Bundestag und Bundesrat entscheiden heute über eine Novelle des Infektionsschutzgesetzes. Diese mit dem „Ermächtigungsgesetz“ von 1933 zu vergleichen, ist absurd.
Ein Kommentar von Daniel Wildraut
In den vergangenen Tagen wurde politisch teils heftig über den Zusatz zum Infektionsschutzgesetz (–> darum geht es) gestritten. Durch das Gesetz will die Bundesregierung eine bessere Rechtsgrundlage für die Maßnahmen gegen die Corona-Pandemie schaffen. In den vergangenen Monaten hatten Gerichte einzelne Länderverordnungen zu Corona außer Kraft gesetzt. Die jetzige Novelle sei nötig, „um angemessen, verhältnismäßig, aber auch flexibel“ auf die Corona-Pandemie reagieren zu können, sagt CDU/CSU-Fraktionschef Ralph Brinkhaus.
Kritik kommt von der Opposition. Die FDP hatte sich zwar selbst für eine Änderung des Infektionsschutzgesetztes ausgesprochen, wird aber gegen den Regierungsentwurf stimmen. FDP-Chef Christian Lindner kritisierte im Spiegel, es sei im Text nicht klar definiert, „welche Freiheitseinschränkungen in welcher Lage angemessen sind“. Der Handlungsspielraum der Regierung beim Eingriff in Grundrechte sei „zu groß“. Die Linke kritisiert, dass trotz Parlamentsentscheid die „Entscheidungsmacht“ bei der Regierung bleibe. Tendenziell zustimmend äußerte sich dagegen Grünen-Fraktionschef Anton Hofreiter. Die AfD lehnt die Novelle geschlossen ab.
Kritikwürdig ist, dass eine Präzisierung des Infektionsschutzgesetzes angesichts der Corona-Pandemie zwar längst überfällig ist, jetzt aber nach parlamentarischen Maßstäben mit geradezu atemberaubender Geschwindigkeit verabschiedet wird. Eine ausführliche Debatte war dadurch nicht möglich. Dies schafft kein Vertrauen. Auch inhaltlich bleiben Fragen offen: Infektionszahlen und Schwellenwerte sind im neuen Gesetz festgeschrieben. Die hängen jedoch, wie Florian Neuhann in ZDFheute kritisch anmerkt, von zwei veränderbaren Variablen ab: der Zahl der Tests und den Kapazitäten der Gesundheitsämter.
Ob alle Regelungen im Detail juristisch Bestand haben werden, wird zum Beispiel von der früheren NRW-Verfassungsgerichtspräsident Michael Bertrams bezweifelt. Der Deutsche Richterbund befürwortet laut Frankfurter Rundschau die Gesetzesnovelle.
Sachliche Debatte erforderlich
In den vergangenen Tagen erreichten Personen aus meinem persönlichen Umfeld und auch mich Protestaufrufe gegen das Infektionsschutzgesetz, darunter einige mit christlichem Hintergrund. Darin werden teils falsche Behauptungen in vermeintlich „göttlichem Auftrag“ aufgestellt, der Regierung jeder Wille abgesprochen im Interesse der Bevölkerung zu handeln und Vergleiche mit dem NS-Staat gezogen. Inhalt und Stil dieser Texte machen mich betroffen.
Richtig ist, dass es in den vergangenen Monaten zu teils sehr schwerwiegenden und schmerzhaften Einschränkungen des öffentlichen und privaten Lebens gekommen ist – und auch weiter kommen wird. Die wirtschaftlichen und sozialen Folgen sind teils gravierend. Das freut niemanden. Übrigens auch die Bundesregierung nicht. Eine sachliche, kritische Diskussion über die Maßnahmen ist und bleibt – parlamentarisch wie außerparlamentarisch – geboten. Das gehört zum Wesen der Demokratie.
Absurd und gefährlich
Absurd und gefährlich ist es jedoch, das aktuelle Infektionsschutzgesetz mit dem Ermächtigungsgesetz vom März 1933 zu vergleichen, auch wenn in Artikel 80 des Grundgesetzes ebenfalls das Wort „ermächtigt“ auftaucht (wie in zahlreichen anderen Gesetzen übrigens auch). Das „Ermächtigungsgesetz“ von 1933 diente der dauerhaften Entmachtung des Parlaments in allen legislativen Fragen und der Etablierung des Führerstaats in Deutschland. Wer hier Parallelen zur Situation in Deutschland 2020 zieht und unser Land auf dem Weg in eine Diktatur sieht, verharmlost das NS-Regime und verlässt den Boden eines ernsthaften Diskurses.
Die Bewältigung der Coronakrise braucht eine gesamtgesellschaftliche Anstrengung und sachliche Diskussionen. Christinnen und Christen können und sollen diesen Prozess mit fröhlichem Gottvertrauen aktiv, kritisch und betend begleiten. Panikmache ist unangemessen, Beleidigungen und Unterstellungen ebenso. Nein, wir sind nicht auf dem Weg in ein totalitäres System. Das Infektionsschutzgesetz mag verbesserungswürdig sein, ein Ermächtigungsgesetz ist es jedoch nicht.
Daniel Wildraut hat Geschichte, Politikwissenschaft und Theologie studiert. Er ist Redaktionsleiter von Jesus.de.
Links:
- Die Deutsche Evangelische Allianz (DEA) hat zwei Juristen um eine Stellungnahme zum Infektionsschutzgesetz gebeten und hier veröffentlicht.
- Uwe Heimowski, Politikbeauftragter der DEA, im Gespräch mit Frank Heinrich (CDU), Mitglied des Deutschen Bundestags, über das Infektionsschutzgesetz (Video).
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Hinweis: In einer früheren Version dieses Artikels hieß es im Vorspann: „Der Bundestag entscheidet heute […]“ Natürlich musste in diesem Fall heute auch die Länderkammer zustimmen. Wir haben diesen Fehler korrigiert.