- Werbung -

75 Jahre „Darmstädter Wort“: Kirchliche Selbstkritik mit fadem Beigeschmack

Mit dem „Darmstädter Wort“ benannten Theologen vor 75 Jahren Irrwege der evangelischen Kirche in den Nationalsozialismus. Zum Mord an den Juden findet sich darin aber kein Wort.

Von Jens Bayer-Gimm (epd)

- Werbung -

Es würde auch heute als Provokation gelten, ist sich der Osnabrücker Theologieprofessor Andreas Pangritz sicher. Am 8. August 1947 veröffentlichte ein Teil des „Bruderrats“ der evangelischen Kirche das „Darmstädter Wort“. Anders als das allgemein gehaltene Stuttgarter Schuldbekenntnis vom 19. Oktober 1945 benannte das noch existierende Leitungsorgan der NS-oppositionellen Bekennenden Kirche konkrete „Irrwege“ der evangelischen Kirche. Die schonungslose Selbstkritik erntete Entrüstung des Rates der neu gegründeten Evangelischen Kirche in Deutschland und von nicht anwesenden Mitgliedern des Bruderrats.

„Wir sind in die Irre gegangen, als wir begannen, eine ‚christliche Front‘ aufzurichten gegenüber notwendig gewordenen Neuordnungen im gesellschaftlichen Leben der Menschen“, geißelt das „Darmstädter Wort“ den Konservatismus der evangelischen Kirche, ihre Obrigkeitshörigkeit und ihre Ablehnung des Sozialismus. „Wir haben das Recht zur Revolution verneint, aber die Entwicklung zur absoluten Diktatur geduldet und gutgeheißen.“ Die Erklärung attackiert die Duldung und Förderung des Nationalismus und des Militarismus sowie die Feindschaft gegenüber dem Marxismus. Die wichtigsten Autoren waren die evangelischen Theologen Hans-Joachim Iwand (1899-1960) und Karl Barth (1886-1968).

„Wir sind in die Irre gegangen“

Die Aussagen sind nach Pangritz keineswegs Geschichte. „Die größte Brisanz und Aktualität“ komme vor dem Hintergrund des Krieges Russlands gegen die Ukraine der grundsätzlichen These vier zu: „Wir sind in die Irre gegangen, als wir meinten, eine Front der Guten gegen die Bösen, des Lichts gegen die Finsternis, der Gerechten gegen die Ungerechten im politischen Leben … bilden zu müssen.“ Zu schnell werde das Gut-und-Böse-Schema des Kalten Krieges, das Schlagwort von der „Gefahr aus dem Osten“ der Nachkriegszeit, wieder aktiviert, kritisiert der Theologe.

- Weiterlesen nach der Werbung -

Die Vizepräsidentin des Hessischen Landtags, Heike Hofmann (SPD), findet die Erklärung auch für Politikerinnen und Politiker fruchtbar. „Die Politik sollte selbstkritischer werden mit eigenen Irrwegen und diese mutiger eingestehen“, sagt Hofmann, die berufenes Mitglied der hessen-nassauischen Kirchensynode ist. Die Abgeordnete sieht auch Impulse hinsichtlich des Kriegs in der Ukraine: Deutschland müsse dem angegriffenen Land Waffen zur Selbstverteidigung liefern, aber dennoch mit Russland im Dialog bleiben.

„Krasses Versäumnis“

Ein krasses Versäumnis der Erklärung benennt die Generalsekretärin des Deutschen Koordinierungsrates der Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit, Ilona Klemens: Die Verfasser seien „durch ihr Verschweigen des längsten und verhängnisvollsten Irrwegs selbst in die Irre gegangen“. Die Theologin meint den christlichen Antisemitismus. Es wäre an der Zeit, „eine Art ‚Darmstädter Wort 2.0‘ zu verfassen“, fordert Klemens. Der Kampf gegen Antisemitismus und Rassismus werde wichtiger.

Die unbequeme Erklärung von 1947 geriet in der evangelischen Kirche in Westdeutschland bald in Vergessenheit. „Das Darmstädter Wort war tabu“, erklärt der Theologe Pangritz. Erst ein linksprotestantischer Basiskongress habe die Erklärung 30 Jahre später wiederentdeckt. An der „Versammlung europäischer Christen“ 1977 in Darmstadt habe auch der Mitautor und ehemalige Kirchenpräsident der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN), Martin Niemöller (1892-1984), teilgenommen. „In den Kirchengremien hatte dies wenig Nachwirkung“, findet Pangritz. Im Kirchenbund in Ostdeutschland habe die Erklärung mit ihrem Anknüpfungspunkt am Marxismus hingegen eine gewisse Resonanz gehabt.

Nichts mehr verpassen – mit unserem
BLICKPUNKT-Newsletter
täglich von Montag – Freitag

- Werbung -

Wie wir Deine persönlichen Daten schützen, erfährst du in unserer Datenschutzerklärung.
Abmeldung im NL selbst oder per Mail an info@jesus.de

Zum 75-Jahr-Jubiläum würdigt der amtierende Kirchenpräsident der EKHN, Volker Jung, das „Darmstädter Wort“. Er kritisiert ebenfalls, dass die Erklärung „keine Silbe für das Menschheitsverbrechen der Shoah übrighatte“. Aber das „Darmstädter Wort“ habe eine große Bedeutung in der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit und der „politischen Zeitansage“.

„Das Darmstädter Wort ist eine klare Absage gegen Militarismus und Nationalismus“, betont der Kirchenpräsident. Auch die Aufforderung, Lebensformen abzuändern, wo das Zusammenleben Wandlungen erfordere, sei vor der Debatte um die Gleichstellung gleichgeschlechtlich liebender Menschen richtungsweisend. Bleibendes Verdienst der Erklärung sei, die „gesamte Schuld“ persönlich und generationenübergreifend zu bekennen und auf die Freisprechung durch Jesus Christus zu hoffen, resümiert Jung.

Link: Hier findest du das Darmstädter Wort.

Quelleepd

Konnten wir dich inspirieren?

Jesus.de ist gemeinnützig und spendenfinanziert – christlicher, positiver Journalismus für Menschen, die aus dem Glauben leben wollen. Magst du uns helfen, das Angebot finanziell mitzutragen?

Zuletzt veröffentlicht

1 Kommentar

  1. Beim fehlgeleiteten Denken beginnt Antisemitismus

    „Zum 75-Jahr-Jubiläum würdigt der amtierende Kirchenpräsident der EKHN, Volker Jung, das „Darmstädter Wort“. Er kritisiert ebenfalls, dass die Erklärung „keine Silbe für das Menschheitsverbrechen der Shoah übrighatte“. Aber das „Darmstädter Wort“ habe eine große Bedeutung in der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit und der „politischen Zeitansage“! (Zitat Ende). Mich wundert noch mehr als es mich entsetzt, wie man Shoah in dieser ansonsten begrüßenswerten Veröffentlichung damals völlig vergessen kann. Ohne dies auch nur andeutungsweise aktuell verharmlosen oder entschuldigen zu wollen, so scheint doch unser Gehirn offensichtlich das Unangenehme, vielleicht auch die persönliche Schuld, nicht genug gegen den Antichristen Hitler gegen den Strom geschwommen zu sein, in vollkommener Perfektion zu verdrängen. Übrigens besteht das Funktionsprinzip des antisemitischen Denkens leiderzu darin, beispielsweise jüdische Wissenschaftler, Schriftsteller oder sonstige bekannte oder unbekannte Leute auf ihr Jüdisch-sein einzugrenzen und dann vor allem ihre Fehler und Fehltritte mit ihrer Religion zu erklären. Selbst der wohlgemeinte Umkehrschluss macht daraus den gleichen leidigen Schuh. Da werden jüdische Menschen als so klug definiert trotzdem sie jüdisch sind. Auch habe ich immer noch die vielfältige Kritik im Ohr, wenn jüdische Organisationen uns aus gutem Grund harsch kritisieren. Falsche Antwort: Die sollten doch lieber den Mund halten, wenn sie schon bei uns leben Ewig sorgten sie für Unruhe, Mich entsetzt dies. Niemand käme auf die Idee, superreiche Steuerhinterzieher in ihren Fehlhaltung dadurch zu kritisieren, dass sie Christen sind. Wenn ein jüdisches Geheimdienst angeblich jemand vom Leben zum Tode gebracht hat, dann war das eben der jüdische Geheimdienst, typisch. Dass auch andere Geheimdienste mit tausenden Christen auf der Gehaltsliste sich genauso nicht in Chorknabenmanier verhalten interessiert offensichtlich niemand. Terroristen die Flugzeuge entführen entführen nicht Flugzeuge weil sie Moslems sind – und weil das angeblich (blödsinnigerweise auch noch im Koran steht – sondern weil sie Verbrecher sind. Verbrecher sind aber Leute, dessen Handlungen und Absichten von keiner richtig verstandenen Religion auf dem ganzen Erdball für richtig gehalten werden. Das Problem des Antisemitismus, auch des Rassismus, besteht nicht nur in den unmenschlichen Gewalttaten oder Hassbotschaften, sondern einer Fehlleistung des Denkens. Natürlich können Menschen jeglichen Glaubens Schweinehunde sein. Aber ich habe noch nie gehört oder gelesen, auch nicht in den allerschlimmsten Hasskommentaren, das Kapital sei den Händen der weltweiten Christenmafia.

Die Kommentarspalte wurde geschlossen.