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Luthers Geniestreich: 500 Jahre Bibelübersetzung auf der Wartburg

Vor 500 Jahren übersetzte Martin Luther das Neue Testament in nur elf Wochen aus dem Griechischen ins Deutsche. Den Erfolg verdankte seine Übersetzung der Akkord-Arbeit in der Druckerei und der Tatsache, dass der Reformator für „einfältige Idioten“ schrieb.

Von Alexander Schick

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Bevor die Bibel ins Deutsche kam, musste das Griechische Neue Testament in die Länder nördlich der Alpen kommen. 1516 erschien eine griechisch-lateinische Ausgabe des Neuen Testaments von dem holländischen Gelehrten Erasmus von Rotterdam (1476–1536). Bis dahin war die lateinische Bibel, die sogenannte Vulgata, die einzig genehmigte Bibelausgabe. Hier lag nun aber zum ersten Mal das Neue Testament in gedruckter Form in der griechischen Originalsprache vor.

Alle Dienstmädchen sollen Paulus lesen

Die Vorrede wurde ab 1518 separat gedruckt und sie hatte einen unglaublichen Einfluss auf die Entstehung von Bibelübersetzungen in ganz Europa. Erasmus rief zur Bibellektüre auf und wandte sich gegen die vorherrschende Meinung, dass die Bibel nur für den Klerus, also für die Priesterschaft, sei.

Zugleich forderte er die Übersetzung des Neuen Testaments in die Volkssprachen: „Leidenschaftlich rücke ich von denen ab, die nicht wollen, dass die heiligen Schriften in die Volkssprache übertragen und auch von Laien gelesen werden … Ich würde wünschen, dass alle Dienstmädchen das Evangelium lesen, dass sie die paulinischen Briefe lesen. Würden doch diese in die Sprachen aller Völker übertragen …“

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Diese Aussagen von Erasmus hatten Philipp Melanchthon dazu gebracht, Martin Luther (1483–1546) zu überzeugen, dass man das Neue Testament unbedingt ins Deutsche übersetzen müsse.

Wie Luther auf die Wartburg kam

Doch 1521, fünf Jahre nach Erscheinen des Neuen Testaments von Erasmus, stand es nicht gut um die Bibelübersetzungen in die Sprachen der Völker. 1517 hatte Luther seine 95 Thesen gegen den Ablasshandel veröffentlicht. In der Folge wurde der Kirchenbann über ihn ausgesprochen – Luther war aus der Kirche exkommuniziert.

Nun zog die Politik nach: Auch die Reichsacht (= reichsweite Ächtung) sollte über ihn verhängt werden. Doch auf Drängen des Kurfürsten Friedrich des Weisen (1463–1525) sollte er erst vom Kaiser gehört werden. So musste sich Luther im April 1521 auf dem Reichstag zu Worms für seine neue Lehre verantworten. Er weigerte sich dabei standhaft, seine Schriften zu widerrufen. Dies führte im Mai 1522 zu seiner Verurteilung in dem sogenannten Wormser Edikt.

Zum Schein „überfallen“

Durch dieses Edikt wurde Luther offiziell für vogelfrei erklärt. Auf dem Rückweg vom Wormser Reichstag wurde Luther am 4. Mai 1521 zum Schein „überfallen“ und auf die Wartburg im thüringischen Eisenach (Abb. 1) „entführt“. Hier begann Luthers neues Leben unter dem Decknamen „Junker Jörg“.

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Am 12. Mai 1521 klagte er seinem Freund Nikolaus von Amsdorf (1483–1565): „Ich bin an dem Tage, da ich von Dir weggerissen wurde, als ungeübter Reiter durch die lange Reise ermüdet, ungefähr um elf Uhr nachts im Finstern zu meiner Herberge gekommen. Jetzt bin ich hier müßig, ein Freier unter Gefangenen.“

Schreiben ohne Unterlass

Keiner durfte von seinem Aufenthaltsort wissen. Nur Georg Spalatin (1484–1545), der Geheimsekretär des Kurfürsten, war eingeweiht, ebenso der Burghauptmann. Er sorgte für die Beförderung der Korrespondenz, wo Luther als Absenderort angab: „Region der Vögel“ oder mein „Patmos“. Am 10. Juni 1521 schrieb er an Spalatin: „Ich bin hier sehr müßig und doch wieder sehr fleißig; ich lerne Hebräisch und Griechisch und schreibe ohne Unterlass.“

Während der ersten Monate auf der Wartburg verfasste Luther unter anderem einige Advents- und die Weihnachtspredigten („Postillen“). Die zugrunde liegenden Abschnitte der Evangelien übersetzte er dabei in die deutsche Sprache. Diese Arbeiten waren von größter Bedeutung für sein nächstes Projekt, das er am 18. Dezember 1521 seinem ehemaligen Klostervorsteher Johannes Lang (1487–1548) ankündigte: „Ich werde hier bis zu Ostern bleiben. Inzwischen will ich die Postille fertig machen und werde das Neue Testament deutsch geben.“

Was das für eine schwierige Arbeit sein würde, wusste Lang nur zu genau. Er hatte gerade seine eigene Übersetzung des Matthäusevangeliums auf Deutsch veröffentlicht (Abb. 2). Luther war begeistert und hatte seinen Freund aufgefordert, mit der Übersetzungsarbeit fortzufahren.

Die Übersetzung von Lang ist heute nur noch Fachleuten bekannt. Sie reiht sich ein in den Reigen der ersten Teil-Übersetzungen des Neuen Testaments aus der griechischen Sprache. Die anderen bis dahin bekannten Übersetzungen fußten immer auf der Vulgata, also auf der lateinischen Bibel. Luther aber benutzte für seine Übersetzung den griechischen Text des Neuen Testaments – die Sprache, in der das Neue Testament abgefasst ist.

Das war in der Abgeschiedenheit der Wartburg möglich, denn Luther hatte in seinem Reisegepäck seinen Erasmus dabei, und zwar in der 2. Auflage von 1519. Mit dieser Textausgabe lag Luther der vollständige Text des Neuen Testaments in griechischer Sprache vor. In seiner Burgstube (Abb. 3) rang Luther Tag um Tag um jedes Wort seiner Übersetzung. Nach nur elf Wochen war das Werk geschafft.

Edelsteine vom fürstlichen Hof für die Offenbarung

Am 6. März 1522 kehrte Luther nach Wittenberg zurück. In seinem Gepäck die Erstfassung seiner Übersetzung des Neuen Testaments. Jetzt ging es um die Feinarbeiten. Am 30. März bittet er Spalatin: „Jetzt aber haben wir, Melanchthon und ich, angefangen, alles auszufeilen, und es wird, so Gott will, ein würdiges Werk werden. Aber auch Deine Hilfe wollen wir bisweilen in Anspruch nehmen, um die Worte richtig zu treffen. Deshalb halte Dich bereit, aber so, daß Du uns einfache, nicht Schloß- und Hofwörter lieferst. Denn dies Buch will verständlich (einfältig) übersetzt sein.“

Luther hat auch gleich einen ganz besonderen Wunsch. In der Offenbarung 21,10-20 wird die Stadtmauer des himmlischen Jerusalem beschrieben. Die zwölf Grundsteine bestehen aus verschiedenen Edelsteinen, und so lautet seine Bitte an Spalatin: „Und um gleich anzufangen, siehe zu, dass Du vom kurfürstlichen Hofe … uns die Namen und die Farbe und womöglich auch den Anblick der in Offenbarung 21 erwähnten Edelsteine verschaffst.“

Und Spalatin konnte helfen. So übersetzt Luther die Verse dann so: „vñ die grunde der mauren vnnd der ſtad waren geſchmuckt mit allerley eddel geſteyne/ Der erſt grund war eyn Jaſpis/ der ander eyn Saphir/ der dritt eyn Calcedonier/ der vierde eyn Smaragd …“

Top secret

Luther und seine Mitstreiter arbeiteten unermüdlich an dem Feinschliff für das Neue Testament. Am 10. Mai schickte Luther die ersten Druckbogen an Spalatin: „Ich sende Dir eine Kostprobe unserer neuen Bibel“ (es handelte sich um Matthäus, Kapitel 1–18), „doch sorge dafür, dass nichts an die Öffentlichkeit komme.“ Die Angst vor Raubdrucken war groß und die Arbeit wurde daher geheim gehalten.

Am 26. Juli lesen wir: „Langsam schreitet das Werk fort. Denn erst die Hälfte hast du jetzt … Vor Michaelis [29. September] wird es nicht fertig werden, obgleich alle Tage 10.000 Blatt auf drei Pressen in unermüdlicher Mühe und Hingabe gedruckt werden.“ Luther sollte hier allerdings nicht Recht behalten. Denn am 20. September konnte Spalatin vermelden: „Hier hast Du nun das ganze Neue Testament für Dich und den Kurfürsten …“

Luther Septembertestament Wartburg
Abb. 4: Druckausgabe von Luthers Septembertestament (Foto: Alexander Schick)

Luthers Übersetzung des Neuen Testaments erschien rechtzeitig zur Buchmesse in Leipzig am 29. September 1522 (Abb. 4). Es ging daher in die Geschichte als das „Septembertestament“ ein. Da Luther „vogelfrei“ war, durfte eigentlich niemand seine Schriften drucken. Daher erschien es ohne Verfasser- und ohne Druckernamen. Doch bald wurde bekannt: Dieses Neue Testament stammt von der „Nachtigall aus Wittenberg“. Es wurde ein Riesenerfolg.

666.000 Blätter drucken – Akkord für Gottes Wort

Die Durchführung der Druckarbeiten war abenteuerlich. Aus logistischen Gründen wurde die Auflage in mehreren Partien gedruckt – so die Forschungen des Buchwissenschaftlers und Bibelexperten Wolfgang Schellmann (Lüneburg). Die erste Auflage – die zur Buchmesse fertig sein musste – betrug 3.000 Exemplare. Da es noch keinen Copyrightschutz gab, musste man sofort mit der Folgeauflage weitermachen. Diese erschien im Dezember 1522 und betrug 2.000 Exemplare.

Die Druckerei von Michael Lotter d.J. (1499–1556) in Wittenberg stand bei dem Septembertestament vor ungeheuren logistischen Herausforderungen. Jeder Band hat 222 Blätter – das sind bei 3.000 Exemplaren zusammen 666.000 Blätter, die innerhalb von fünf Monaten beidseitig zu bedrucken waren.

„Ein Papierstapel … mit 94 Metern … so hoch wie die Münchener Frauenkirche.“

Dazu Dr. Schellmann: „Zieht man die am Original vermessene mittlere Blattstärke von 0,142 mm in Betracht, dann war [dies] ein Papierstapel … mit 94 Metern … so hoch wie die Münchener Frauenkirche. Wenn man weiterhin bedenkt, dass dies gewaltige Papiervolumen nicht nur in der Druckerei unter größtem Termindruck zu verarbeiten, sondern auch von den Papiermühlen termingerecht anzuliefern war, bekommt man eine Vorstellung davon, welche logistische Glanzleistung da vollbracht werden musste und wie groß das damit verbundene wirtschaftliche Risiko war, wenn man sich bei irgendeinem Prozessschritt verkalkuliert hatte.“

Die Arbeitsleistung der Drucker war enorm! Wenn wir am Tag von durchschnittlich zwölf Arbeitsstunden ausgehen, dann bedeutet das, bei 10.000 Bogen am Tag, „dass eine Presse rund 280 Blätter pro Stunde liefern konnte. Demnach wurden pro Minute und Presse im Schnitt 4,63 zweiseitig bedruckte Blätter erzeugt bzw. dreizehn Sekunden pro Blatt oder 26 Sekunden pro Bogen [ein Doppelblatt] benötigt.“

Das Dezembertestament wurde innerhalb von elf Wochen gedruckt. Es war preiswerter in der Herstellung, da man schneller setzen konnte – man hatte das Septembertestament ja als Vorlage. Durch geschickten Neusatz wurde die Anzahl der Blätter um 8 Prozent auf 202 Blatt gesenkt. Zugleich wurden am Text an 574 Stellen sprachliche Verbesserungen vorgenommen. Alles in Allem: Akkord für Gottes Wort! Eine Genieleistung!

Eine Bibel für „einfältige Idioten“

Luthers Anliegen war es, dass jeder die Heilige Schrift lesen und verstehen sollte. Er wollte das Evangelium seinen Landsleuten nahebringen. Und das gelang auch. Einer der erbittertsten Gegner Luthers urteilte: „Luthers Neues Testament wurde … in so großer Anzahl ausgesprengt, also dass auch Schneider und Schuster, ja auch Weiber und andere einfältige Idioten, … wenn sie auch nur ein wenig Deutsch auf einem Pfefferkuchen lesen gelernt hatten, dieselbe gleich als einen Bronnen aller Wahrheit mit höchster Begierde lasen. Etliche trugen dasselbe mit sich im Busen herum und lernten es auswendig.“

Luthers Übersetzungsprinzip lautete: „Man muss nicht die Buchstaben in lateinischer Sprache fragen, wie man soll deutsch reden, sondern man muss die Mutter im Hause, … den gemeinen Mann auf dem Markt drum fragen und danach dolmetschen, so verstehen sie es denn.“

„Man muss dem Volk aufs Maul schauen.“

Martin Luther

Bekannt wurde dieses Übersetzungsprogramm vor allem durch seine Worte: „Man muss dem Volk aufs Maul schauen“, so in seinem „Sendbrief vom Dolmetschen“ von 1530. Luther griff allerdings durchaus auf gehobene Sprache zurück: Er wählte die sächsische Kanzleisprache. Das war die damalige „Diplomatensprache“, die unter anderem an den Fürstenhöfen gesprochen wurde.

In seinen Tischreden sagt er: „Ich red nach der Sächsischen Cantzeley / welcher nachfolgen alle Fürsten vn Könige im Teutschlande / alle Reichßstätte / Füstenhöve / schreiben nach der Sächsischen vnd vnsers Fürsten Cantzley / Darumb ists auch die gemeineste Teutsche Sprach …“

Luther war nicht der Erste

Bis heute denken viele, Martin Luther sei der Erste gewesen, der die Bibel ins Deutsche übersetzt habe. Doch es gab bereits vor ihm über 70 verschiedene andere Übersetzungen – davon 18 komplett gedruckte Bibelausgaben. Daneben existierten aber auch viele Teilausgaben, vor allem der Evangelien.

Allerdings war Luther der erste Übersetzter, der alles aus den Ursprachen übersetzte (der oben erwähnte Johannes Lang hatte ja nur das Matthäusevangelium übersetzt). Luthers Übersetzung des Neuen Testaments – und später auch des Alten Testaments – wirkte weit über Deutschland hinaus und bildete den Anstoß für fast alle Übersetzungen in andere Nationalsprachen. Mit Fug und Recht darf man behaupten: Dies war ein Geniestreich auf der Wartburg!

Im Sendbrief von Dolmetschen urteilte Luther 1530 selbst über seine Übersetzung: „Ich habe das Neue Testament verdeutscht, auf mein bestes Vermögen und auf mein Gewissen. Ich habe damit niemanden gezwungen, dass er es lese, sondern ich habe es frei gelassen und allein zu Dienst getan denen, die es nicht besser machen können …“

Direkt raubkopiert

Gleich nachdem das Septembertestament 1522 veröffentlich war, druckten andere es nach. Bereits im Dezember erschienen Nachdrucke – genauer gesagt: Raubdrucke – des Neuen Testaments in Basel und Straßburg. 1523 waren es bereits sechzehn Nachdrucke. In den 23 Jahren von 1522 bis 1546 (Tod Luthers) zählt man 445 Auflagen. Eine unglaubliche Menge an Bibeln in deutscher Sprache!

Längst war da der Wunsch des Gelehrten Erasmus in Erfüllung gegangen, den er 1516 geäußert hatte. Er wollte ja, dass die heiligen Schriften in die Volkssprache übertragen und auch von Laien gelesen werden. Nachdem Luther dem Volk aufs Maul geschaut hatte, war Erasmus’ Ziel in greifbare Nähe gerückt: „Ich würde wünschen, dass alle Dienstmädchen das Evangelium lesen, dass sie die paulinischen Briefe lesen.“

Alexander Schick, Westerland (Sylt), ist Wissenschaftspublizist, betreibt die größte mobile Bibelausstellung Deutschlands (www.bibelausstellung.de) und führt Reisegruppen nach Israel und Jordanien. Zu seinem Expertengebiet gehören unter anderem die Entdeckungsgeschichte der Schriftrollen vom Toten Meer sowie die Funde aus dem Katharinenkloster durch den deutschen Bibelforscher Konstantin von Tischendorf. Schick ist Mitherausgeber des Lexikons zur Bibel und verantwortlich für den archäologischen und geschichtlichen Bildteil der Elberfelder Bibel mit Erklärungen.

Alexander Schick bietet aktuell eine Sonderausstellung zur 500-Jahrfeier des Septembertestaments an. Infos und Ausstellungsorte gibt es hier.


Ausgabe 3/22

Dieser Artikel ist in der Zeitschrift Faszination Bibel erschienen. Faszination Bibel wird vom SCM Bundes-Verlag herausgegeben, zu dem auch Jesus.de gehört.

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