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Streitthema: Die Zukunft der Kirchenmusik

Wie kann oder sollte Kirchenmusik künftig gestaltet werden? Ein Diskussionsbeitrag von Pfarrer Michl Krimmer.

„Alles im Fluss“ – was manchen wie ein Schreckgespenst vorkommt, ist der Kirche doch nicht erst seit der Reformation ins Stammbuch geschrieben. „Ecclesia semper reformanda“ – bleibt alles anders, um mit Herbert Grönemeyer zu übersetzen –, der Wandel ist in der Kirche Programm!

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Eine Fresh Expression of Church (FX) versucht ein Zweifaches:
1. Sie fragt: Was war, ist und bleibt Auftrag der Kirche (missio dei)?
2. Sie ermutigt die Kirche, die Antwort entsprechend zu denken und zu „shapen“.

Die Veränderung umarmen

Erinnerungen an mein Gemeinde-Praktikum in der St. Thomas Church in Sheffield/England (der Wiege der Fresh Expressions of Church Bewegung) werden wach. Allgegenwärtiges Credo war dort: „We embrace change“ – „Wir umarmen die Veränderung“ – den Wandel nicht nur erleiden, sondern mit ihm rechnen, ihn begleiten … Viel mehr noch: den Wandel sogar fordern und fördern! Das war dort mit Händen zu greifen: Viele unserer Gesprächspartner hatten schon mehrere Rollen und Funktionen innerhalb der Gemeinde inne (sich und seine Gaben ausprobieren) und in den knapp vier Wochen unseres Praktikums wurden nicht weniger als drei der „Senior Leaders“ entweder verabschiedet oder begrüßt. Veränderung nicht als Selbstzweck, sondern um der selbst gewählten Definition gerecht zu werden: „Eine Fresh Expression of Church ist eine frische (das muss nicht unbedingt „neu“ bedeuten) Ausdrucksform von Kirche und Gemeinde für unsere sich verändernde Kultur, die primär für Menschen gegründet und unterhalten wird, die noch keinen Bezug zu Kirche und Gemeinde haben.“

Ein wichtiger Vordenker war Bischof Klaus Hemmerle. Dieser entwickelte folgenden Ansatz: „Lass mich dich lernen, dein Denken und Sprechen, dein Fragen und Dasein, damit ich daran die Botschaft neu lernen kann, die ich dir zu überliefern habe.“ Aufgrund dieser Prämissen ist eine deutliche ekklesiologische
Akzentverschiebung zu beobachten: von der „church shaped mission“ hin zur „mission shaped church“. D.h. Traditionen und etablierte Formate haben nicht per se eine besondere Würde. Sie stehen nicht unter „Denkmalschutz“, sondern werden kontinuierlich auf ihre visionsgemäße Tauglichkeit hin befragt. Die Kirche konsequent „missio-dei förmig“ zu denken, bedeutet, die missio dei eben nicht zuerst kirchenförmig zu denken. Die missio dei bringt Kirche und Gemeinde erst „in Form“: „Es ist nicht Gottes Kirche, die eine Mission in dieser Welt hat, sondern ein missionarischer Gott hat eine ‚Kirche‘ in dieser Welt.“

Oder anders formuliert: „Unser Thema kann nicht zuerst die Kirche sein, deren Erhalt, Untergang, Überleben oder Wachstum. Sie ist nur die Prothese, nicht das Laufen. Unser Thema ist das Evangelium von Jesus, dem Christus. […] Wie langweilig sind ‚Gestaltungs- und Organisationsformen gemeindlichen Lebens‘ ohne diese Botschaft, die allen gilt und niemanden ausschließt und die darum jedermann erreichen muss.“
Dabei wird der vielerorts kontaminierte „Missions-Begriff“ bewusst vermieden und durch das lateinische „missio dei“ – „der Auftrag, die Mission Gottes“ – ersetzt. Dieser Auftrag beinhaltet:

  • Evangelisation, also die Verkündigung der frohen Botschaft vom Reich Gottes.
  • Nachfolge, also das „Machet zu Jüngern, tauft, lehret sie halten“ nach Matthäus 28.
  • Diakonie als Antwort auf menschliche Bedürfnisse durch liebevollen Dienst.
  • Den Einsatz für Frieden und soziale Gerechtigkeit.
  • Das Bemühen um die Bewahrung der Schöpfung und die Mitwirkung an ihrer Wiederherstellung und Erneuerung.

Wo Menschen sich in diese missio dei, in die Bewegung des „heruntergekommenen“ Gottes „einklinken“, dort ereignet sich Kirche („church happens“), dort ist Kirche im Vollsinn zu finden – an alt bekannten wie an unverhofften Orten. Die FX-Bewegung hat eine sogenannte „liquid ecclesiology“ – Ekklesiologie im Fluss. Dem klassisch lutherischen Gemeindeverständnis fehlt bisher der zentrale Aspekt des Beziehungsgeschehens, das seinen Niederschlag in Barmen findet. Dort heißt es:

„Kirche ist da, wo sich Menschen in Gemeinschaft auf den dreieinigen Gott ausrichten und Gottes Sendung leben in Verbindung mit allen, die Gottes Ruf gehört haben.“

Die FX-Gemeindesicht ist daher bei weitem nicht mehr nur ein „Nebenspielplatz“ der Kirchentheorie, sondern ihre Impulse wirken vielerorts revitalisierend in bestehende Strukturen hinein und helfen vielfach bei der Priorisierung von Zukunftsaufgaben.

Kirchenmusik nachhaltig weiterentwickeln

Kirchenmusik muss sich eben dieser Frage stellen: Welchen Anteil hat sie an der missio dei? Sind ihre Ressourcen richtig eingesetzt? Ist sie „in Form“? Kirchenmusik als „Museumsbesuch“ ist allein kein nachhaltiger Ansatz. Es kann nicht nur darum gehen, in einem werkästhetischen Verständnis ihre Hauptaufgabe allein darin zu sehen, die tradierten Großwerke dieser Kunst interpretativ zu heben und zu hüten. Und: Kirchenmusik ist nicht (und war es nie) nur liturgische Musik. Kirchenmusik hat einen Sitz im Leben über den Gottesdienstkontext hinaus. D.h. Kirchenmusik soll den musikalischen Dimensionen der geistgewirkten „Kommunikation des Evangeliums“ (vgl. missio dei) in vielfältigen Formen und
verschiedensten Handlungsfeldern Raum geben. „Kirchenmusik liegt also dort vor, wo musikalisch Handelnde und Hörende ihre Wahrnehmungen und ihr musikalisches Agieren als Teil der (auch) durch die Institution Kirche tradierten Kommunikation des Evangeliums erfahren. Sie ist daher zunächst ein Geschehen und Ereignis, eine religiöse Praxis, der sekundär ein institutionalisiertes kulturelles System mit seinen Zeichen, Werken und Strukturen dient.“

Menschen hören einer Band zu. Eine Person hat ihre Hand erhoben.
Symbolbild: Unsplash.com / John Price
  • Es wird nie wieder so wie früher. Veränderungen sind dringend notwendig. Wer gedanklich in „der guten alten Zeit“ hängen bleibt, verpasst die Chance, zu agieren, und kann irgendwann nur noch reagieren. Die Kirche der Zukunft – wie auch ihre Musik – wird also ihr bisheriges Instrumentarium zur Krisenbewältigung (z. B. Vorhandenes weiterentwickeln oder optimieren mit dem Dreischritt Wahrnehmen – Analysieren – Reagieren) als ergänzungsbedürftig verstehen müssen. Optimierung und Qualitätssteigerung trotz reduzierter Ressourcen enden zwangsläufig in Überforderung und Burnout. Kein „immer mehr“ durch immer weniger Personen!
  • Wir brauchen verstärkt Erprobungsräume, die der Erkenntnis Rechnung tragen, dass es um ein „Lernen unterwegs“ mit dem Dreischritt Probieren – Wahrnehmen – Reagieren (im Sinne von modifizieren oder multiplizieren) gehen muss. Es braucht Ressourcen für eine kirchenmusikalische „Abteilung für Forschung und Entwicklung“.
  • Es braucht den Mut zum „Stärken stärken“. Die Kirche(nmusik) der Zukunft wird sich von flächendeckender Versorgung mit Gottesdiensten und Angeboten (primär verantwortet durch Hauptamtliche) hinentwickeln zu ermächtigten Netzwerken (empowerment), die in eigener Regie und Verantwortung (Ehren amtlicher) religiös/musikalisch handeln. Es braucht ein bewusstes „Ja“ zu Abschieden und Schwerpunktsetzungen.
  • Qualität in der Kirchenmusik darf nicht länger ein absoluter Begriff sein und sich zum Beispiel alleine an der Virtuosität und Interpretation der Ausführenden oder der Etabliertheit festmachen. Sondern sie richtet sich nach Zielgruppe und der Tauglichkeit für einen bestimmten Kontext.
  • Es braucht eine „barrierefreie“ inhaltliche Auseinandersetzung auf Augenhöhe mit den Phänomenen „Lobpreis- und Anbetungsmusik“, „Gospel-Bewegung und
    Mass-Choir-Events“, „Schlager und Volksmusik“. Wir brauchen eine neue Generation von Brückenbauern und -bauerinnen ohne Berührungsängste und eine neue Generation von Kirchenleitenden, die sie
    unterstützen und fördern.
  • In Ausbildungskontexten braucht es einen Blick für den Musikgeschmack des anderen. Es braucht Lehrende, die sich konsequent diesen Fragen stellen: „Wie kann ich dazu beitragen, dass Menschen unterschiedlichen Musikgeschmacks und unterschiedlicher Frömmigkeit sich in unserer Kirche zugehörig fühlen? Wie sorge ich dafür, dass nicht mein Musikgeschmack oder meine religiös-musikalische Biografie den Ausbildungshorizont limitiert?“
  • Großveranstaltungen können als seismographische Zentren ein neues Miteinander in der Kirchenmusik abbilden: Nicht (mehr oder weniger) friedliche Koexistenz, sondern freudige Kooperationen sollen vom Ausnahme- zum Regelfall werden. Sie schulen so quasi en passant die Besucherinnen und Besucher im Kontext sensibler Biodiversität von Musik im Raum der Kirche.

Diesen Artikel schrieb Michl Krimmer für das Kirchenmagazin „3E – echt, evangelisch, engagiert„. 3E erscheint regelmäßig im SCM Bundes-Verlag, zu dem auch Jesus.de gehört.

1 Kommentar

  1. Mein Lob mit Einschränkungen

    Dem Beitrag über Kirchenmusik von Pastor Krimmer kann ich zwar (voll ??) zustimmen. Er ist aber inhaltlich irgendwie für mich schwer lesbar, obwohl ich doch selbst gerne schreibe und formuliere. Ich zitiere hier den folgenden Satz: „Qualität in der Kirchenmusik darf nicht länger ein absoluter Begriff sein und sich zum Beispiel alleine an der Virtuosität und Interpretation der Ausführenden oder der Etabliertheit festmachen. Sondern sie richtet sich nach Zielgruppe und der Tauglichkeit für einen bestimmten Kontext“!

    Ich versuche es mal zu übersetzen: „Die Qualität der Kirchenmusik muss nicht absolut im Fordergrund stehen und darf sich nicht (nur) an der musikalischen Ausdruckskraft, dem Inhalt des Stückes/der Texte, der Interpretation und der Bekanntheit der Chöre oder Dirigenten orientieren“! Stimmt dies annähernd so? Ich habe hier nicht jeden Wort umformuliert, aber hoffentlich das Wesentliche. (Selbstverständlich habe ich als Vielschreiber andere oder ähnliche Schwächen. Meine konstruktive Kritik soll also nicht überheblich und lieblos klingen!)

    Natürlich ist es wichtig, auch die richtiger Zielgruppe zu treffen. Aber wenn die Konzerte u. ä. und ihr Format doch gut frequentiert sind, dann ist auch die richtige Zielgruppe in den Bänken ?! Natürlich muss die Kirchenmusik entsprechend der Kantor*innen mit ihren Zielrichtungen breit aufgestellt sein. Mehr klassische Angebote lassen sich sicherlich nicht mit den eher sehr gegensätzlichen Formen vermischen. Aber es wird immer Gruppen von Menschen geben, die man musikalisch überhaupt nicht erreicht. Dies muss so auch nicht versucht werden, es gibt andere Weisen ein Zuganges durch Kirche und Evangelium. Allerdings zehrt vor allem der Traditionsabbruch auch an grundsätzlich doch meist gut frequentierten kirchenmusikalischen Angeboten. Das scheint mir ein durchgehendes Problem zu sein. Zudem erreichen die beiden großen Kirchen sowieso nur 3 – 5 % der Kirchensteuerzahler, wenn diese nicht schon ausgetreten sind. Oder sie kommen doch in unsere Heiligen Hallen, weil sie die Musik lieben:. Dies ist doch ein Wert an sich.

    Etwas noch zum Schluss und zur Qualität des zu musizierenden: Sollten wir, wenn wir mit diesen Angeboten Gott und der Gemeinde das Beste geben möchten, nicht auch der Qualität und die investierten Mühen hier mehr in den Fordergrund stellen? Natürlich kann ein Seniorenchor nicht so gut wie ein jüngerer oder gar geschulter Chor singen, aber er vermag auf seine Weise die für ihn mögliche Qualität mit seiner Motivation einzubringen.

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