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Demenz: Wenn der Glaube schwindet

Was bedeutet es, wenn ein demenzkranker Mensch seinen christlichen Glauben „vergisst“? Eine theologische und medizinische Einordnung.

Von Norbert Rose

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Demenz (wörtlich etwa „ohne Geist“) kann zu enormen Herausforderungen innerhalb der Familie führen. Der Verlauf dieser Erkrankung zieht sich oft über mehrere Jahre hin. Extreme Verwirrtheitszustände bei gleichzeitiger (oft gesteigerter) körperlicher Vitalität fordern rund um die Uhr erhöhte Aufmerksamkeit. Dazu kommen häufig Verweigerungshaltungen und eine Neigung zu Aggressivität. Es gibt allerdings auch Verläufe, in denen Demente sehr friedlich und umgänglich werden. Ich beziehe mich in diesem Artikel überwiegend auf die Form vom Typ „Alzheimer-Demenz“. Die meisten hier beschriebenen Aspekte sind aber auch auf andere Demenz-Formen übertragbar.

Das wahre Gesicht

Auch gläubige Menschen werden dement und können dabei sehr befremdliche Verhaltensweisen zeigen. Friedliche Personen können feindselig werden; manche verlieren ihren inneren „Knigge“ und vergessen, „wie man sich benimmt“. Es kommt zu anzüglichen Bemerkungen oder Handlungen, gar zu Handgreiflichkeiten. Der Erkrankte macht Aussagen, die einem früheren persönlichen Glaubenszeugnis komplett widersprechen. Die Person ist kaum wiederzuerkennen.

Es entsteht der Verdacht, der Mensch, wie wir ihn kannten, habe sein Leben lang alle getäuscht. Er habe eine fromme Fassade gezeigt und zeige nun sein „wahres Gesicht“. Ansatzweise mag das sogar stimmen. Wenn die Selbstkontrolle aufgrund einer Demenz verloren geht, lassen sich manche lang gehüteten Schwächen und Geheimnisse nicht mehr verbergen, so sehr sich der Demente auch darum bemüht. Fühlt er sich ertappt, greift er obendrein zu abenteuerlichen Erklärungen und Ausflüchten. Dahinter steckt meistens ein verzweifeltes Bemühen, sein Gesicht zu wahren – besonders im Anfangsstadium der Krankheit, wenn er noch wahrnimmt, wie ihm seine mentalen und praktischen Kompetenzen und seine Selbstkontrolle zunehmend abhandenkommen. Gleichzeitig nimmt die Kritik an seiner Person zu, weil er vieles „falsch“ macht. Korrektur, Belehrung, Kritik oder Appelle aber bedeuten auch Demütigung; daher verfängt er sich zunehmend in „Geschichten“, die unter Umständen einer glatten Lüge gleichkommen. Ein Christ also, der im Extremfall lügt, schlägt, flucht, unanständige Anträge macht und gleichzeitig nichts mehr von seinem Glauben weiß?

Eine schreckliche Krankheit

Für Angehörige stellt sich häufig die Frage: Was geschieht mit dem Glauben dieses Menschen? Gilt die „Ent-Geisterung“ auch im Blick auf den Heiligen Geist? Wohnt der Heilige Geist noch im Menschen, wenn er permanent schimpft, klagt, jammert, ablehnt, flucht und in verschiedenen Lebensbereichen „schuldig“ wird? Was geschieht, wenn der Glaube „schwindet“, der doch Grundlage und Voraussetzung für die Erlösung ist? Schließlich heißt es ja in der Bibel: „Glaube an Jesus, den Herrn, dann wirst du gerettet, zusammen mit allen in deinem Haus“ (Apostelgeschichte 16,31). Was ist, wenn dieser Glaube in der Demenz abhandenkommt?

Zuerst müssten die Gesunden verstehen, dass sie es mit einer schrecklichen und folgeschweren Krankheit zu tun haben. Sie beginnt schleichend und zeigt körperlich keinerlei Symptomatik, wird jedoch auf der kognitiv-mentalen Ebene immer lückenhafter und sonderlicher. Der Geist jedoch ist – anders als der Begriff „Demenz“ vermuten lässt – nicht „weg“. Der Zugriff zu früher erlernten und gewohnten Handlungs- und Verhaltensmustern geht nach und nach verloren. Alles, was der Mensch in seinem Leben an praktischem und theoretischem Wissen lernt, hat seine „Repräsentation“ in seinem Gehirn. Dieses „Wissen“ ist in hochkomplexen neuronalen Netzwerken gespeichert und kann im gesunden Zustand blitzschnell aktiviert werden. Wenn dieses Wunderwerk beschädigt wird, sind auch die Folgen immens.

Diese in einem meist langen Leben erlernten Routinen sind bei einem dementen Menschen allerdings nicht per se verschwunden, sondern der Zugriff zu diesen Netzwerken ist erschwert, verlangsamt oder tatsächlich in Auflösung begriffen. Damit ist das vorhandene Wissen nicht mehr im gewohnten Tempo in eine sinnvolle Reaktion umzusetzen. Lässt man dem oder der Dementen ausreichend Zeit und schafft durch geduldige Hilfe mentale Anreize, zum Beispiel durch geeignete Stichworte, kann es zu logischen Assoziationen kommen. Assoziationen sind zufällige Verknüpfungen mit dem, was bereits oder noch an altem Wissen vorhanden ist. Das mag kompliziert klingen – und das ist es auch – und es zeigt, warum eine demenzielle Erkrankung so herausfordernd sein kann.

Frühere Gewissheiten aktivieren

Ist nun der Glaube ebenfalls verloren und damit auch die Gewissheit einer ewigen Erlösung, weil der Glaube nicht mehr bewusst ist? Wir könnten ebenso fragen, was mit unserem Glauben geschieht, während wir schlafen. Oder wenn ein Mensch aufgrund einer schweren Verletzung im Koma liegt. Was geschieht mit dem Gläubigen selbst, wenn in seinem Gehirn ganze Nerven-Netzwerke und neuronale Strukturen absterben, die für klares Denken und für einen bewussten Glauben Voraussetzung sind? Ist ein Mensch nur solange „im Glauben“, wie sein Gehirn ihm ein strukturiertes Denken ermöglicht?

Bei allem, was über Demenzen bekannt ist, haben die meisten Formen einen progredienten Verlauf – das heißt: Sie lassen sich bis dato weder heilen noch verhindern. Auch neues Lernen gelingt nicht mehr. Daher sind Belehrungen und Korrekturen oder Kritik eher kontraproduktiv. Durch eine gezielte und sensible Begleitung lässt sich jedoch früheres Wissen noch lange aktivieren. Mit viel Geduld und assoziativen Umwegen durch Erinnerungen, Bilder, Worte, Berührungen und besonders durch Musik können die Restbestände noch vorhandener Netzwerke im Gehirn wieder erweckt werden. Auf diese Weise lässt sich auch der Glaube noch lange ins Bewusstsein zurückholen.

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Die Atmosphäre einer Andacht oder eines Gottesdienstes, die Orgelmusik, der Posaunenchor, geistliche Gesänge und Konzerte, liturgische Elemente wie das Vaterunser oder bekannte Psalmen oder Segensgebete spielen dabei eine herausragende Rolle. Choräle und andere Lieder, die Demente ein Leben lang begleitet haben, nehmen sie wieder hinein in die geistliche Gemeinschaft der Gläubigen und können frühere Gewissheiten zumindest temporär wieder lebendig werden lassen. Lieder sind auch deswegen eine große Hilfe, weil sie aus verschiedenen Elementen bestehen: Worte, Bekenntnisse, Trost, Wissen, Stimmungen, Klangerlebnis, ästhetische Momente der Musik… Diese verschiedenen Elemente sind an unterschiedlichen Bereichen im Gehirn sehr komplex netzwerkartig gespeichert. Je stärker etwas vernetzt ist, desto mehr und desto leichter lässt es sich aktivieren!

Kind Gottes – ein Leben lang

Wichtig ist die Frage, was denn unseren Glauben ausmacht. Ist es das bewusste Denken und Festhalten an Bekenntnissen und Formulierungen? Ist es die Fähigkeit, seinen Glauben im Handeln und Bekennen zu gestalten? Im Zentrum des Evangeliums stehen andere Aussagen: „All denen aber, die ihn aufnahmen und an seinen Namen glaubten, gab er das Recht, Gottes Kinder zu werden“ (Johannes 1,12). Das Besondere an diesem zentralen Wort ist, dass eine Kindschaft nicht aufhören kann. Kinder bleiben ein Leben lang Kinder ihrer Eltern. Selbst wenn sie gestorben sind, sind sie noch immer Kinder ihrer Eltern. Auch dann, wenn sie sich mit den Eltern überworfen haben – was ja tatsächlich vorkommt –, hört dieser Status der Kindschaft nicht auf. Das Gleichnis vom verlorenen Sohn, das Jesus erzählt hat (Lukas 15), scheint genau das sagen zu wollen: Selbst in der größten Distanz bleibt der Sohn doch der Sohn seines Vaters.

Sollte das in einer Krankheit wie einer demenziellen Veränderung anders sein? Kann ein Mensch seinen Glauben und damit seine Erlösung verlieren, weil ihm sein Gehirn nicht mehr ermöglicht, seinen Glauben bewusst und verantwortungsvoll zu leben? Das ist unvorstellbar! Wir sind nicht erlöst, weil oder solange wir eine bestimmte Glaubens- und Bekenntnisstruktur im Kopf haben. Sondern wir bekennen mit dem Apostel Paulus: „Was bin ich doch für ein elender Mensch! Wer wird mich von diesem Leben befreien, das von diesem Körper des Todes beherrscht wird? Gott sei Dank: Jesus Christus, unser Herr! … Also gibt es jetzt für die, die zu Christus Jesus gehören, keine Verurteilung mehr“ (Römer 7,24-25; 8,1). Gottes Geist in uns kann niemals dement werden!

Norbert Rose ist Pastor und berät Demenzkranke und deren Familien.


Dieser Artikel ist in der Zeitschrift FamilyNEXT erschienen. FamilyNEXT gehört wie Jesus.de zum SCM Bundes-Verlag

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6 Kommentare

  1. Gott liebt jede Menschin und jeden Menschen

    Es ist so wie von Norbert Rose dargelegt. Einerseits ist eine Demenz eine schwere Erkrankung, wo wir dann teilweise oder völlig unsere bisherige Persönlichkeit und auch unsere Erinnerungen verlieren. Andererseits geschieht dies bekanntlich in Totalität in einem Koma, oder harmloser auch im Schlaf. Wir bleiben immer ein Geschöpf und Kind Gottes. Die wirkliche Liebe gibt es für Gesunde und Kranke von Gott immer um unsere selbst willen und dann auch voraussetzunglos. Denn Jesus ist ja nicht nur für gute und böse Menschen am Kreuz gestorben, sondern für alle in jeder denkbaren Lebenslage. Im Ewigen Leben werden keine Haltungsnoten vergeben, aber wir können uns IMMER für Gott und damit für die Liebe zu ihm, im Sinne seiner angebotenen Versöhnung auf Golgatha, entscheiden. Das Gleichnis vom Verlorenen Sohn (bzw. der verlorenen Tochter) redet nur davon, dass der Betreffende wieder zurück ins Vaterhaus flüchtet und dort mit Freude aufgenommen wird. Die Geschichte ist einfach erzählt und erhält keine komnplizierten Bedingungen. Es ist – davon bin ich überzeugt – immer eine Rückkehr zu Gott möglich, oder auch die allererste Zuwendung. Ich denke da beispielsweise, eine Demenzkranke könne ja ungläubig gewesen sein. Wie sollte es im Himmel anders sein als auch bei den viel unvollkommeneren Eltern. Wenn sie es wirklich sind, dann bleibt das Kind immer das Kind, immer geliebt auch selbst dann, wenn es etwa nach einer böswilligen von außen erfolgter Betrachtung immer eine völlige Enttäuschung war. Das drückt etwa die Bergpredigt auch aus, nämlich dass die Letzten die Ersten sein werden, dass der (eigentlich gottlose) Samariter barmherzig war. Dem unverdient Geholfenen wurde (wird auch) von Jesus geholfen ohne Abfrage der Religiosität. Denn am Ende des Lebens steht Gott als der Barmherzige und Liebende. Ich glaube durchaus und ohne jede Einschränkung an ein reales Göttliches Gericht. Aber Gottes Gericht am sündigen Menschengeschlecht geschah – gewissermaßen öffentlich und exemplarisch – für jede/n sichtbar auf Golgatha. Gott selbst (in der Person Jesu) antwortete auf die bösartigen Aggression, ihn selbst zu foltern und brutal zu Tode zu bringen, nur mit der völligen Liebe der Erlösung für alle. (Gott richtet also nur mit den Mitteln der Liebe, antike Machthaber allerdings mit den Mitteln des Kopf-ab-schlagens.) Dies heißt nunmehr für uns Christinnen und Christen nicht, selbst mit der billiger Gnade zu hantieren (volkstümlich nicht den lieben Gott einen guten Mann sein lassen). Sondern dann ebenso uns dem Ideal anzunähern, über keinem Menschen endgültig den Stab zu brechen. Selbst dem Kain als Figur im Schöpfungsberichtes, der gemeint ist wie ein erstaunlich zutreffendes antikes Glaubensbekenntnis, wurde auch nicht wegen seinem Mord an Abel hingerichtet. Gott war barmherzig. Ich denke, dass Barmherzigkeit wie auch Liebe – zumindest himmlisch gedacht – nicht unterschiedliche Quantitäten haben wird. Sie ist von Gott her gesehen immer vollkommen und daher auch nicht nach irdischen Maßstäben gestaltet. Wir lieben mal mehr und mal weniger und manchmal empfinden wir auch nichts. Jedenfalls mit Liebe sollen wir nicht sparsam umgehen. Zu lieben geht so weit über ein Gefühl hinaus. Denn Jesus sagte, dass wir aus Dankbarkeit seinen Willen tun werden. Jedenfalls Saulus überzeugte Jesus: Er wurde spontan vom Christenmörder zum Völkerapostel Paulus, als er dem großen Licht vor Damaskus begegnete.

  2. schon allein darüber zu spekulieren ob ein gläubiger Mensch Gottes Gnade verliert wenn er/sie an Demenz leidet und nicht mehr normal denken und reagieren kann , halte ich für ziemlich unsinnig. Jeder erlöste Mensch ob gesund oder Gehirnkrank steht unter der bedingungslosen Liebe Gottes und Heilandes Jesus Christus.

  3. Hallo!
    Was bedeutet im Kapitel „Eine schreckliche Krankheit“ das Wort „Handlungsund“?
    Gruß,
    Peter

    • In dieser Form: nichts. Leider gibt es ab und zu Probleme beim Import der Daten. In diesem Fall wurde der Trennstrich samt Leerzeichen nicht importiert. Es sollte heißen: „Handlungs- und Verhaltensmustern.“ Entschuldigung! MfG, das JDE-Team

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