Jesus wuchs in einem Land vieler Kulturen auf und verwendete mehrere Sprachen in seinem Alltag – aramäisch und griechisch gehörten auch dazu.
Von Ulrich Wendel
Als unsere Tochter in die fünfte Klasse kam, standen wir vor der Wahl: Mit welcher Fremdsprache sollte sie beginnen? Darüber hinaus wurde auch noch angeboten, in Erdkunde zweisprachigen Unterricht zu bekommen, auf Deutsch und Englisch. Uns erschien das sehr sinnvoll: in einer Welt, in der unser Horizont immer weiter und internationaler wird, so früh wie möglich „bilingual“ geprägt zu werden. Die Zeit Jesu war in dieser Hinsicht gar nicht so sehr anders als unsere Zeit. Jesus wuchs in einer mehrsprachigen Umgebung auf. Das Land Israel war Treffpunkt vieler Kulturen. Es passierte fast von selbst, dass ein junger Jude damals mehrsprachig war. Jesus war da keine Ausnahme. Jesus’ Sprachen anzuschauen heißt zugleich: einen Eindruck von seinem weiten kulturellen Horizont zu bekommen. Wichtige Umgangssprache damals war Aramäisch. In dieser Sprache fand der Alltag statt. Was Jesus gesagt hat, ist uns heute zwar in Griechisch überliefert, aber das ist eine nachträgliche Umsetzung seiner aramäischen Worte. Doch selbst durch diese sekundäre Sprach-Schicht hindurch sind noch original aramäische Ausdrücke erkennbar. „Talita kumi“ („Mädchen, steh auf!“) oder „Boanerges“ („Donnersöhne“) – diese aramäischen Ausdrücke stehen genau so im Neuen Testament. Tief in die Umgangssprache des Alltags gelangen wir mit dem von Jesus zitierten Schimpfwort „raka“ („Hohlkopf“ oder „Blödmann“). Auch mit dieser Sprachebene kannte Jesus sich aus.
„Es ist kein Zufall, dass Jesus’ Gleichnisse in der Arbeitswelt von Fischern, Hausfrauen und Familien spielen. Die semitischen Sprachen sind wie geschaffen für diese ganz konkrete Welt.“
Ulrich Wendel
Wie Sprache prägt
Von seiner Muttersprache her hat Jesus, wie jeder jüdische Mensch damals, eine sehr besondere Prägung erhalten. Diese Sprache ist, wie überhaupt die semitischen Sprachen, ganz urwüchsig.
Sie kennt nicht so viele Nuancen und Feinheiten – vor allem aber: Sie ist kaum fähig zur Abstraktion. Alles ist konkret und gegenständlich. Die wichtigsten Eigenschaftswörter sind keine „geistigen“, sondern elementare: groß, klein, schwer, weise … „Eine Sprache ohne alle gekünstelten Spitzfindigkeiten ist das“, schreibt Robert Aron in seinem Buch über die prägenden Jugendjahre von Jesus. Sie ist „ganz herausgewachsen aus ursprünglichem, gläubigen Denken! Zwei Kategorien von Menschen, den Philosophen und den Technikern, wird man sie allerdings nie zuweisen. Sie könnten sie für ihre Dialektik und Geometrie nicht gebrauchen.“ Nun war Jesus zwar auch Techniker, nämlich Zimmermann, Bauhandwerker. Aber das eben auf handgreifliche Weise, nicht theoretisch. Es ist kein Zufall, dass Jesus’ Gleichnisse in der Arbeitswelt von Fischern, Hausfrauen und Familien spielen. Die semitischen Sprachen sind wie geschaffen für diese ganz konkrete Welt. In einem Punkt aber wurde Jesus nicht nur von dieser Sprache geprägt, sondern er hat sie geprägt. Das bekannteste aramäische Wort von ihm ist „abba“ – „lieber Vater“ oder „Papa“. Für Jesus ein Gebets-Wort. Das war damals ein ganz ungewöhnlicher Schritt, Gott mit diesem Wort anzureden; es gehörte sonst fast ausschließlich in den Bereich der (irdischen) Familie. Jesus versetzte dieses Wort nun ins Gebet. Er wollte, dass man seinen Vater so sah: im tiefsten Alltag anwesend. Die zweite Sprache war für Jesus natürlich dann Hebräisch. Das lernte er in der Schule. Das hörte er dreimal in der Woche beim Besuch der Synagoge, wenn aus der Schrift vorgetragen wurde. Mehrere Synagogen in Galiläa hatten über dem Eingang eine Inschrift mit einem Segenswunsch – auf Hebräisch. In dieser Sprache wurde er trainiert, damit er bald selbst Tora, Propheten und Schriften vorlesen konnte. Dass er es konnte, steht fest: Von seiner Lesung in der Synagoge in Nazareth wird berichtet (Lukas 4,18- 21). Auch außerhalb der Synagoge war Hebräisch im Alltag gegenwärtig, beispielsweise in vielen Personennamen: Johannes (Jochanan), Maria (Marjam), Jakob (Ja’akov), Salome (Schalom). Man weiß von hebräisch abgefassten Lohnverzeichnissen und Einkaufszetteln. Als Jesus zu einem Taubstummen rief: „Effata!“ („Öffne dich!“), benutzte er Hebräisch im Alltag. Und der konkrete und „irdische“ Sprachcharakter, der für das Aramäische gilt, trifft natürlich genauso für die hebräische Sprache zu.
„Jesus hat auch in seiner Verkündigung gelegentlich das Griechische benutzt. Es wird deutlich: Jesus war in keiner Weise provinziell. Er hatte einen weiten kulturellen Horizont.“
Ulrich Wendel
Jesus sprach auch griechisch
Vielleicht klingt es überraschend, dass Jesus wohl außerdem als Drittes auch Griechisch konnte. Das ist sehr wahrscheinlich. Galiläa war stärker griechischer beeinflusst als die Gegend von Jerusalem. Als Bauhandwerker war Jesus darauf eingestellt, zu den Baustellen durchs Land zu reisen. Besonders Sepphoris, etwa sechs Kilometer von Nazareth entfernt, war einerseits von griechischer Kultur geprägt und hatte anderseits zahlreiche Baustellen – ein ergiebiger Arbeitsplatz für Bauhandwerker. Die Synagoge dort trug auch eine griechische Inschrift. Noch einige Jahrhunderte nach Jesus entstanden in dieser Synagoge wie auch in der von Tiberias Mosaike, die zweisprachig beschriftet waren: hebräisch und griechisch. Die Kultur damals war so durchmischt, dass selbst in ein und derselben Familie hebräische und griechische Vornamen vorkamen. Simon ist ein hebräischer Name; der seines Bruders Andreas ist griechisch. Auch andere Jünger von Jesus trugen griechische Namen: Philippus, Thaddäus. In den Berichten der Evangelien treffen wir Jesus mehrfach in Gesprächen an, die auf Griechisch geführt sein mussten: mit einer Frau aus dem syrisch-phönizischen Küstenstreifen, mit Pilatus. Ein Ausleger macht darauf aufmerksam, dass das Wort für „Heuchler“, das Jesus mehrfach gebrauchte, keine Entsprechung im Aramäischen oder Hebräischen hatte, und schließt daraus: Jesus hat auch in seiner Verkündigung gelegentlich das Griechische benutzt. Es wird deutlich: Jesus war in keiner Weise provinziell. Er hatte einen weiten kulturellen Horizont. Zwar ist kein geschriebenes Wort von ihm überliefert. Nie hat er in philosophischer Weise debattiert. Aber gebildet war er sehr wohl!
Pharisäisch, rabbinisch, haptisch
Um sich verständigen zu können, braucht es nun mehr als dieselbe Sprache. Man kann auch innerhalb seiner Muttersprache prächtig aneinander vorbei reden. Damit es zu echtem Verstehen kommt, muss man sich einfühlen können; sich in der Denk- und Lebenswelt des Gesprächspartners auskennen. In dieser Hinsicht war Jesus ein außerordentliches „Sprach“-Talent – ein Multisprachler ohnegleichen. Eine Fülle von „Lebens-Dialekten“ war ihm vertraut. So diskutierte er zum Beispiel mit Pharisäern auf Augenhöhe. In der Debatte über das Gebot, die Eltern zu ehren, kannte Jesus exakt die Detailregelungen, die die Pharisäer entwickelt haben, und auch den Fachausdruck „korban“ (Markus 7,9-13). Jesus muss sich intensiv mit dieser Denkweise beschäftigt haben. Auch die rabbinische Gesetzesauslegung hat er sich erarbeitet und teilweise zu eigen gemacht. Ein wichtiges Thema im Talmud ist die Reinheit von Gefäßen. Von Behältern aus Ton wird festgestellt: Sie werden unrein, wenn sie mit unreinem Inhalt befüllt wurden. Von außen aber können sie keine Unreinheit annehmen (Mischna Kelim 11,1). Genau diesen Grundsatz greift Jesus auf – und wendet ihn dann auf Menschen an (Markus 7,15- 23). Das entspricht übrigens ganz dem hebräischen Sprachgefühl, das den Menschen durchaus mit einem Tongefäß vergleichen kann. Mit anderen Worten: Das „Rabbinische“ ist Jesus geläufig und er benutzt es für seine Verkündigung. Weitaus berührender, im wahrsten Sinn des Wortes, ist es, wenn Jesus gar keine Worte mehr benutzt, sondern durch körperliche Berührung spricht. Indem er die unberührbaren Aussätzigen anfasste, „sagte“ er ihnen: Ihr seid nicht außerhalb von Gottes Gemeinschaft. Indem er einem Blinden einen Brei aus Staub und Spucke auf die Augen strich, ließ er ihn mit seinen Augen „lesen“, was Gott für ihn bereit hatte. Zu einem Taubstummen sprach er, indem er seine Finger in dessen Ohren tat und seine Zunge mit Speichel benetzte. Die Lehre von der Wahrnehmung durch Berührung heißt „Haptik“. Von daher: Jesus sprach auch „Haptisch“.
Wenn Schweigen Gold ist
Für einen Prediger ist Reden Silber und Gold zugleich. Und doch gibt es Momente, wo Schweigen Gold ist – auch bei Jesus. Die Sprache des Schweigens setzte er sehr gezielt ein und sie steckte voller Botschaft. Als er in der Synagoge von Nazareth aus dem Propheten Jesaja vorlas, da hörte er mitten im Prophetenwort auf. „Dass die Zeit der Gnade des Herrn gekommen ist“ – bis dahin führte er seine Lesung. Der Originaltext ging noch weiter: „… und ein Tag der Rache unseres Gottes.“ Diesen strafenden Gott „ver-schwieg“ Jesus hier. Hier. Nicht generell in seiner Predigt, aber zu Anfang seines Wirkens doch bewusst. Und man verstand die Botschaft: „Alle staunten über die Botschaft von Gottes rettender Gnade“ (Lukas 4,22). Ja, jetzt war die Zeit der Gnade – ein Innehalten des Lesenden, ein Schweigen zur passenden Zeit „sagte“ das. Andeuten kann man schließlich noch die Männer- und Frauen-Sprache von Jesus. Während manche heute größten Wert auf geschlechtsneutrale Sprache legen, machte Jesus es umgekehrt. Gerade nicht „neutral“, sondern bewusst doppelt sprach er, zu Frauen und Männern, zu jedem in seine Lebenswelt. Das Gleichnis vom Hirten, der sein Schaf sucht, kommt aus der Männerwelt, das von der Frau und der verlorenen Münze aus dem weiblichen Alltag. Eine lange Reihe von weiteren Beispielen für diese doppelte Denkweise Jesus’ gibt es: den bittenden Freund und die bittende Witwe. Die Vögel, die nicht säen und ernten (also landwirtschaftlich arbeiten) und die Lilien, die nicht spinnen (Textilarbeit verrichten). Die Frauen, die am Mühlstein sitzen und die Feldarbeiter während der Aussaat – und für beide kommt der Messias plötzlich. Jesus, der Multisprachler. Ein einfühlsamer Seelsorger, sprachschöpferisch. Ein kompetentes Gegenüber, gleichermaßen vertraut mit Fachausdrücken wie mit Kraftausdrücken. Heute könnte Jesus sich in der Volkshochschule genauso gut verständigen wie auf der Baustelle. Heute … Sollte Jesus heute seine Sprachkompetenz verloren haben? Undenkbar. Zahllose Glaubende haben erlebt, wie Christus Worte und Gesten fand, die ihre Seele berührten. Wie er die unverwechselbare Sprache ihres Herzens sprach. Für mich persönlich gehört das zu den tiefsten Beweggründen, ihm zu vertrauen. Der Multisprachler Jesus – er ist geschichtlich höchst interessant. Wer an den Auferstandenen glaubt, für den ist Jesus sprach- und herzenskundig wie ehedem.
Dr. Ulrich Wendel ist Chefredakteur von Faszination Bibel, Herausgeber verschiedener Bibelausgaben und Mitherausgeber des Lexikons zur Bibel.
Dieser Artikel ist in der Zeitschrift Faszination Bibel erschienen. Faszination Bibel wird vom SCM Bundes-Verlag herausgegeben, zu dem auch Jesus.de gehört.
Danke für den tollen Artikel, bitte mehr davon!
Dringend:
Erbitte Korrektur
Sehr geehrter Herr Wendel,
vielen Dank für diesen Artikel. Das sind für mich wertvolle Hinweise, dass Jesus griechisch gesprochen haben könnte.
Im Artikel steht momentan:
Ein Ausleger macht darauf aufmerksam, dass das Wort für „Heuchler“, das Jesus mehrfach gebrauchte, keine Entsprechung im Aramäischen oder Griechischen hatte, und schließt daraus: Jesus hat auch in seiner Verkündigung gelegentlich das Griechische benutzt.
Gemeint ist, vermute ich:
Ein Ausleger macht darauf aufmerksam, dass das Wort für „Heuchler“, das Jesus mehrfach gebrauchte, keine Entsprechung im Aramäischen oder Hebräischen hatte, und schließt daraus: Jesus hat auch in seiner Verkündigung gelegentlich das Griechische benutzt.
LG
Jens Langenbach
Ulrich Wendel und die Redaktion danken für den Hinweis, der Fehler
wurde korrigiert.