Ein mutmaßlich fünf Jahre alter, hilfloser jüdischer Junge. Abgegeben in einem Kinderheim in Bila Zerkwa in der Ukraine. Schemenhafte Erinnerungen an eine Flucht aus dem von Nazideutschland besetzten Polen, die vorerst keine belastbaren Rückschlüsse auf seine Identität zulassen. So beginnt Mitka Kalinskis Geschichte.
Hitlers Vasallen beginnen mit der ethnischen Säuberung in der Ukraine und erhalten den Befehl, die jüdischen Kinder im Schulgebäude von Bila Zerkwa zu exekutieren. Mitka flieht und ist tage- und nächtelang unterwegs. Wird aufgegriffen von einem Militärkonvoi, deren Lastwagen voller Erwachsener sind, welche hingerichtet werden. Die Leichen bedecken Mitka, das einzige Kind. Er stellt sich tot und überlebt. Das Grauen jedoch geht weiter. Erneut läuft er den Mordgesellen Hitlerdeutschlands in die Arme. Die Schilderungen des damals ca. Sechs- bis Siebenjährigen aus seinen Erinnerungen vom Transport im Viehwaggon bis zum Aufenthalt in den Konzentrationslagern Auschwitz-Birkenau, Buchenwald, Dachau und Pfaffenwald lassen fassungslos verstummen im Angesicht der Grausamkeiten, zu denen Menschen fähig sind. Die Bestialität und Brutalität sind unbeschreiblich. Ein Kind blickt in den Abgrund der Hölle. Mitka überlebt alle vier Konzentrationslager. Eine lokale Nazigröße rettet ihm das Leben und benutzt ihn als Kindersklaven auf seinem Bauernhof.
Der sich nach dem Krieg den Alliierten als Wohltäter und Retter darstellende Nazi und dessen Verwandtschaft behandeln den kleinen Menschen schlechter als ihr Vieh. Ein winziges Zimmer mit einem vergitterten Fenster, ein Strohsack auf einer Holzpritsche, eine Pferdedecke. Das ist bis Kriegsende Mitkas Quartier. Weiterhin trägt er nur Lumpen als Kleidung, Unterwäsche besitzt er keine. Von Morgen bis Abend schuftet er. Um seinen ständigen Hunger zu bändigen, bedient er sich vor dem Füttern des Viehs am Schweinefutter. Schläge und Demütigungen der übelsten Art begleiten seinen Alltag. Man beraubt ihn seiner kläglichen Lebensgeschichte vollständig, indem man ihm den Namen Martin verpasst. Eines Tages hört er eine Stimme: „Am Ende findest du dein Ziel.“. Soviel zum kaum zu ertragenden Einstieg.
Mitka, das Kind im KZ, der Kindersklave, der lebenslange Analphabet ohne Schulbildung, der akribische Arbeiter und Autodidakt mutiert im Laufe seines weiteren Lebens in Amerika zu einem Bild von einem anpackenden Mann, in dessen Seele der siebenjährige Knirps sitzt, der sein Trauma tief in seinem Innern versteckt. Ob während der Verwirklichung des amerikanischen Traumes, seiner Ehe, seines Vaterseins – drei Jahrzehnte verheimlicht Mitka, sich nun Tim nennend, seine Geschichte, bevor er seiner Frau die traumatische Last nach quälenden Flashbacks offenbart und sie sich gemeinsam auf die Suche nach seiner Identität machen, um die seelischen Wunden zu verarbeiten.
Den Leser erwartet der Rückblick auf einen heldenhaften Überlebenskämpfer, die Geschichte einer großen Liebe, das Entstehen und Werden einer beeindruckenden Familie, die Metamorphose vom Niemand zu einem verantwortungsvollen Ehemann und Vater, der allen Widrigkeiten und Schicksalsschlägen trotzt. Spannend geschrieben, großartig recherchiert, authentisch geschildert, ungeschönt und fesselnd erzählt. Ein von gegen das Vergessen kämpfenden Autoren auf den Weg gebrachtes Manifest, nicht müde zu werden, dem Bösen Paroli zu bieten und den Anfängen zu wehren.
Am Schluss steht zwar kein uneingeschränktes Happy End, doch es geschieht, was Mitka von einer Stimme vorausgesagt bekam: „Am Ende findest du dein Ziel.“ Kein explizit christliches Buch, doch ein beeindruckendes Plädoyer für Liebe, Mut, Lebensbejahung, den Wert der Familie und Hartnäckigkeit. Eine Biografie einer Menschwerdung nach einer Odyssee, die ihresgleichen sucht.
Von Hans-Georg Wigge