Out of the Box – Weil wir wunderbar gemacht sind
Die Kolumne von Tom Laengner

Sieht mich da wer?

Die Mitmenschen wahrzunehmen ist der „Kitt“ menschlichen Zusammenlebens. Diese Erkenntnis gewinnt Tom Laengner auf dem Weg zum Arzt.

Unter dem Sicherheitsgurt spürte ich einen Druck auf meinen Rippen. Dann fühlen meine Finger das Portemonnaie meiner Frau. So ein Käse, dachte ich. Ganz klar mein Versehen! Das Brot, das sie kaufen wollte, könnte sie ohne Geld vergessen. Währenddessen gondelte ich weiter hinter der Linie 447 her. Wieder einmal Zeit, um die Werbetexte über den Rücklichtern eines Busses zu meditieren. In Weiß auf Blau lautete das Wort zum Tag: „Zuhause zählst nur du“. Immerhin etwas, dachte ich zuerst. Ist das nicht wunderbar?  Ein Ort, an dem ich wichtig bin. In meinen vier Wänden werde ich gesehen.

Hinter der nächsten Ampel blies mir der Bus noch einmal herben Dieselduft durch die Belüftungsschlitze entgegen. Dann verschwand er und der Slogan verlor an Glanz. Gesehen zu werden, ist lebenswichtig. Ungesehen und übersehen verkümmere ich.

Das Egoismusproblem unserer Gesellschaft

Mit dieser Wirklichkeit ist heute kaum ein Mensch allein. Egoismus ist ein großes gesellschaftliches Problem. Im Mai 2022 machte der Mitteldeutsche Rundfunk eine Umfrage im Sendegebiet. 80 Prozent der Befragten waren der Ansicht, dass Egoismus zugenommen habe. Für mich zähle nur ich. Die Auswirkungen sind besorgniserregend. Nach Ansicht des MDR tragen sie bei zum Auseinanderfallen unserer Gesellschaft bei. Nur … bei 80 Prozent fällt es schwer zu glauben, dass es immer nur „die anderen“ sind, die ihr Ego polieren.

Einem Menschen, der sich für einfühlsam hält, schmerzen solche Zahlen. Was also tun? Viele der Ungesehenen atmen tief durch und erstreben, sich selbst bewusst in den Blick zu rücken. Werde ich nicht gesehen, dann sehe ich mich selbst. Da werden viel Zeit, Geld und große Hoffnungen investiert. Ich finde es sehr traurig, wenn sich dennoch die erwünschten Resultate häufig nicht einstellen.

Nun ist das Lebensmotto ‚Ich zuerst!“ anscheinend ein Menschheitsproblem. Mindestens bis in die Zeit des römischen Imperialismus müssen diese Gedanken des Drehens um sich selber zurückgehen. Schon damals müssen es Millionen gewesen sein, denen dabei schwindelig wurde. Ihnen wurde schlecht. Aber aus dem Hamsterrad der Leere kamen sie nicht raus. Wahrscheinlich hatte der Schreiner aus Nahost auch so etwas im Sinn, als er sagte: „Wer sein Leben retten will, der wird es verlieren; wer aber sein Leben verliert um meinetwillen, der wird es finden“. 

Für uns schafft so ein Vorzeichenwechsel ein Dilemma. Es ist verwirrend. Wenn mich keiner sieht, dann ist das erbärmlich genug. Wenn ich mich dann auch noch selber aus dem Blick verlieren sollte, dann bleibt ja nicht mehr viel. Da scheint ein grundlegender Perspektivwechsel doch das Letzte zu sein!

‚Nee, nee‘, höre ich da Jesus sagen, ’Ich sehe dich ja. Kannste mir glauben!‘

Jesus sieht dich

Unbeeindruckt von der persönlichen Zwickmühle gibt es Menschen, die von Jesus abgeguckt haben. Als meine Frau und ich im Sommer in Salzburg das Museum der Moderne besuchten, lasen wir: „ We rise by lifting others“. Der Ausstellungstitel der italienischen Künstlerin Marinella Senatore enthält eine Botschaft: Wir haben einen persönlichen Gewinn davon, wenn wir das Wohl anderer Menschen im Blick haben. Mir kamen diese Gedanken wieder in den Sinn, während ich eine Überweisung zum Onkologen abholte. Dabei überholte ich eine Frau im Treppenhaus des Ärztehauses. Sie schaffte es kaum runter. Für meine Befindlichkeit war sie nicht verantwortlich. Also fragte ich sie, ob sie Unterstützung nötig habe. Hatte sie nicht. Aber sie drückte ihre Freude aus, wahrgenommen worden zu sein. Uns beiden war anschließend leichter zumute.

Den anderen zu sehen bringt nicht den spektakulären Wurf, gehört aber zum Kitt menschlichen Zusammenlebens. So wollte meine Frau am selben Tag in einer Bäckerei einkaufen. Das Brot lag schon auf dem Tresen. Da fiel ihr auf, dass ich das Portemonnaie und sie nur 2,25 Euro in der Tasche hatte. Die Verkäuferin schaute nachdenklich, streckte dann ihren tätowierten Arm aus, strich die Münzen ein und verkündete: „Der Rest geht auf mich“. Ist so ein Verhalten nicht wunderbar? Vielleicht hatte die Frau auch diese Worte gehört, ’Ich seh dich ja. Kannste mir glauben‘. Jetzt sah sie andere. Meine Frau jedenfalls war platt; sie jubelte aus ganzem Herzen. Und weil sie laut genug war, freute sich die versammelte Kundschaft gleich mit. Ich glaube, dass ich das Portemonnaie wohl behalten kann.

Out of the box - weil wir wunderbar gemacht sind

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Tom Laengner

Tom Laengner ist ein Kind des Ruhrgebiets. Nach 20 Jahren im Schuldienst arbeitet er journalistisch freiberuflich und bereist gerne afrikanische Länder. Darüber hinaus arbeitet er als Sprecher für Lebensfragen und Globales Lernen.

In seiner Kolumne „Out of the Box – Weil wir wunderbar gemacht sind" schreibt er alle 14 Tage über Lebensfragen, die ihn bewegen.

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2 Kommentare

  1. Mittel gegen Egoismus gibt es

    „Bei 80 Prozent (Egoismus in der Gesellschaft) fällt es schwer zu glauben, dass es immer nur „die anderen“ sind, die ihr Ego polieren“! Sagt Tom Laengner zum Thema eines zunehmenden Egoismus in der Gesellschaft. Ich denke da gilt die Überzeugung, dass es einen Gott gibt, der mich sieht. Ich habe soeben einen wohltuenden Gottesdienst erlebt, am Abend in der schön angeleuchteten Kirche, mit Kerzen und Taize-Gesängen von uns und dem Chor, sowie mit dem Angebot von Segnungen und Salbungen. Etwas, was wir als Lutheraner allzu lange vergessen haben. Es ist nicht die Predigt das allseeligmachende Element in der Feier jeden Sonntag unter Altar und manchmal Kanzel. Denn gesegnet und gesalbt zu werden vermittelt so ein wunderbares Gefühl dafür, dass unser Amt als Christinnen und Christen immer darin besteht, die Zuwendung Gottes unter uns auch weiterzugeben. Vielleicht sind viele Wort eher dann zuviel, wenn wir nicht mehr lebende Bibeln auf zwei Beinen sind, die aber nicht lediglich plappern, sondern ebenso achtsam, auf Augenhöhe sowie mit Freundlichkeit, Zuwandheit, aber ebenso Verantwortung durch die Welt gehen. Dann werden wir das was wir eigentlich sind – oder sein sollten – ein „Licht der Welt“ und „Salz der Erde“ An regnerischen dunklen Wintertagen ist daher nicht nur soziales Kuscheln angesagt, sondern insgesamt ebenso unsere wichtige christliche Gemeinschaft heilsam. Vor allem dann mit den Hintergrunderfahrungen, dass momentan wie im Finale eines Feuerwerkes kaum eine Katastrophe, Unfall oder gar Krieg ausbleibt und sich daher gefühlt das Karussel der Ereignisse immer schneller dreht. Wenn wir uns gegenseitig ein wenig emotionale Wärme schenken, dann schmilzt der Egoismus in mir und fast allen anderen wie unser Schnee unter Frühlingssonne: Egoismus ist die Selbstvergessenheit, nicht auf der Erde alleine zu sein, sondern auch Mitmenschen und Mitkreaturen zu haben: Also – ein Mittel gegen Egoismus gibt es. Aber dies dürfte auch nicht das einzige Mittel sein. Liebe ist, wenn man sie ausübt und sie vermehrt sie wundersam bei ihrer Verschwendung

  2. Vielen Dank für diesen schönen und einfühlsamen Artikel und auch für das sehr schöne Foto. Tatsächlich bieten sich zwar nicht jeden Tag, aber doch häufig genug Gelegenheiten, andere zu sehen. Ich hoffe immer, dass ich solche Gelegenheiten nicht ungenutzt verstreichen lasse. Sie machen froh, nicht nur den Gesehenen – auch den, der sieht.

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