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Wann schadet der Glaube unserer Gesundheit?

Glaube kann der Psyche guttun, ihr aber auch schaden. Die Theologin Norina Ullmann erklärt, was das für Gemeinde und Seelsorge bedeutet.

Frau Ullmann, was ist das Thema Ihrer Arbeit?

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Norina Ullmann: Studien der Religionspsychologie zeigen, dass sich Religiosität und Spiritualität (R/S) auf die psychische Gesundheit auswirken und selbst von der gesundheitlichen Verfassung beeinflusst werden. Psychotherapeutische Ansätze der Kognitiven Verhaltenstherapie und der „Dritten Welle“ adressieren R/S daher vermehrt im therapeutischen Prozess.

Meine Dissertation fragt aus theologischer Perspektive, was das für Seelsorge und Kirchengemeinden bedeutet. Wie können gesundheitsförderliche Glaubensvollzüge ermöglicht sowie belastende Glaubensweisen reflektiert werden? Was genau ist gesundheitsrelevant am christlich-protestantischen Glauben? Und ist Glaube überhaupt zu Gesundheit und Wohlbefinden da?

Wie sind Sie gerade auf dieses Thema gekommen?

Ullmann: Motiviert wurden diese Fragen, als ich während meines Studiums einige Zeit in einem Plattenbauviertel in Ostdeutschland lebte. Die bewegenden Lebensgeschichten der Menschen weckten in mir die Frage, wie Glaube als eine Lebenshilfe zugänglich gemacht werden kann, gerade an Orten, an denen Glaube und Kirche fremd geworden sind.

Schließlich ist dem Glauben doch eine Fülle des Lebens (Joh 10,10) verheißen – freilich eine Fülle, die nicht nach Selbstverbesserung und Gesundheitsoptimierung strebt, sondern den Umgang mit Krankheit, Leiden und Krisen gerade mit einschließt.

Wie sind Sie methodisch vorgegangen?

Ullmann: Meine Arbeit stellt einen interdisziplinären Dialog zwischen Theologie und Psychologie her. Um möglichst viele Zusammenhänge zwischen R/S und Gesundheit erforschen zu können, habe ich keine eigene Studie durchgeführt, sondern ausgewählte Studien der Religionspsychologie analysiert. Insgesamt geben 20 Studien spannende Einblicke in 1) emotionale, 2) kognitive, 3) verhaltensorientierende und moralische sowie 4) soziale und kulturelle Effekte im R/S-Gesundheits-Zusammenhang.

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Diese wurden mit theologischen Perspektiven auf Glauben sowie Gesundheit und Krankheit ins Gespräch gebracht. Um der Vielfalt des Glaubens gerecht zu werden, wurde „Glaube“ nicht auf Definitionen enggeführt, sondern zum Beispiel als Beziehung, Selbsterkenntnis, Verhaltensorientierung, Sinnsuche im Leiden oder als Hoffnung gedeutet.

Welche drei zentralen Einsichten sind auch für Menschen interessant, die nicht mit der Thematik vertraut sind?

Ullmann: 1) R/S sind nicht per se gesundheitsförderlich oder gesundheitsschädigend, sondern können mitunter gleichzeitig hilfreiche und hinderliche Effekte haben. Das gilt auch für den christlich-protestantischen Glauben. So kann ein positives Gottesbild den Selbstwert stärken, aber aufgrund von Leidenserfahrungen in Konflikte geraten. Das wirkt sich womöglich auf die eigene Gebetspraxis aus, die zugleich als tröstliche Bewältigungshilfe dienen, aber auch den Schmerz über das Ausbleiben des Erhofften aufrechterhalten kann.

Zeitgleich können in der religiösen Gemeinschaft sowohl soziale Unterstützung als auch moralischer Druck erlebt werden. Glaube lässt sich nicht einseitig als Coping-Strategie funktionalisieren, sondern partizipiert am Auf und Ab des Lebens. Als Beziehungsgeschehen mit Gott schließt Glaube all das Schöne, aber auch Herausfordernde von zwischenmenschlichen Beziehungen mit ein.

2) Trotz der Multivalenz gibt es zahlreiche Hinweise auf gesundheitsförderliche Glaubensweisen. Eine Rolle spielt, wie bedeutsam Religion oder Spiritualität für den jeweiligen Menschen sind. Je nachdem, wie wichtig und kulturell verfügbar R/S sind, desto eher haben sie eine Relevanz für Gesundheit und Krankheit. Hilfreich ist eine Gottesbeziehung, die mehrheitlich von Liebe und von dem Glauben an einen gnädigen, unterstützenden Gott geprägt ist, aber auch negative Erfahrungen aushält. Auch Glaubensinhalte wie Sünde, Gebote oder ein jenseitiges Gericht können ein konstruktives Schuldbewusstsein, Prosozialität und Orientierung fördern.

„Der Glaube an Gottes Gnade, die Hoffnung auf Vergebung oder wohltuende Erfahrungen in einer religiösen Gemeinschaft bedingen, ob das Belastungspotenzial solcher Glaubensinhalte negativ dominiert.“

Norina Ullmann

Dabei kommt es jedoch auf das Zusammenspiel mit weiteren Faktoren an: Der Glaube an Gottes Gnade, die Hoffnung auf Vergebung oder wohltuende Erfahrungen in einer religiösen Gemeinschaft bedingen, ob das Belastungspotenzial solcher Glaubensinhalte negativ dominiert. Wichtig ist schließlich, wie mit r/s Werten und Normen umgegangen wird: Werden Empathie, Vergebung und Dankbarkeit undifferenziert eingefordert? Oder werden Zweifel und Wut auf Gott negativ bewertet und unterdrückt? So entstehen eine destruktive Selbstkontrolle und Emotionsregulation, die unter Druck setzt und ungesunde Verhaltensweisen verstärkt.

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3) Hinzukommen äußere Einflussfaktoren wie frühkindliche Bindungserfahrungen, die religiöse Erziehung, genetische und persönlichkeitsbedingte Neigungen oder der kulturelle Kontext. Häufig korrespondiert die Gottesbeziehung mit familiären Beziehungen, wobei mangelhafte Bindungserfahrungen durch eine positive Beziehung zu Gott auch kompensiert werden können.

Ob jemand eine Predigt als „Gesetz“ oder „Evangelium“ hört, hängt unter anderem von der Persönlichkeit sowie aktuellen Lebenssituation ab. Außerdem hat die gesellschaftliche Mehrheitskultur einen Einfluss darauf, ob R/S als potenzielle Ressource wahrgenommen werden.

Was hat Sie am meisten überrascht?

Ullmann: Komplexe r/s Einstellungen sind hilfreicher als einseitige: Ein Gottesbild, das mehrheitlich von Liebe und Gnade geprägt ist, aber auch Zweifel und Enttäuschungen integrieren kann, ist für Krisenzeiten besser gerüstet als eines, welches nur den liebenden oder nur den strafenden Gott kennt. Dabei braucht es spezifische Unterscheidungen: Potenziell gesundheitsförderlich ist ein Glaube, der zu komplexen Unterscheidungen fähig ist und die zu unterscheidenden Pole zugleich beieinander hält.

Das entspricht dem christlichen Glauben: Im protestantischen Gottesbild dominiert die Zusage der Liebe, wozu Aspekte wie Ehrfurcht, Gehorsam oder Zorn gehören, aber immer nur nachgeordnet als Folge- und Kehrseiten der Liebe. Ebenso sind Sünde und Gnade untrennbar verbunden und zugleich zu unterscheiden. Glaube an Sünde steht entsprechend nur dann mit positiven Gesundheitseffekten im Zusammenhang, wenn zugleich an Gottes Gnade geglaubt wird.

Auch religiöse Werte helfen, das Verhalten auf konstruktive Weise zu orientieren, insofern göttliches und menschliches Handeln recht unterschieden werden. Es kommt auf das differenzierte Miteinander komplexer Glaubensinhalte an, ob sich Glaube eher gesundheitsförderlich oder -hinderlich auswirkt.

Worin besteht die Praxisrelevanz Ihrer Arbeit?

Ullmann: In den Studien stellt die r/s Gemeinschaft immer wieder eine entscheidende Instanz dar, da sie Glaubensinhalte, Praktiken und Erfahrungen prägt. Meine Arbeit zielt daher auf eine verantwortete Gemeinde- und Seelsorgepraxis, die aufmerksam für die Gesundheitsrelevanz von R/S ist. Dies kommt dem Heilungsauftrag der Kirche nach: Kirche eröffnet Räume, an denen wohltuende Erfahrungen, soziale Ressourcen, Unterstützung in Krankheit und Krisen, Gesundheitsinformationen und Brücken ins Gesundheitswesen angeboten und hergestellt, aber auch präventiv gesundheitsförderliche Einstellungen und Verhaltensweisen vermittelt werden können. Wird darin ein komplexer Glaube ermöglicht, der zu mündigen Unterscheidungen befähigt?

„Je nach Situation fungiert Seelsorge eher als Begleitung, als Beziehungssorge, als Lebensdeutung und Sinnhilfe oder als Gesundheitsförderung.“

Norina Ullmann

Insbesondere in der Seelsorge kann die spirituelle Dimension von Gesundheit und Krankheit wahrgenommen und adressiert werden. Da es Seelsorge mit einer großen Situationsvielfalt zu tun hat, in welcher eine explizite Reflexion des Glaubens nicht immer möglich ist, steht am Ende meiner Arbeit der Vorschlag einer integrativen Seelsorge, die methodenplural agiert: Mal wird Seelsorge schweigend mit aushalten, mal konstruktiv-kritisch hinterfragen und mal freisetzende Glaubensperspektiven anbieten.

Je nach Situation fungiert Seelsorge eher als Begleitung, als Beziehungssorge, als Lebensdeutung und Sinnhilfe oder als Gesundheitsförderung. Damit lassen sich vier Handlungsorientierungen verbinden: Seelsorge begegnet dem Menschen annehmend, nüchtern, freisetzend und hoffnungsvoll zugleich. Eine solche Seelsorge kann einen potenziell gesundheitsförderlichen bzw. lebensdienlichen Glauben erfahrbar machen, der das Aushalten von Krankheit und Leiden nicht ausklammert.

Was würden Sie gerne als Nächstes erforschen?

Ullmann: Mich interessiert, wie all das weiter in der Praxis umgesetzt werden kann. Welche Präventivmaßnahmen können Gemeinden ergreifen, um destruktiven religiösen Einstellungen, Praktiken sowie verletzenden zwischenmenschlichen Erfahrungen vorzubeugen? Wie kann Seelsorge einen potenziell gesundheitsförderlichen Glauben anbieten, insbesondere an Orten, an denen Glaube keine oder nur eine geringe Relevanz besitzt? Und wie lassen sich die Befunde zu komplexen Unterscheidungen damit vereinbaren, dass komplexes Denken nicht immer möglich ist oder zusätzlich belasten kann, zum Beispiel bei Menschen mit Demenz oder mit psychischen Erkrankungen?

Angesichts der Vielfalt an individuell gelebten religiösen und spirituellen Vollzügen sowie der mehrheitlich säkularen oder indifferenten gesellschaftlichen Kultur im deutschsprachigen Raum träume ich von einer kirchlichen Praxis, die den Glauben als eine ganz spezifische Lebenshilfe erfahrbar macht, die das Leben mit allem Schwerem umfasst.

Vielen Dank für das Gespräch!

Die Fragen stellte Christof Klenk.

Norina Christa Ullmann, geboren 1993, hat Theologie an den Universitäten Heidelberg und Greifswald studiert und steuert auf den Pfarrberuf in der badischen Landeskirche zu. Schon seit ihrer Jugend ist sie an Seelsorge und Gemeindeentwicklung interessiert und baute dies während ihres Studiums durch psychologische Weiterbildungen aus. Ihre Promotion zu „Glaube und Gesundheit. Impulse der empirischen Religionspsychologie für eine integrative Seelsorge“, derzeit in der Begutachtung, wurde durch Prof. Dr. Annette Haußmann (Heidelberg) sowie Prof. Dr. Michael Herbst (Greifswald) begleitet.


Ausgabe 2/23

Dieses Interview ist in P&S, Magazin für Psychotherapie und Seelsorge, erschienen. P&S ist Teil des SCM Bundes-Verlags, zu dem auch Jesus.de gehört.

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