Die MEHR lässt sich gar nicht packen. Wir versuchen es trotzdem – mit einem Gang durch die Augsburger Messehallen.
Von Nathanael Ullmann
Gefragt nach dem Berichtenswertesten an der MEHR-Konferenz 2020, sagte Johannes Hartl, man solle einfach über das Veranstaltungsgelände gehen und die Atmosphäre erschnuppern. Wie recht er damit hat. Denn in der Messe Augsburg pulsiert vom 3. bis zum 6. Januar das Leben.
Das MEHRauditorium ist dabei das Zentrum der Großveranstaltung. 8.500 Christen finden gleichzeitig in der riesigen Halle Platz. Kameras schwirren über die Besucher hinweg, wenn Redner wie Johannes Hartl und Matthias Kuhn zum Publikum reden oder die Menge Lobpreis singt. Ein Meer aus Lichtern beleuchtet das Bühnenbild, das sich gut mit denen auf Rockkonzerten messen kann. Mehrere Techniker sorgen am Pult dafür, dass jedes Bild auf den Bildschirmen zum Gesagten passt. Alles hier atmet Professionalität.
Dem Skeptiker drängt sich da zwingend die Frage auf, ob unter der Ästhetik nicht die Botschaft leidet. Doch das Zentrum bleibt klar: Jesus. Wenn Tausende Menschen gemeinsam ihren Retter besingen, dann sorgt das für Gänsehaut. Das lässt sich eigentlich gar nicht in virtuelle Bilder fassen.
Nicht ganz da und doch dabei
Und doch sind nicht wenige Menschen zur MEHR gekommen, um genau diese gemeinsam zu schauen. Das MEHRspace liegt genau am anderen Ende der Messehallen. Diese Halle ist gleich aufgebaut wie das Auditorium, allerdings eine ganze Ecke kleiner. Gerade einmal 1.200 Menschen passen hier rein. Außerdem steht hier die meiste Zeit über niemand auf der Bühne. Stattdessen starren die Zuschauer auf eine Live-Übertragung aus der Haupthalle. So groß ist die MEHR geworden, dass sie gar nicht mehr alle Besucher in einem Raum fassen kann. Der Atmosphäre tut der Bildschirm keinen Abbruch: Auch hier singen die Menschen lauthals mit, wenn Veronika Lohmer den Lobpreis anstimmt. Gerade viele Familien haben sich in diese Parallelräume zurückgezogen. Ein halbes Dutzend Kinderwagen stehen an der Seite, die Eltern sind mit ihren Kids mittendrin. Wenn sie Letztere nicht beim Kinder- und Teensprogramm gelassen haben. Das findet zeitgleich statt, in eigenen Räumen.
Auch im Space kann es richtig voll werden. So voll, dass auch hier niemand mehr reinkommt – so geschehen beim Forum MEHRtheologie am Samstag. Bei diesem Format, das in diesem Jahr zum ersten Mal stattfindet, treffen Theologen auf begeisterte Christen. Das ist ein wenig Kontrastprogramm zu den Rednern auf der Hauptbühne. Ihren wissenschaftlichen Duktus können nicht alle Professoren ablegen. Dann sprechen sie zum Beispiel von der „säkularen Spiritualität ohne Transzendenz“. Lohnend ist das Experiment jedoch allemal. Professor Thomas Schumacher spricht auf der Bühne beispielsweise darüber, ob stimmt was in der Bibel steht. Seine These: Es gibt Wichtigeres am Buch der Bücher als historische Richtigkeit. In manchen Kreisen würde er dafür ausgebuht. Bei der MEHR bekommt er sogar Applaus – obwohl sicher nicht alle im Publikum seiner Meinung sind.
Von Flagge bis Verfolgung
Eingerahmt werden die Haupthallen vom sogenannten MEHRforum – dieses Mal in zwei Hallen aufgeteilt. Das Forum lässt sich am leichtesten als christliche Messe beschreiben. Von A wie ADF International bis T wie tearfund Deutschland stellen hier die verschiedensten kirchlichen und geistlichen Unternehmen, Werke und Vereine ihre Arbeit vor. So beispielsweise das Flaggentanzteam „GloryFight“, geleitet von Monika Hümbs-Schröder. Deren Geschichte erzählt sie den Besuchern gerne: Die Ausstellerin weiß lange Zeit gar nicht, dass es so etwas wie Flaggentanz gibt. Sie sucht nach einer angemessen Art der Anbetung: „Stille Zeit war mir einfach zu still“, sagt sie auf der Messe. Also experimentiert sie mit Seilen. Bis sie jemand darauf aufmerksam macht, dass andere Gott mit Fahnen preisen. Schon beim ersten Ausprobieren merkt sie: „Das ist es.“
Heute näht sie Tag und Nacht Flaggen mit christlichen Motiven. Auf der MEHR stellt sie einige von ihnen aus. „Für mich hat sich die MEHR schon Freitag gelohnt“, erzählt Hümbs-Schröder. Sie freut sich besonders über Menschen wie ein Ehepaar, das mit ihr ins Gespräch kam. Anfangs hätten sie Flaggentanz belächelt. Aber nachdem die Tänzerin ihre Geschichte erzählt habe, habe das Paar die Motivation dahinter deutlich besser verstehen können.
Open Doors hat auf dem Messegelände gleich das berüchtigte iranische Evin-Gefängnis in Miniatur nachgebaut. Die Besucher werden hier in die Dunkelheit geführt. Nur ein paar Gitterstäbe sind spärlich beleuchtet. Mitten in dieser grauen Zelle sehen die Freiwilligen den Film über einen Christen aus dem Iran. Er erzählt, wie er in seiner Heimat wegen seines Glaubens gefangen genommen, gefoltert und zum Kriegsdienst gezwungen wird. Im Anschluss an dem Film haben die MEHR-Besucher im intimen Rahmen die Möglichkeit, für verfolgte Christen zu beten. Mit dem ungewöhnlichen Konzept verfolgt die Hilfsorganisation ein klares Ziel: „Der Raum soll dazu dienen, den Gästen ein Bild von der Situation dort in den Kopf zu setzen“, sagt Öffentlichkeitsreferent Nick Gabler.
Plötzlich still
Gerade, wenn kein Redner einen Vortrag hält, ist auf dem Forum viel los. Wer hier etwas essen will, kann auch gut mal eine Stunde auf seinen Hamburger warten. Dementsprechend laut ist das Messegelände. Entspannung schafft da der Raum der Stille. Er liegt abseits des Trubels. Stärker könnte der Kontrast kaum sein. Ein paar Stühle sind in der großen Halle aufgestellt, ein Kreuz sanft beleuchtet. Weihrauchschwaden liegen in der Luft. Sonst zeichnet sich der Raum vor allem durch Minimalismus aus. Und Stille. Die Lüftung rauscht monoton, fast meditativ vor sich hin. Hier und da sprechen ein paar Kinder mit gedämpfter Stimme. Sonst ist nichts zu hören. Hier können Besucher beten, Notizen durchschauen, durchatmen – sogar kurz ein Nickerchen abhalten.
Gerade dieser so abgelegene Raum, diese Ruhe, zeigt eindrücklich: Die MEHR ist mehr als große Bühnen und starke Farben. Sie ist mehr als nur Ökumene auf dem Papier. Sie ist ein Ort, in dem wirklich alle Menschen zusammenkommen können. Protestanten, Katholiken und Freikirchler. Erwachsene und Kinder. Laute – und eben leise. Insgesamt 12.000 mit einem Zentrum: Jesus. Und das schafft Atmosphäre – ganz natürlich.