„Mach was Schönes!“ – unter diesem Motto vernetzt sich die Polylux-Gemeinschaft mit viel Liebe und Kreativität in einer Plattenbausiedlung.
Zu DDR-Zeiten waren Wohnungen in Plattenbausiedlungen begehrt: Sie verhießen Fortschritt und Aufbruch, auch wegen ihrer modernen Fernwärmeanschlüsse. Nach der Wende sind sie für die meisten zum Inbegriff von Tristesse geworden. Wer kann, lässt sich woanders nieder. Auch als Ralf Neumann 2007 mit drei Freunden und deren Kindern nach Neubrandenburg kam, zog er zunächst in eine andere Gegend – in eine Altbauwohnung mit hohen Decken und schickem Flair.
Start im Nordosten
Drei der vier stammen ursprünglich aus Mecklenburg-Vorpommern, waren aber nach dem Abitur für Ausbildung und Auslandsaufenthalte weggegangen. „Wir waren quasi schon immer Freunde und hatten schon seit den Teeniejahren die Idee, was zusammen zu machen“, erzählt Ralf. Klar war: Ein solches Projekt sollte im Nordosten starten. Nicht nur wegen der landschaftlichen Schönheit, sondern auch wegen der negativen Tendenzen, die hier spürbar sind: Die Arbeitslosenquote ist in Mecklenburg-Vorpommern mit 8,5 Prozent nach Bremen und Berlin die dritthöchste in Deutschland. Der Alkoholmissbrauch bei Kindern und Jugendlichen hat zuletzt um 13,5 Prozent zugenommen. In manchen Dörfern haben Rechtsextremisten zahlreiche Immobilien gekauft und sich niedergelassen.
Nach der Schule ziehen viele aus der Region weg – dorthin, wo man bessere Ausbildungsmöglichkeiten hat und mehr verdient. Wer bleibt, hat nicht selten das Gefühl, zu einem resignierten Rest zu gehören, dem kaum Optionen offenstehen. Das kann eine Region niederdrücken.
Licht mittendrin
Nachdem Ralf und seine Mitstreitenden ein Jahr lang in einer jungen Lebensgemeinschaft in Sachsen gelebt hatten, beschlossen sie, sich in Neubrandenburg als Gemeinschaft niederzulassen und positiv mitzugestalten. „Wir waren in den ersten Jahren schon sehr fasziniert von der klösterlichen Tradition“, erzählt Ralf, „aber wir wollten nie so ein zurückgezogenes Kloster sein, das in der Einöde fastet und betet. Wir wollten mittendrin sein, wo Leute von uns profitieren können.“
Die vier suchten sich Jobs, übten einen gemeinschaftlichen Lebensstil ein, trafen sich zu Gebetszeiten und zum Essen und gründeten 2008 den Verein „Polylux“. Zu DDR-Zeiten wurden Overheadprojektoren so genannt. Die griechisch-lateinische Wortkombi bedeutet „viel Licht“: „Zum einen ist das inspiriert von Jesus, der sagt: ‚Ich bin das Licht der Welt … ihr seid das Licht der Welt‘. Und zum anderen fanden wir das Bild vom Tageslichtschreiber cool und hatten den Wunsch, dass Gott das, was wir im Kleinen als Gemeinschaft leben, quasi für andere an die Wand wirft.“
Irgendwann entdeckten sie in ihrer neuen Heimatstadt den Datzeberg, ein Plattenbauviertel, in dem heute rund 4.000 Menschen wohnen. Sie begannen, sich in bestehende Projekte einzubringen, engagierten sich bei einer Hausaufgabenhilfe, boten AGs in der Grundschule an und lernten viele tolle Leute kennen. Aber sie merkten: Es ist ein Unterschied, hier wirklich zu leben oder sich ein paar Mal die Woche zu engagieren und anschließend wieder ins Altbauviertel zu fahren. „Als ich einem Freund vom Datzeberg mal ein paar ganz schlaue Tipps gegeben hab, sagte er zu mir: ‚Du kannst das leicht sagen. Du fährst nachher los. Aber ich muss das jeden Tag sehen.‘ Und da hatte er recht!“, erzählt Ralf.
Eine Stimme bekommen
2011 zogen er und seine Frau Katharina, die mittlerweile zur Gemeinschaft dazugestoßen war, auf den Datzeberg – und fast alle, die sich der Gemeinschaft anschlossen, zogen nach. Irgendeine Wohnung wird im Plattenbau immer frei, das macht es leicht dazuzukommen. Außerdem liegen die Wohnungen alle nah beieinander und beides ist möglich: einen gemeinsamen Rhythmus leben und die Tür hinter sich zumachen können.
Auf dem Datzeberg zu wohnen, ist nicht zwingend Voraussetzung, um zur Gemeinschaft zu gehören, wohl aber eine Offenheit für die Menschen hier: Mit ihnen gute Beziehungen zu leben, sie wertzuschätzen, das ist ein wichtiges Ziel für Polylux. Daneben haben sie Projekte für den Stadtteil gestartet etwa den Chor „schall.platte“, der jeweils drei Monate lang wöchentlich probt und dann ein Konzert gibt: „Die Idee vom Chor fand ich zu Anfang extrem bescheuert“, gesteht Ralf grinsend. „Mein Vater singt im Chor, das musste ich jetzt nicht unbedingt haben. Aber es ist eine grandiose Idee:
Da singen Menschen, die sonst das Gefühl haben, im Leben nicht wirklich eine Stimme zu haben.
Im Chor tragen sie mit ihrer Stimme aber was Konstruktives bei, erleben Gemeinschaft, fühlen sich als Person wertgeschätzt.“ Und plötzlich hören andere ihnen zu: Auf dem Markplatz und in der Hochschule sind sie schon aufgetreten und haben sogar eine Hamburg-Tour inklusive Konzert vor der Elbphilharmonie veranstaltet.
Gemeinschaftsleben
Polylux versteht sich als Lebens-, Arbeits- und Glaubensgemeinschaft. „Die Community ist für uns das Herz von dem, was wir so machen“, sagt Ralf – aber wie sie gelebt wird, ändert sich mit den Lebensphasen und Situationen. „Im Moment haben wir verschiedene Gebetszeiten in der Woche. Die sehen ganz unterschiedlich aus: In einer Zeit laufen wir über den Datzeberg und beten da, eine ist in der Kapelle, eine ist dezentral und läuft über eine Handy-Erinnerung um zwölf Uhr mittags.“
Einmal in der Woche treffen sich alle nach einem ausgefuchsten Rhythmus mit anderen zum Essen. Denn mit zwölf Erwachsenen und neun Kindern sind sie als Gemeinschaft mittlerweile zu groß, um sich gemeinsam in den kleinen Hochhauswohnungen zu versammeln. Auch deshalb werden jedes Jahr Zweier- und Dreierteams ausgelost, die sich zum Kneipenbesuch, zum Teetrinken, zum Beten oder zum Spaziergang um den See verabreden. Samstagsabends gestaltet alle zwei Wochen jemand aus der Gemeinschaft das „Herzstück“, eine Art Gottesdienst, der immer wieder anders aussieht: „Manchmal meditieren wir zusammen, manchmal singen wir Lobpreislieder, manchmal gibt es einen Impuls, manchmal hören wir einen Stream oder so, je nachdem, wer das gerade gestaltet.“
Zweimal im Jahr fahren sie übers Wochenende weg. „Früher haben wir die Zeit genutzt, um Ausrichtungsfragen zu klären, haben bis spät in die Nacht um Visionen gerungen und Ziele formuliert und waren am Ende völlig geschlaucht“, erzählt Ralf. Heute werden die Wochenenden bewusst entspannt gestaltet und Richtungsfragen dafür im monatlichen „C&A“, der Runde für Community und Ausrichtung, geklärt. Stress und Spannungen kennt Polylux auch, „aber viele von uns würden sagen, dass sich dieser Lebensentwurf gut anfühlt im Alltag“, sagt Ralf. „Vielen ist es eher noch zu wenig Miteinander als zu viel.“
Bock auf Gott
Motivation und Antrieb für ihr Engagement ist ihr Glaube. „Wir erleben ihn für uns als großen Schatz und möchten ihn niemandem vorenthalten“, sagt Ralf. Aber aufschwatzen wollen sie ihn auch niemandem. In ihren Projekten sind sie damit ohnehin zurückhaltend: Es gibt keine Andachten zwischendurch, „sondern Chor ist Chor, Fußball ist Fußball“, erklärt Ralf. „Wir wollen keine Fragen beantworten, die niemand gestellt hat.“
Lieber wollen sie auf echten Bedarf reagieren. Und im Lauf der Zeit begannen die Datzeberger und Datzebergerinnen, ihre Fragen zu stellen. Denn allein dass die Polyluxleute hier wohnen, weckt Neugier: „Vielen hier im Viertel ist schon klar, dass wir auch woanders wohnen könnten, wenn wir wollten“, sagt Ralf. Dann tauchen Fragen auf nach ihrer Motivation oder warum sie bei manchen Treffen beten. Manchen ist die Sache mit Gott dann egal, andere haben bei einem Filmprojekt mitgemacht, in dem die Geschichte der Bibel neu erzählt wird. Mittlerweile hat sich auch ein Projekt namens „Kirche auf dem Datzeberg“ entwickelt. „Die Leute rennen uns hier nicht zu Hunderten die Bude ein und wollen wissen, wie sie an Gott glauben können. Aber wir merken, dass Fragen entstehen und wir darauf reagieren können, und haben Bock drauf, das zu tun.“
So schön und bereichernd die Polyluxleute ihre Freundschaften mit
ihren Nachbarn und Nachbarinnen auch empfinden – leicht ist ein Leben im Plattenbau nicht immer. „Wir wohnen im zehnten Stock, da braucht es mit Kindern einen langen Anlauf, bis man mal draußen ist. Wenn du das Fenster aufmachst, zieht immer Rauch rein. Manchmal ist der Fahrstuhl vollgekotzt. Es gibt viele pragmatische Herausforderungen“, sagt Ralf. Dass ihnen
ein schöneres Lebensumfeld schon manchmal fehlt, mussten sie sich als Familie in letzter Zeit immer mal eingestehen. Und gerade mit Kindern ist das Ausmaß der Entscheidung noch größer, weil ihre Chancen und Beschränkungen bei ihrem Start ins Leben betroffen sind. Der Schrebergarten reißt das Umfeld nicht immer raus. „Das war für uns ein intensiver Prozess“, erzählt Ralf, „in dem wir noch einmal eine neue Berufung für diesen Ort erlebt haben.“
Für ihre Arbeit hat sich die PolyluxGemeinschaft ein eigenes Motto gegeben:
„Unser Motto: Mach was Schönes.“
Sie versteht es als Gebet an Gott, „aber es ist auch die Aufforderung an unsere Nachbarn und Freunde: Ihr seid tolle Leute – macht was Schönes aus euren Potenzialen, aus eurem Leben!“ Man wünscht sich nicht nur für den Datzeberg, dieses Motto würde an vielen Stellen erhört.
Link: Homepage Polylux
Diesen Artikel schrieb Anja Schäfer für die Zeitschrift andersLeben. Ihr Mann David Schäfer sprach mit Ralf Neumann, dem Vorsitzenden der Gemeinschaft. andersLeben erscheint regelmäßig im SCM Bundes-Verlag, zu dem auch Jesus.de gehört.
Wirklich ein Lichtblick
Das Leben mit anderen Menschen zu teilen und so als Christinnen und Christen Licht der Welt zu sein, ist schon für sich betrachtet eine wirkliche faszinierende Angelegenheit. Wenn man dann auf Augenhöhe ein Stück weit miteinander lebt, dann ist dies eine große Annäherung an die Idee der (modernen) Urgemeinde. Wir brauchen mehr solche Modelle, ebenso eine größere Bereitschaft als Kirchen und Christen aus einer Komm-Struktur eine Geh-Hin-Struktur zu machen. Das scheint mir auch das einzige wirkliche Mittel gegen den Traditionsabbruch in den großen Mitgliedskirchen zu sein, oder den auch vorhandenen Schwund der aktiven Mitglieder von Freikirchen ebenfalls zu bremsen. Vielleicht wird es bald keine großen Mitgliedskirchen mehr geben, möglicherweise auch wegen fortschreitender Austritte sowie finanzieller Probleme. Insoweit man hier überhaupt von „effektiv“ sprechen darf, wären doch ganz viele kleine Gruppen von Christinnen und Christen, die mit anderen Menschen das Leben teilen, wirklich effektiver und wirkungsvoller dafür, das gelebte Evangelium an die Hecken und Zäune der Welt zu bringen. Der Pfarrer von St. Pauli, eine im guten Sinne querdenkerische Phantasie in diesem Uralt-Film, hielt einfach den Sonntagsgottesdienst in der Kneipe ab. Die Erfahrung der anderen Orte zeigt, dass Menschen wieder neugierig werden. Vor allem, wenn wir wie die Eisen- oder Straßenbahn nicht immer auf den eingefahrenen Gleisen der Tradition des immer Gleichen verhaftet sind. Richtige Taufen für Menschen in jedem Alter, etwa nach Möglichkeit im Sommer an Flüssen oder im Schwimmbad durchzuführen, würde aus der Taufe auch wieder mehr ein Zeichen machen. Und dies gemeinsam mit den Versammelten als Fest zu gestalten, wäre optimal. Weg von dem Schlaf der Sicherheit, gegen die Zögerer und Bedenkenträger, sich neu mit dem Evangelium auf den Weg an die Hecken und Zäune zu begeben, würde Jesu Missionsbefehl modernisieren. Plattenbausiedlungen haben bereits in der Art ihrer Gestaltung so etwas von sozialer Depression in ihrer äußeren Form verewigt. Ich kann mir gut vorstellen, wie dort überhaupt Angebote gerne angenommen werden. Und wenn sich hier eine Gemeinschaft des gemeinsamen christlichen Lebens sich einbringt, dann geschieht jenes was Jesus vorlebte: Eine mit anderen Menschen gelebte Geschwisterlichkeit. Das ist auch eine gute Idee für völlig Nichtreligiöse.