- Werbung -

„Warum lässt Gott Leid zu?“

Wenn wir selbst Leid erfahren oder bei anderen miterleben, steht die Frage im Raum, warum Gott das zulässt. Verständlich – aber auch gerechtfertigt?

Von Jennifer Zimmermann

- Werbung -

Das Jahr 2014 war nicht unser Jahr. Wir verbrachten es abwechselnd auf unterschiedlichen Stationen verschiedener Krankenhäuser auf wahlweise blauen oder roten, aber immer unbequemen Plastikstühlen an den Betten unserer Lieben. Kinderintensiv, Kinderchirurgie, Onkologie, Erwachsenenintensiv und wieder von vorn. Zwischendurch standen wir an zwei Gräbern und trauerten um verlorene Kämpfer – zwei Männer unserer Familie, die wir schmerzhaft vermissen.

Doch aus all den Momentaufnahmen aus dieser Zeit gibt es nur einen, der mir immer noch das Atmen schwermacht. Um mich herum ein trügerisch bunter Wartebereich, vor mir eine verschlossene OP-Tür, meine leeren Arme spüren noch das Gewicht meines neugeborenen Sohnes und in meinem Kopf pocht zum ersten Mal dieser panische Gedanke: „Was, wenn Gott gar nicht gut ist?“

Ich bin den Zweifel seither nicht mehr losgeworden. Anfangs wartete ich noch auf dieses leise Flüstern, das ich so gut kannte, die Stimme, die mir zuverlässig sagte, was ich nicht hören wollte und mir gleichzeitig wie niemand sonst das Gefühl geben konnte, geliebt und sicher zu sein. Ich sagte mir, dass mein Herz zu aufgeregt, die piepsenden Klinikapparate zu laut seien, dass ich zur Ruhe kommen müsse, um zu hören, um zu verstehen. Aber ich sah nur mein Kind an unzähligen Schläuchen, fiel ins Bodenlose und verstand rein gar nichts.

Im Angesicht des Leides

Neulich saß ich mit meiner Tasse Kaffee am Frühstückstisch, alle Kinder noch träumend in ihren Betten. Fasziniert betrachtete ich das Wolkenspektakel am Himmel. Triefend graue Gewitterwolken und – soweit der Blick reicht – nur eine kreisrunde Lichtung. Ich wartete darauf zu sehen, wie sich das Licht dramatisch seinen Weg durch die Wolkendecke bahnen würde, als sich die Lichtung plötzlich zuzog und verschloss. Nichts als Grau weit und breit. So war 2014. Als ich Gottes Stimme am dringendsten gebraucht hätte, zog er sich hinter die Wolken zurück und ließ den Sturm um mich toben.

- Werbung -

Wohin mit meinem Zweifel? Ich habe mich in Literatur über den guten Gott und das Leid versenkt und bin keinen Schritt weitergekommen, denn es ist keine theologische Erklärung, die ich in Wahrheit suche, es ist eine Begegnung. Ich habe versucht, die Gottesbegegnung durch Menschenbegegnung zu ersetzen und bin auf Angst gestoßen und schnelle Glaubenssätze, hinter denen man sich verstecken kann, wenn man nicht weiß, was man sagen soll.

Ich habe gelernt, nicht von Dankbarkeit anzufangen, wenn Menschen ihr Leid teilen, sondern die Fragen auszuhalten und den Schmerz. Ich habe Bücher gelesen, in denen Menschen wunderbare Visionen von Gott bekommen haben, die ihnen den Stein vom Herzen nahmen und ich habe Tränen darüber geweint, dass Gott nicht alle von ihrem Schmerz befreit.
Der Zweifel hat keinen Platz in der Glaubensfamilie, so scheint es. Er ist all das, was wir nicht hören wollen. Wir wollen es allein schaffen, ein gutes Leben führen, einen starken Glauben haben, der anderen leuchtet, und wir haben einen Koffer voller guter Ratschläge, falls das mal nicht ganz gelingt. Aber im Angesicht des Leides bestehe ich nicht, kann ich womöglich gar nicht mehr glauben und im besten Fall begreife ich, dass ich gar nichts begriffen habe.

Trauer (Foto: thinkstock)

Überlebensraum

Der tschechische Priester und Autor Tomáš Halík beschreibt unseren Weg zu Gott als einen Aufstieg auf einen wolkenverhangenen Gipfel. Ob ich als schmerzhaft leidenschaftlich Suchende japsend oben ankomme oder als eine, die festen Schrittes mit dem Geschenk eines standhaften Glaubens den Weg gegangen ist – von dem, was ich am Ende, jenseits der Wolken finden werde, werde ich so oder so überrascht sein. Gott passt nie in unsere Vorstellungen, nicht einmal in unsere Hoffnung. Und vielleicht ist es das, was meinen Zweifel wertvoll macht. „Meine Vorstellung von Gott ist nicht göttlich“, so beschreibt es C. S. Lewis in seinem Schmerz um seine verstorbene Frau. „Sie muss von Mal zu Mal zertrümmert werden. Er selbst zertrümmert sie. Er ist der große Bilderstürmer.“

Es gibt eine kleine Gruppe von Frauen, zu der ich mich zählen darf. Wir nennen uns Hauskreis, aber es fühlt sich an wie Familie, wenn am Donnerstagabend die letzten Duplosteine zur Seite gekickt werden und wir uns seufzend in die Sofas fallen lassen, um zu berichten, was die Woche gebracht hat. Hier hat mein Zweifel Platz. Das Wohnzimmer meiner Freundin, in dem wir uns treffen, ist ein Überlebensraum für mich geworden. Hier werde ich zum ersten Mal ehrlich, vor mir selbst, vor Gott, wage es wieder zu beten, ohne Lob zu heucheln. Ganz ernst. Hier erfahre ich, dass meine tiefdunkle Enttäuschung vor Gott sein darf, dass er mich aushält, so wie meine Freundinnen meine Tränen aushalten, ohne alles gleich wegzuwischen. Kein „Aber Gott trägt dich durch“, kein „Aber sei dankbar“. Ich muss die Klage in all ihrer Bitterkeit hinausschreien, weil sie sonst Mauern baut in mir und mein Herz hart macht. Wenn mein kleiner Sohn stotternd seine Worte zusammenklaubt, dann warte ich geduldig, bis er seinen Satz beendet hat, ohne ihm über den Mund zu fahren. Weil ich ihn liebhabe und jedes seiner Worte wertvoll ist. So geduldig erträgt Gott mein Schreien, das lerne ich jeden Donnerstagabend. Meine Fäuste fliegen, und er steht da und hält mich aus. Voller Achtung. Und schweigend.

- Werbung -

Unendlich weit entfernt

Karfreitag 2016. Ich stehe fassungslos vorm Kreuz. „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Ich höre die uralten Worte ganz neu, blicke auf meine zitternden Hände. In mir bewegt sich etwas, das lange gelähmt war vor Angst. Eine Ahnung von einem Flüstern. Meine schmerzvolle Sehnsucht trifft den Aufschrei von Jesus am Kreuz. Der Himmel hat sich verdunkelt, und der Sturm hat getobt. Gott versteckte sich hinter der Wolkenwand, und Jesus legte sich mitten hinein in den tosenden Wolkenbruch und schmeckte das Leid der ganzen Welt. Allein. Für einen kurzen Moment bin ich dankbar, dass Gott geschwiegen hat. Weil es nichts zu sagen gab als das, was schon gesagt war. Der blutüberströmte Jesus, der schneidende Schmerz, das „Warum?“.

Die Erfahrung des Leids, das Gefühl, von Gott unendlich weit entfernt zu sein, steht mit Jesus‘ Kreuz mitten im Zentrum unseres Glaubens. Das gilt es auszuhalten. Wir glauben an einen Gott der Gegensätze. In seinem Königreich werden die Allerletzten gekrönt, die mit den größten Wunden. Und so ist es typisch für ihn, dass auf den schmerzhaftesten aller Tode der größte Sieg aller Zeiten, Auferstehung, Erlösung folgt. Aber vorher mutet er uns zu, dass das Bild vom siegreichen Gott zerrissen wird. Und wir tun gut daran, das Chaos einen Moment so stehen zu lassen. Wenn nicht für uns selbst, dann für all die Weinenden, die Verletzten, die Verlassen, die sich danach sehnen zu hören, dass Gott selbst schon zerrissen war.

Wie lange kann ich am Kreuz ausharren? Jesus ist auferstanden. Aber wie lange kann ich aushalten, dass diese Realität in meinem Alltag nicht widerhallt? Wie lange kann ich akzeptieren, dass meine Gebete scheinbar verhallen, dass meine Lieben nicht geheilt werden? Wie oft kann ich an einem Grab stehen, wie oft die Nachrichten ansehen, bis die Sehnsucht nach Gottes neuem Reich in Bitterkeit umschlägt und ich ihn verwerfe?

Der undurchschaubare Gott

Thérèse von Lisieux, eine französische Ordensfrau aus dem 19. Jahrhundert, wurde nur 24 Jahre alt. Sie starb an Tuberkulose und verlor mit dem offensichtlichen Beginn ihrer tödlichen Krankheit ausgerechnet den Glauben an den Himmel. Doch Thérèse klagt und hadert nicht. In freudiger Demut nimmt sie diesen Zweifel als eine von Gott geschenkte Chance an, kleiner zu werden. Gott, da ist sich die todkranke Thérèse sicher, wartet in der Tiefe. Seine Herausforderung an sie ist es, geduldig weiter zu lieben. „Aus Liebe zu Gott erdulde ich alles, auch die seltsamsten Gedanken“, so beschreibt sie ihren Umgang mit dem Zweifel. Es ist, als schreibe mir diese junge Frau direkt ins Herz, als stellten diese über hundert Jahre alten Worte aus der Normandie eine Frage an mich – in sehr viel harscheren Worten, als die fromme Ordensfrau sie wohl gewählt hätte: „Für wen hältst du dich eigentlich?“

Was erwarte ich von Gott? Eine Vision, eine Einladung, ein Treffen, so individuell auf mein Leben zugeschnitten wie meine Twitter-Blase? Mit welchem Recht fordere ich ausgerechnet von ihm eine Erklärung für meine Schicksalsschläge, einen Beweis für seine Güte? Und umgekehrt: Wie klein bin ich bereit zu werden? Wenn Gott in meiner Schwäche seine Stärke zeigt, wie Paulus es einmal in einer verzweifelten Lage beschrieb (2. Korinther 12,10), findet er dann die Risse in meiner Biografie so wertvoll, dass er sie offenhält? Vielleicht braucht diese Welt, vielleicht braucht sein Königreich auch die Kleinen, die Kleingläubigen, die mit den wunden Seelen?

Diese Fragen zu stellen, tut weh. Aber sie gehören zu der Geschichte, die Gott in mein Leben schreibt. Die Worte arbeiten schneidend scharf an mir. Letztlich verletzen sie aber nie mich, sondern mein Ego, das mir aufgeplustert im Weg herumsteht, meinem Weg zu dem wolkenverhangenen Gipfel. Wenn ich die Luft rauslasse, kann ich wieder einen Schritt vor den anderen setzen und neu vertrauen lernen. Es ist ein Ringen um einen neuen Glauben, das heute in mir stattfindet. Ein Abschied von dem Bild eines lieben Gottes, das so täuschend echt aussah. Ich starre in die Wolken und alles, was ich sicher sagen kann, ist, dass hinter ihnen ein Geheimnis wartet, der wilde, undurchschaubare Gott. Und, dass ich einen Haufen Fragen mitbringe, wenn ich irgendwann zu Hause ankomme bei ihm.


Dieser Artikel ist im Magazin Family erschienen, das wie Jesus.de zum SCM Bundes-Verlag gehört.

Konnten wir dich inspirieren?

Jesus.de ist gemeinnützig und spendenfinanziert – christlicher, positiver Journalismus für Menschen, die aus dem Glauben leben wollen. Magst du uns helfen, das Angebot finanziell mitzutragen?

NEWSLETTER

BLICKPUNKT - unser Tagesrückblick
täglich von Mo. bis Fr.

Wie wir Deine persönlichen Daten schützen, erfährst du in unserer Datenschutzerklärung.
Abmeldung im NL selbst oder per Mail an info@jesus.de

Zuletzt veröffentlicht