Sinnerfüllte Menschen sind hoffnungsvoll und optimistisch – und dadurch resilient, glauben Experten. Der schwerkranke Torsten hat das genau so erlebt.
Von Pastorin Luitgardis Parasie
Im ersten Teil von „Sinn toppt Glück“ ging es um Torsten – einen schwerkranken Mann, der durch zwei prägende Begegungen wieder Sinn im Leben fand. Im zweiten Teil geht es um Resilienz, den Sinn im Leben und Sternstunden.
Torsten hat keine Antwort darauf bekommen, warum er so krank geworden ist. Aber er hat einen Sinn gefunden. Im erneuerten Glauben an Gott. In der Gewissheit: Gott sieht mich, ich bin ihm so wichtig, dass er persönlich Kontakt zu mir aufnimmt. Ich kann mit ihm reden, er ist für mich da.
Lange Zeit ging es in der Psychotherapie um Glück, nicht um Sinn. Glücksforschung war angesagt, und auf Kongressen präsentierten Vortragende ihre Erkenntnisse. Für Sinn dagegen fühlte man sich nicht zuständig, der gehöre ins Gebiet der Religion, hieß es. Mittlerweile hat sich das komplett verändert. Der Sinn ist in der Psychotherapie angekommen. Und er ist ein fundamentaler Baustein für Resilienz. Gerade in Krisen fragen Menschen häufig: Wofür lebe ich eigentlich? Wer interessiert sich für mich?
Die Innsbrucker Professorin Tatjana Schnell hat ein Buch geschrieben mit dem Titel: „Psychologie des Lebenssinns“. Gedanken wie „Woher komme ich?“, „Wozu bin ich hier?“, „Wohin gehe ich?“ seien für viele Menschen zentral, meint sie. Sie fand 26 verschiedene Wege zum Sinn. Ganz oben bei den Top Ten: Etwas von bleibendem Wert tun. An zweiter Stelle: Etwas für andere Menschen tun. Und an dritter Stelle: Religiosität. Der Glaube an Gott spielt dabei eine wichtige Rolle.
Tatjana Schnell hat diese Erkenntnis ganz praktisch umgesetzt. Sie entwarf mit einem Kollegen Karten: 26 Vorschläge, um Sinn zu finden. Der Klient soll sich die fünf Karten heraussuchen, die für ihn oder sie am passendsten scheinen. Nr. 1 lautet zum Beispiel: „In meinem Leben sind Religion und Glaube ein wichtiger Bestandteil.“ Nr. 24: „Es bedeutet mir sehr viel, für andere da zu sein und mich um sie zu kümmern. Ich helfe, wenn man mich braucht.“ Diese Impulse sind ein guter Einstieg, um über Sinn ins Gespräch zu kommen.
Sinnerfüllte Menschen sind hoffnungsvoll und optimistisch, meint Tatjana Schnell. Und dadurch resilient. Sterben und Tod können sie besser akzeptieren. Sie ordnen das, was sie erleben, in einen größeren Zusammenhang ein. Auch Ereignisse, die andere einfach als Zufall ansehen. Sinn ist mehr als Glück. Er stellt mein Leben unter einen weiten Horizont. Sinn ist Glück mit Aussicht.
Etwas für andere tun
Der zweite Baustein für Resilienz bei Torsten: Er hat angefangen, etwas für andere zu tun. Wenn er über seine Arbeit bei den ‚Grünen Damen und Herren‘ spricht, strahlt er. Er erlebt sich als hoch selbstwirksam, hat immer neue Ideen, und er bekommt ganz viel zurück. Das macht ihn glücklich – und resilient.
Resilienz
Resilienz wird häufig mit Widerstandskraft erklärt, aber das trifft es noch nicht ganz. Es ist eher wie das Verhalten von gesunden Bäumen: Sie sind fest verwurzelt in der Erde. Aber sie sind auch flexibel. Im Wind biegen sie sich und zerbrechen nicht. Sie haben einen festen Standpunkt und reagieren zugleich gut angepasst auf die jeweilige Situation
Luitgardis Parasie
Der Neurobiologe Joachim Bauer ist überzeugt: Der Mensch ist für ein sinnerfülltes, soziales Leben bestimmt. Das schreibt er in seinem Buch „Das empathische Gen“. Wichtig sei, wie wir unsere Gene benutzen. Es ist wie beim Klavier spielen. Wir entscheiden, welche Stücke wir spielen und welche Tasten dabei gedrückt werden. So werden auch die Gene durch unsere Entscheidungen gesteuert. Der Mensch hat etwa 23.000 Gene. Die meisten davon können wir selbst beeinflussen. Wenn Menschen sozial sind und anderen Gutes tun, dann sind ihre Risikogene weniger aktiv. Das Gebot „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ zu befolgen ist also gesund! Nächstenliebe praktizieren, Mitgefühl zeigen, das macht glücklich und zufrieden. Wer dagegen vorwiegend an sich selbst denkt, wird leichter krank.
2020 fanden amerikanische Forscher heraus: Wer sich zwei Stunden pro Woche ehrenamtlich engagiert, ist gesünder, fühlt sich zufriedener und findet sein Dasein sinnvoller als Menschen, die sich nicht ehrenamtlich einsetzen. Sogar das Sterberisiko ist um 40 Prozent reduziert.
An Sternstunden denken
Mit leuchtenden Augen erzählt Torsten, wie er Gott nähergekommen ist. „Vergiss nicht, was Gott dir Gutes getan hat“, heißt es in Psalm 103. Das Schlechte nämlich merken wir uns sowieso, und manchmal gießen und düngen wir es sogar noch sorgfältig. Aber sich an das Gute erinnern, kleine und große Sternstunden im Alltag, das muss man richtig üben. Dann macht es gute Laune und stärkt unsere Resilienz. Denn was einmal gut gelungen ist, warum sollte Ähnliches nicht auch künftig klappen? Die Tools, die wir einmal erfolgreich angewendet haben, die können wir doch auch in Zukunft nutzen.
Tobias war zu Besuch. Er ist der Mann unserer Nichte Juliane, die beiden haben vier Töchter. Wir arbeiteten gerade an unserem Buch „Sternstunden im Alltag“. „Sternstunden, da klingelt’s sofort bei mir“, sagte Tobias. „Dazu haben wir ein Ritual in der Familie. Wir schneiden Sterne aus, und dann setzen wir uns zusammen und jede schreibt ihre Sternstunden auf. Danach lesen wir sie uns vor. Ihr solltet mal sehen, wie die Gesichter strahlen. Das macht richtig glücklich.“ – Was sie so aufschreiben, wollte ich wissen. „Zum Beispiel: Zelten mit einer befreundeten Familie an einem Wochenende. Wandern in den Alpen und übernachten in einer Hütte, wir alle zusammen. Ein Winterpicknick im Wald. Der erste Kindergartentag von unserer Tochter Frieda. Eine Nacht in der Backstube helfen, bei einem befreundeten Bäcker. – Jedes Jahr an Silvester lesen wir noch mal alle Sternstunden vor. Wir werden dann so dankbar. Und es gibt uns ganz viel Zuversicht für das neue Jahr.“ Ich glaube, um die Resilienz dieser Familie muss man sich keine Sorgen machen.
„Unerwartetes beim Schopfe packen und etwas daraus machen, das trägt erheblich zur Resilienz bei.“
Das Unerwartete nutzen
Torsten nutzt, was ihm vor die Füße fällt. Durch die Besuche im Krankenhaus lernt er viele Menschen kennen. Eine alte Patientin lud ihn zum Kaffee ins Altersheim ein. Er ging hin. Beim nächsten Besuch waren noch mehrere Mitbewohnerinnen dabei. Inzwischen geht Torsten regelmäßig ins Altersheim und spielt mit den Damen Karten. Sie füttern ihn hingebungsvoll mit Kaffee und Kuchen und sind glücklich. Er auch. Er hat seinen Aufgabenbereich und sein soziales Netz erweitert. Und gibt demnächst Handykurse. Wer weiß, was sich dann wieder daraus entwickelt. „Trainiere, das positiv Unerwartete zu sehen“, empfiehlt Christian Busch, Professor an der New York University. Nutze es, mach etwas draus. Nimm das, was dir über den Weg läuft. Der klassische Einstieg bei Schnulzenfilmen: Ein Mann rennt einer Frau vors Fahrrad, sie kann nicht mehr ausweichen, und er geht zu Boden. Es gibt nun zwei Möglichkeiten zu reagieren:
Version A: Du hilfst ihm auf und bittest um Entschuldigung. Er sagt, alles ok, nicht so schlimm. Du hast das Gefühl: Irgendwie ein netter Typ. Aber ihr verabschiedet euch und beide gehen ihrer Wege. Hinterher denkst du: Was wäre passiert, wenn ich mit ihm ins Gespräch gekommen wäre? Und ärgerst dich über eine womöglich verpasste Gelegenheit, deinen Traummann zu finden.
Version B: Du hilfst ihm auf, ihr stellt fest, er ist nicht verletzt, du sagst: „Kann ich Sie zur Entschädigung auf einen Kaffee einladen?“ Oder: „Geben Sie mir ihr Jackett, ich lass es reinigen und bring es Ihnen dann wieder.“ Du stellst also einen Kontakt her, und vielleicht entwickelt sich etwas daraus und du lernst deine große Liebe kennen.
In Schnulzenfilmen weiß die Zuschauerin natürlich von Anfang an: Was mit dem Missgeschick begann, wird mit der Hochzeit enden. Aber wieso sollte das nicht auch in der Realität funktionieren? Unerwartetes beim Schopfe packen und etwas daraus machen, das trägt erheblich zur Resilienz bei. Die gute Nachricht ist: Je mehr wir es üben, desto mehr wird unser Gehirn darin trainiert. Und das lohnt sich. Wir lernen neue Menschen kennen, kommen auf andere Ideen, neue Möglichkeiten eröffnen sich.
Sport treiben
Torsten treibt inzwischen regelmäßig Sport: Er fährt viel Fahrrad und geht zur Herzsportgruppe. Sport hebt die Stimmung, er stärkt den Körper und damit unsere Resilienz. Schon die Römer wussten: „Mens sana in corpore sano.“ – „Ein gesunder Geist wohnt in einem gesunden Körper.“
Eine aktuelle Studie kam zu dem Ergebnis: Wer seine tägliche Schrittzahl um 1.000 erhöht, dessen Sterberisiko sinkt um 15 Prozent. Menschen, die regelmäßig sportlich unterwegs sind, deren Ruhepuls sinkt innerhalb eines Jahres um etwa 10 Prozent. Das Herz arbeitet dann effektiver und der Blutdruck wird gesenkt. Die Abwehrkräfte werden gefördert. Das Vertrauen in den eigenen Körper wächst und damit auch das Selbstwertgefühl. Schon nach 30 Minuten Joggen werden sogenannte Glückhormone freigesetzt. Diese Endorphine, so vermutet man, bewirken ein natürliches Hochgefühl und machen fröhlich.
„Was stärkt die Resilienz angesichts von Leid und Tod? Torsten ist sich bewusst, dass sein Leben enden wird. Er hat Frieden mit Gott geschlossen.“
Was stärkt die Resilienz angesichts von Leid und Tod? Torsten ist sich bewusst, dass sein Leben enden wird. Er hat Frieden mit Gott geschlossen. Und hofft auf ein Leben nach dem Tod. Vielen hilft es, sich bewusst damit abzufinden: ‚Mein Leben ist endlich, ich werde bald sterben‘. Sie regeln ihre Angelegenheiten, verabschieden sich von Angehörigen und Freunden. Meine Patentante, mit Anfang 50 unheilbar an Krebs erkrankt, schrieb den Entwurf für ihre Todesanzeige selber und alle Lieder sowie den Bibelvers für ihre Beerdigung: „Ich weiß, dass mein Erlöser lebt.“ Sie hatte viel Schweres erlebt und war trotzdem einer der resilientesten und zuversichtlichsten Menschen, die ich kenne.
Nie vergessen werde ich das Interview in der ARD, das Anke Engelke auf einer Kinderkrebsstation mit dem 11-jährigen Tobi führte. Er würde bald an Leukämie sterben. „Warum heulst du nicht?“, fragt sie, und der Junge antwortet: „Man muss einfach alles positiv sehen.“ Engelke: „Dass du nicht mehr weiterleben darfst, kann ich nicht positiv sehen.“ Tobi konstatiert nüchtern: „Für manche ist das Leben eben schneller vorbei, für andere nicht.“
Mich hat’s umgehauen. Ein 11-jähriges Kind! Tobis Mutter, befragt, wie sie mit dem bevorstehenden Tod ihres Sohnes umgeht, sagt: „Wir bringen ihn friedlich in den Himmel, das ist der neue Plan. Wir schaffen uns bewusst schöne Momente.“
„Wir bringen ihn friedlich in den Himmel.“ Es gibt ein Leben jenseits unserer irdischen Grenzen. Im Himmel, bei Gott. Diese Hoffnung gibt Tobis Mutter Halt. Sie stärkt auch Torstens Resilienz. Er glaubt: „Was nach dem Tod auf mich wartet, ist sehr schön.“
Luitgardis Parasie ist Pastorin der hannoverschen Landeskirche und systemische Beraterin. Zusammen mit ihrem Mann, dem Allgemeinmediziner und Arzt für Psychotherapie Dr. Jost Wetter-Parasie, hat sie mehrere Bücher zu Lebenshilfethemen geschrieben.
Niemand kann mich aus der Hand Gottes entfernen
„Lange Zeit ging es in der Psychotherapie um Glück, nicht um Sinn. Glücksforschung war angesagt, und auf Kongressen präsentierten Vortragende ihre Erkenntnisse. Für Sinn dagegen fühlte man sich nicht zuständig, der gehöre ins Gebiet der Religion, hieß es. Mittlerweile hat sich das komplett verändert. Der Sinn ist in der Psychotherapie angekommen. Und er ist ein fundamentaler Baustein für Resilienz. Gerade in Krisen fragen Menschen häufig: Wofür lebe ich eigentlich? Wer interessiert sich für mich“?
Es geht wirklich immer um den Sinn des Lebens, oder auf welches Fundament ich mein Lebenshaus auf Erden baue. Schon vor 30 Jahren sagte uns ein Supervisor auf einer Tagung, es sei schon wesentlich, ob das Leben auf einem Fundament stehe. Sich also wirklich für einen Glauben bzw. ein Vertrauen in Gott zu entscheiden – oder auch nicht. Dazwischenhängen empfehle er aus eigener Erfahrung überhaupt nicht. Resilient zu sein verstehe ich auch, mein eigenes (Ur-)Vertrauen aus der Zuverlässigkeit Gottes zu gewinnen. Es gibt keine Macht auf Erden und im Universum, die uns aus der Hand Gottes reißen oder entfernen kann. Niemals kann ich ins Bodenlose, sondern nur in die geöffnete Hand Gottes fallen. Ich kann mich in diesem Zusammenhang ebenso an eine Vertrauensübung erinnern, als wir mit verbundenen Augen auf einer hohen Kiste standen und uns fallen ließen, sodann aber unten von den Mitmenschen aufgefangen wurden. Selbst hier Vertrauen zu erhalten – oder anderen Menschen zu vertrauen – lässt sich – auch bei allen menschlichen Mängeln – vom Urvertrauen auf Gott ableiten.