Out of the Box – Weil wir wunderbar gemacht sind
Die Kolumne von Tom Laengner

Was macht die Barmherzigkeit barmherzig?

Inspiriert von barmherzigen Taten, denkt Tom Laengner über das Wesen von Barmherzigkeit nach. Was macht diese Tugend aus?

Instagram erlebe ich nicht immer als reine Quelle unerschöpflicher Weisheit. Aber zum Nachdenken bringen mich manche Texte schon. Da las ich in einer Buchbewerbung, dass christliche Barmherzigkeit nicht nur für die empfangende Person ein Gewinn sei. Nein, auch für die Gebende. Ja, das habe ich auch erlebt, als vor ein paar Tagen Emilie 83 Jahre alt wurde. Da haben wir mit ein paar Nachbarn unter ihrem Fenster gesungen. Es regnete ganz flott und das Spritzwasser vorbeifahrender Autos gab uns fast den Rest. Doch in meinem Herzen verbreitete sich ein warmes Gefühl. Und die alte Dame lehnte auf ihrem Fensterbrett und strahlte.

Das Glück für die Gebenden soll nicht Folge eines Deals sein, sondern natürliche Frucht eines aufrichtigen Handelns.

Davon noch ganz berührt, schlürfe ich am nächsten Vormittag meinen Kaffee. Hussein fällt mir ein. In seinen ersten Monaten in Deutschland hatte er die Möglichkeit, geflüchteten Landsleuten zu helfen. Das hat nicht nur ihn tief beglückt! Die verantwortliche Kirchengemeinde bot ihm ein großzügiges finanzielles Geschenk an. Ich fand das klasse! Doch Hussein lehnte ab. Als er mein Unverständnis bemerkte, lächelte er: „Mein Handeln sollte doch rein bleiben; auch wenn ich damals weniger als wenig hatte“. Die Haltung des 25-jährigen Studenten hatte mich in ihrer Schlichtheit und Aufrichtigkeit schwer beeindruckt. War darin nicht dieser jesuanische Stil verborgen, der auch die Basis bildet für Worte wie: ‚Geben ist seliger als nehmen‘? Fünf Wörter mit Weltniveau und darüber hinaus!

Das Glück für die Gebenden soll nicht Folge eines Deals sein, sondern natürliche Frucht eines aufrichtigen Handelns. Andere Motive als die von meinem muslimischen Freund und dem Jesus aus der Bibel, verwässern barmherziges Handeln. In den allermeisten Begegnungen spielen Motive für mich eine tragende Rolle. Obwohl: Wenn mich jemand nach einem Fahrradunfall aus dem Graben fischt und mir das Leben rettet, sind mir seine Motive herzlich egal.

Die empfangende Person wird nicht zum Objekt erniedrigt und ist auch nicht Mittel zum Zweck.

Allerdings ist Barmherzigkeit nicht das Werkzeug, um Dinge wieder gut zu machen. Ich mein mal so: Wenn ich berechtigte Wünsche meiner Kinder ignoriere, heile ich den ihnen zugefügten Schaden nicht dadurch, dass ich später mit einem Wohnsitzlosen eine Pizza teile.

Der Klassiker in puncto Barmherzigkeit ist für mich die Geschichte vom jenem Samariter. Ich fand sie immer ein wenig seifig, bis ich Martin Luther King dazu hörte. Dies waren seine Worte am 3. April 1968: „Ich stelle mir vor, dass die erste Frage, die der Priester und der Levit stellten, lautete: ‚Wenn ich anhalte, um diesem Mann zu helfen, was wird mit mir geschehen?‘ Aber aufgrund seiner Besorgnis kehrte der barmherzige Samariter die Frage um: „Wenn ich nicht anhalte, um diesem Mann zu helfen, was wird dann mit ihm geschehen?“ Das war Kings letzter Vortrag. Einen Tag später fiel er einem Anschlag zum Opfer.

Für mich wurden diese Worte bahnbrechend. Mitempfindend, zielorientiert und anspruchsvoll. Die empfangende Person wird nicht zum Objekt erniedrigt und ist auch nicht Mittel zum Zweck. So bleibt die Barmherzigkeit von Herzen barmherzig. Wie schön ist das denn!

Out of the box - weil wir wunderbar gemacht sind

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Tom Laengner

Tom Laengner (1957-2024) war ein Kind des Ruhrgebiets. Nach 20 Jahren im Schuldienst arbeitete er journalistisch freiberuflich und bereiste gerne afrikanische Länder. Darüber hinaus arbeitete er als Sprecher für Lebensfragen und Globales Lernen.

In seiner Kolumne „Out of the Box – Weil wir wunderbar gemacht sind" schrieb er fast vier Jahre lang alle 14 Tage über Lebens- und Glaubensfragenfragen, die ihn bewegten.

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