Sollte der Religionsunterricht abgeschafft zugunsten eines Fachs Ethik und Weltanschauungen abgeschafft werden? Nein, sagt unser Kommentator. Es gehe um mehr als Wissensvermittlung.
Ein Kommentar von Jürgen Ullmann
Ich arbeite als Religionslehrer im deutschsprachigen Ostbelgien. Auch hier wird darüber diskutiert, ob der Religionsunterricht abgeschafft werden soll. Wenn ich gefragt werde, was ich davon halte, muss ich bekennen: Ja, ich bin für die Abschaffung des Religionsunterrichts.
Ich bin dafür, den Religionsunterricht abzuschaffen, wenn er dazu dient, den Schülern die Überzeugung des Lehrers aufzuzwingen – ob dies nun eine fundamentalistisch-christliche oder eine liberal-bibelkritische Überzeugung sein mag. Und ich bin für seine Abschaffung, wenn er aus endlosen Vorträgen über ein Lieblingsthema des Lehrers besteht, das mit dem Alltag der Schüler nicht das Geringste zu tun hat.
Frei und offen diskutieren
Ich bin jedoch für den Erhalt eines Religionsunterrichts, in dem die Schüler frei und offen über Themen diskutieren können, die ihr Leben und ihren Glauben betreffen. Jeder Schüler hat Fragen auf dem Herzen, auf die in anderen Unterrichtfächern nicht eingegangen werden kann.
Dem Religionsunterricht wird oft vorgeworfen, er würde die Schüler indoktrinieren. Doch ich stelle mir die Frage: Geschieht dies in anderen Unterrichtsfächern nicht auch? Im Biologieunterricht beispielsweise lernen die Schüler, dass die Evolution eine erwiesene Tatsache ist, die nur von bibeltreuen Fanatikern in Frage gestellt wird. Meines Erachtens ist das eine Form der Manipulation, wenn die Schüler nicht zumindest einige sachliche Argumente von Evolutionsgegnern kennen lernen und die Möglichkeit bekommen, sich kritisch damit auseinanderzusetzen.
Jeder Lehrer hat in Bezug auf weltanschauliche und ethische Fragen eine eigene Meinung, die er durch Texte und Aufgaben, die im Unterricht erarbeitet werden, an die Schüler weitergibt. Hierbei werden die Schüler oft nur einseitig informiert und lernen andere Sichtweisen gar nicht erst kennen. Nicht selten ist die Sichtweise, die die Schüler sich aneignen sollen, auch durch den Lehrplan vorgegeben. Hier kann der Religionsunterricht einen Gegenpol bieten. Er kann Anschauungen, die als allgemeingültig anerkannt werden, in Frage stellen und zu einem offenen Gespräch anleiten, in dem auch unpopuläre Meinungen zugelassen sind.
Es geht nicht nur um Wissensvermittlung
Zur Debatte steht auch, ob der Religionsunterricht nicht durch einen „neutralen“ Weltanschauungsunterricht ersetzt werden soll. Dies wäre denkbar, wenn es im Religionsunterricht um reine Wissensvermittlung ginge. Natürlich kann jeder Lehrer darüber informieren, welche Glaubenssätze, Riten, Feiertage usw. in den verschiedenen Religionen eine Rolle spielen. Doch meines Erachtens ist es nicht damit getan, Wissen zu vermitteln. Es geht auch um eine gewisse Spiritualität…um ein Gespür für die geistige Gesinnung, die eine Religion beinhaltet. Es ist ein Unterschied, ob ich einem Schüler sage: „Der christliche Glaube lehrt, dass jeder Mensch wertvoll ist und dass Gott Jeden liebt“ oder ob ich aus christlicher Überzeugung dem Schüler zusprechen kann: „Du bist wertvoll in Gottes Augen. Er liebt dich so sehr, dass er alles gegeben hat, damit du in der Gemeinschaft mit ihm leben kannst.“
Immer wieder erlebe ich, dass es diese Grundhaltung ist, die es Schülern ermöglicht, sich zu öffnen und über die Fragen und Probleme zu reden, die sie wirklich beschäftigen. Unterrichtsstunden, in denen das geschieht, helfen den Schülern, besser mit sich und ihrem Leben zurechtzukommen. Sie dürfen spüren, dass sie unendlich wertvoll sind, auch dann wenn sie mit ihren schulischen Leistungen weit hinter den Erwartungen zurückbleiben. Auch dann, wenn sie mit einer Behinderung leben müssen oder sich selbst minderwertig vorkommen.
Einen Religionsunterricht, in dem die Schüler erleben, dass es nicht nur um Leistung und Wissen geht, sondern dass sie mit all‘ ihren Fragen und Problemen ernst genommen werden, sollte man auf jeden Fall beibehalten. Ob der Unterricht tatsächlich in dieser Form gegeben wird, hängt natürlich weitgehend vom Lehrer und seiner inneren Haltung ab.
Jürgen Ullmann war bis zu seinem Tod 2020 Religionslehrer an einer deutschsprachigen Sekundarschule in Ostbelgien.
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Im Mittelpunkt steht Information und Dialog
„Ich bin jedoch für den Erhalt eines Religionsunterrichts, in dem die Schüler frei und offen über Themen diskutieren können, die ihr Leben und ihren Glauben betreffen. Jeder Schüler hat Fragen auf dem Herzen, auf die in anderen Unterrichtfächern nicht eingegangen werden kann“! Ich denke, mit dieser Kernaussage kann ich mich gut identifizieren. Nicht nur weil dies zu der Regel passt, dass der schulische Religionsunterricht zur Kenntnis eigener und anderer Religionen dient. Mehr noch: Weil die Zugehensweise auf andere Menschen, auch wenn ich ihm (etwa privat oder im kirchlichen Umfeld) die wunderbare Botschaft von Jesus sagen will, immer dann auch zuerst die Ebene des Dialoges sein sollte. Jesus hat in seinem Erdenleben erst immer den Einzelnen gesehen, also auch die Defizite, Bedürfnisse und dann auch alle die Not jener Menschen,, denen er begegnete. Am Anfang sollte zumal in der Schule neben der Information der Dialog stehen, weniger als Monolog und nicht als ein dann oftmals ausuferndes jeweiliges Lieblingsthema des Lehrers. An der Schule eine Gebetsgemeinschaft zu initiieren steht damit nicht im Widerspruch. Aber dies ist dann Aufgabe von Schüler:innen, nicht Lehrer:innen. Die einfache und gute Information, auch über die damit zusammenhängenden Werte des christlichen Glauben, besitzt einen Wert an sich. Es wäre auch eine Hilfe zum positiven besseren Verständnis anderer Religionen oder unterschiedlicher Zugänge, die auch zum eigenen Glauben (als einem großen Vertrauen in Gott) möglich und legitim sind.