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Fortschritt oder Wahnsinn?

Out of the Box – Weil wir wunderbar gemacht sind

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Die zweiwöchentliche Kolumne von Tom Laengner


Ist Fortschritt durch und durch gut? Ein kleiner Junge auf einem Heuwagen bringt Tom Laengner zum Nachdenken.

Wir sind so lange durch den Regen gegangen, bis er sich in Schnee verwandelte. Das war dann sogar noch schöner. Anstatt Gedanken auszutauschen, bis sie uns gefangen nehmen, lauschten wir dem Wasser. Es strömte selbstbewusst durch die Wiesen, sprudelte aus unterirdischen Öffnungen und hüpfte mit ungespielter Leichtigkeit von den Hängen.

Scheinbar neidlos und ohne Platzhirsch-Gehabe brachten die Wasser ihre Klangvielfalt in die Welt. Sie boten eine eigenständige Auffassung von Volksmusik dar. Während die Metallspitzen unserer Wanderstöcke immer wieder unvorbereitet auf Steine stießen und so etwas zur Symphonie des Waldes beitrugen, stiegen in mir Gedanken hoch.

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Ganz oben thronte ein Junge

An der lehmverputzten Wand unserer Frühstückspension hing ein Bild. Eine Gruppe schlanker Frauen und Männer standen um ein Pferdefuhrwerk. Das war bis zum Himmel, also fast bis zum Himmel, mit Heu beladen. Ganz oben thronte ein Junge mit blondem Seitenscheitel und schaute dem Fotografen ins Gesicht.

Ich fragte mich, wie er dort hinaufgekommen war. Und obwohl er dort in etwa vier Meter Höhe mit größter Selbstverständlichkeit in seinen kurzen Hosen zu sitzen schien, machte ich mir für einen Moment Sorgen, wie er dort wohl wieder heil herunterkommen würde. Tief in meinem Herzen bewunderte ich den Jungen für die abenteuerlichen Erlebnisse seiner Kindheit. Das Foto erwachte in mir zum Leben: Die Landleute schulterten ihre Heugabeln und die Pferde zogen den Wagen ruhig und kraftvoll an.

Langweiliger und zahmer

Indessen wanderten wir vorbei an dicht bemoosten Buchen. Kein einziger der Bäume, auf die wir trafen, hatte den braunen Farbton, den Erwachsene ihren Kindern für Zeichnungen empfehlen. Mir scheint, dass wir Menschen uns die Welt durch immer wieder gleiche Bilder vorhersehbarer machen wollen. Wird sie so nicht aber auch langweiliger, zahmer und geht vorbei an der Wirklichkeit?

Dann müssen wir aufpassen. Der Weg wird steiler und Wasser steht im zerfurchten Boden. Die Profilreifen der Rückzüge, die bei der Holzernte eingesetzt wurden, müssen die Erde zur Verzweiflung getrieben haben. Stumm steht das Wasser in den Furchen und der Matsch schmatzt an unseren Schuhen. Ein paar hundert Meter weiter ist eine Wasserentnahmestelle. Ich knie mich an den Teich, tauche mein Gesicht hinein und trinke ein paar Schlucke.

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Hat er vermisst, nie in Disneyland gewesen zu sein?

Das Wasser ist kalt und klar. Auf dem Boden kann ich Steine und Laub sehen. Ob der blonde Junge auf dem Heuwagen hier auch getrunken hat? Hat er es vermisst, nie in Disneyland gewesen zu sein? Er sagt es mir nicht. Stattdessen sehe ich ihn vor mir, wie er stolz im Heu sitzt, als wolle er mir deutlich machen: „Ich habe nicht viel, aber ich habe es drauf.“

Unaufgeregt fielen die Schneeflocken weiter, wurden eins mit dem lehmigen Wasser der Pfützen und machten den bereits weißen Teil der Landschaft noch kristallartiger. In Gedanken an die bäuerliche Szene fragten sich meine Frau und ich, wann Fortschritt eigentlich zum Wahnsinn wird. Zweifellos erfüllt es mich mit großer Freude, dass ich bei meiner Gallenoperation zur Narkose keinen Whiskey bekam und auch nicht auf ein Stück Holz beißen musste. Aber die von der WHO bestätigten Millionen Tote durch „Zivilisationskrankheiten“ machen mich doch nachdenklich.

Ums Leben betrogen

Versteh‘ ich das richtig: Was mein Leben verbessern soll, macht es mir unter Umständen kaputt? Und mit einem Male spüre ich in mir, dass wir die Tore nach Disneyland weit aufgestoßen haben. Das war ja auch wichtig, nachdem wir das Paradies betoniert haben, weil uns ein Einkaufszentrum lieber war.

Eigentlich sollte es doch nicht sein, dass Hand in Hand mit vermeintlichen wirtschaftlichen und technischen Fortschritten Millionen Menschen in Folge solch hochgepriesener Verbesserungen um das Leben betrogen werden.

Der Weg zurück führt uns an den frisch gewonnen Bekannten vorbei. Wir sind dann so lange durch den Schneefall gegangen, bis er wieder in den zärtlichen sanften Regen überging. Alter Falter, war das ein schöner Gang!

Alle Kolumnen von Tom Laengner findet ihr hier.


Tom Laengner ist ein Kind des Ruhrgebiets. Nach 20 Jahren im Schuldienst arbeitet er journalistisch freiberuflich und bereist gerne unterschiedliche afrikanische Länder. Darüber hinaus arbeitet er als Sprecher für Lebensfragen und Globales Lernen. In seiner Kolumne „Out of the Box – Weil wir wunderbar gemacht sind“ schreibt er regelmäßig über Lebensfragen, die ihn bewegen.

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3 Kommentare

  1. Gute Fragen ! ,die suche nach den Antworten hat eine Qualität in sich…natürlich wird dieser Junge Disney Land nicht vermissen er hat vermutlich nicht die geringste Vorstellung davon ,geschweige wie er dahin kommen sollte.Den Schmerz des Verlustes spürt nur der, der nicht mehr hat.Wie die Gallenblase ,wenn sie tadellos funktioniert könnte man sie auch für überflüssig halten.JA; WIR SIND BERAUBTE,HABEN DEN RAUB ABER NICHT MITBEKOMMEN.

  2. , danke, so schön geschrieben, ihr sprecht mir so aus der Seele! Ich könnte jedesmal weinen, wenn ich an einer betonierten Fläche oder einer braunen Thuje in einem Schottervorgarten vorbei kómme. Und dann diese Bilder aus meiner Kindheit. Wie wir Kartoffelklauben, Stroh aufladen oder Rüben verziehen halfen. Der Geruch der Erde, dás Kratzen der Strohstoppeln an den Füßen, das fröhliche Gelächter unserer Tante auf dem schaukelnden Heuwagen, Wasserläufer und Libellen am Bach beobachten, Trollblumen, Kuckuckslichtnelken, Dotterblumen, Blutströpferl, Wiesenschleierkraut pflücken … Dá gäbs noch so vieles hinzuzufügen…. mein Gott, wo bleibt der lautstarke Aufschrei von uns Christen, die wir doch an einen Schöpfergott glauben? Wenn nicht wir, wer dann ísť berufen, Gottes Schöpfing, dieses fragile Wunderwerk, vor der Plünderung zu bewahren?

  3. Der liebe Gott geht durch den Wald

    …..“wir das Paradies betoniert haben, weil uns ein Einkaufszentrum lieber war“! Sehr gute poetische Gedanken von Tom Laengner. Sie erinnern mich sehr punktgenau an wesentliche Erfahrungen meiner nachpubertären Jugendzeit. Denn gerade auch Emotionen scheinen in unserem Gedächtnis eine wichtige Funktion zu haben. Und eben diese Erinnerung an stimmungsvolle Gefühle, wenn sich so etwas wie eine Mischung aus Disneyland und Paradies ergeben, scheinen das eigentlich Wertvolle im Leben zu sein. Wie anders sollen wir einen anderen Menschen lieben? Oder gar Gott, und ihn sogar mit aller Kraft? Doch vor allem mit dem Gefühl, mit unseren Emotionen und genauso erwarten wir, dass der Schöpfer aller Dinge uns im Himmel einst umarmen wird. Ja, sogar die Tränen abwischt bei jenen vielen Menschen, die auf hier auf Erden zu kurz kamen, die gelitten haben, zu Sklaven degradiert sind, oder die man brutal umgebracht hatte. Da hilft nicht die Welt und das Universum im Innersten als mathematisch zu verstehen, oder als im Prinzip wie einen unendlichen Computer. Im Gegenteil: Ganz im Inneren aller Dinge und jeder Realität gibt es eine allesumfassende Präsenz unseres Gottes, der nichts als reine Liebe ist. Heißt es doch so schön, gewissermaßen als die allerletzte große menschliche Erkenntnis: „Wenn Gott in mir und ich in Gott bleibe, dann ist alles in Ordnung“. Ich denke da auch an meine nachpubertäre Noch-Jugendzeit vor vielen Jahrzehnten. Da bin ich gerne durch unsere endlosen Wälder gelaufen, wo man niemanden begegnet und ich habe die Düfte der Natur eingeatmet, das Rauschen der Bäume gehört, bin auf weichem Moos gelaufen und irgendwie ist mir da Gott so nah gewesen wie selbst in keiner Kirche. Dies habe ich oft genutzt für ein ganz langes und intensives Zwiegespräch. Ihm (oder ihr) musste ich ja nichts vormachen, irgendetwas schönreden, er wusste alles von mir und er hat es nie gegen mich verwendet. Vielleicht ist das größtes Minus von uns Nachfolgern von Jesus Christus, dass wir im Prinzip – ohne es zu wollen – zu verkopft von Gott denken. Die Liebe kann man nicht analysieren, man darf sie aber küssen und/oder umarmen. Oder auch einfach riechen und fühlen: Im Wald, in der Natur, in den Bergen, am Meer oder in der Wüste. Wer in der Wüste den unendlich schönen Sternenhimmel je gesehen hat, der weis von dieser Predigt unserer Natur: Das Paradies wird erst noch kommen.
    Nicht das rationale Denken erschließt sich in Gott, aber die Liebe. Das versöhnt mich auch mit den Uralt-Erinnerungen an die alten Männerchöre, die zu jeder Festgelegenheit in der Kirche abgesungen haben: „Der liebe Gott geht durch den Wald“! Der Liederdichter hatte eine andere Vision.

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