso viel Emanzipationspotenzial wie Staatsverehrung. Luthers Freiheitsgedanke ist bis heute in der evangelischen Kirche ein segensreiches Prinzip – wenn man das mit anderen, von oben nach unten durchregierten Institutionen vor allem in der deutschen Geschichte vergleicht.

Die Fragen stellte Bernd Buchner (epd)

(Quelle: epd)

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